01. August 2010

“Die Einteilung in Klassen war in der hierarchisch gegliederten Gesellschaft des 19. Jahrhunderts selbstverständlich” sagt wikipedia über die Entwicklung des Klassensystems in der Eisenbahn. Hierarchisch gegliedert würden wir unser heutiges Gesellschaftssystem wohl kaum mehr nennen, aber 1. und 2. Klasse gibt es bei der Deutschen Bahn immer noch. Wer sich aus der 2. Klasse ohne passenden Fahrschein in den oftmals freien Sitzen der 1. Klasse lümmelt, muss mit Ärger rechnen. So durchlässig, daß man selbst bei Gedränge auf den billigen Plätzen der feinen Gesellschaft auf die Pelle rücken kann, ist unsere Gesellschaft eben doch noch nicht. Aber wer heute genau hinschaut sieht die Grenzen sich bewegen.

Die Idee zu diesem Artikel liefert Wikileaks. Wer nicht ganz vom medialen System abgeklemmt ist, ist dieser seltsamen Organisation in den letzten Wochen begegnet. Zur Erinnerung: Die Plattform bietet die Möglichkeit, interne Dokumente aus Behörden und Institutionen an die Öffentlichkeit zu bringen. Zuletzt gelang dem Nichtgeheimdienst aus Nirgendwo ein besonderer Coup, als nicht nur über 90.000 Dokumente über den Krieg in Afghanistan an die Öffentlichkeit kamen, sondern zugleich der deutsche SPIEGEL, die US-New York Times und der britische Guardian diese Papiere vorab analysierten und konzertiert Titelgeschichten darüber brachten. Sowas bringt die Politik auf Trab!

Aber muss man sich nicht wundern? Am 30. September 2001 setzte die US-Regierung unter George W. Bush Truppen und Raketen in Gang, um das Land umzukrempeln, in dem Osama bin Ladin, dessen angebliche Organisation Al Qaida und die Taliban zu finden sein sollten. Anlass war der Anschlag vom 11. September, weshalb die USA sich zunehmend in dieselbe Situation manövrieren, wie die Sowjetunion in den 1980ern. Fakt ist: Dieser Krieg läuft bald 10 Jahre, muss man nicht annehmen, daß alles über ihn bekannt ist? Was können 90.000 Dokumente von Wikileaks denn Neues erzählen, wo liegt die Brisanz, so daß die US-Behörden jetzt die Mitarbeiter von Wikileaks unter ganz besonderen Druck setzen?

Gut möglich, daß es gar nicht so sehr um die Afghanistan-Papiere geht. Vielleicht geht es mehr um die Vorbild-Wirkung, die solche Veröffentlichungen haben. Ich meine: Was würde aus der Welt werden, wenn ein Mitarbeiter der CIA mal eben die Dokumente zum 11. September in die Welt kippt, statt sie in den Archiven vermodern zu lassen? Es gibt in dieser Welt kleine und größere Geheimnisse, doch Wikileaks-Sprachrohr Julian Assange ruft genau dazu auf, sie in die Welt hinaus zu bringen.

Wikileaks und das Internet demonstrieren, daß wir an der Schwelle zu einer neuen Gesellschaftsform, zu einer neuen Weltordnung stehen. Auf der webinale2009 wurde mir nochmal deutlich, daß mittels Internet wirklich jeder zum Sender werden kann. Das Monopol, Informationen über mehr als den eigenen Freundes-, Familien- und Kollegenkreis hinaus verbreiten zu können, ist mit der Entwicklung des IP-Protokolls gestorben. Radio, Fernsehen und Zeitungen hatten bis dato das Privileg, von wenigen Menschen gefüllt und zugleich von vielen konsumiert zu werden. Internet fragmentiert dieses Monopol, Millionen von Sendern sind auf Sendung und sie erreichen unterschiedlich große Zielgruppen. So finden sich Menschen mit ähnlichen Weltbildern, aber die Fragmentierung der Sender fragmentiert auch die Weltsichten. So stark, daß selbst Angela Merkel merkt, daß sich hier etwas im Wandel befindet:

Heute wird es durch die Vielzahl der Informationskanäle, und besonders durch das Internet, immer schwieriger, ein Gesamtmeinungsbild zu erkennen. [..] Es gibt nicht mehr nur eine Öffentlichkeit, sondern viele Öffentlichkeiten, die ganz verschieden angesprochen werden müssen. [..] Mit dieser Veränderung muss die Demokratie in Deutschland und in den anderen westlichen Ländern umgehen lernen. Angela Merkel zitiert in der ZEIT.

Die Demokratie muss damit umgehen lernen. Und da sind wir bei der Heuchelei, die darin steckt, wenn jetzt die US-Behörden gegen Wikileaks-Mitstreiter vorgehen: Demokratie bedeutet, daß das Volk mitbestimmt. Werden dem Volk jedoch Informationen vorenthalten, die eine sinnvolle Entscheidung überhaupt möglich machen, so wird Demokratie wahrhaft schwierig. Man könnte in Wikileaks und der behördlichen Verfolgung das ewige Spiel zwischen Fortschritt und Reaktion sehen: In diesem Fall zwischen der aufkeimenden Offenen Gesellschaft, die staatliche Informationen als Eigentum seiner Bürger betrachtet, und den alten Strukturen der Geschlossenen Gesellschaft, die Informationen einer informierten Elite vorbehalten glaubt.

Im Fall des Afghanistan-Krieges findet die Diskussion über dessen Fortführung ja überwiegend in den politischen Gremien der Parteienlandschaft sowie in den Meinungsseiten der Printmedien statt. Otto Normalverbraucher muss, wenn ihn diese Frage nach 9 Jahren Dauerberieselung überhaupt interessiert, nach Gefühl entscheiden. Mehr Informationen, als über die Filter der Medien, kommen ja kaum zu ihm durch. Andererseits: Kaum eine Privatperson wird sich durch die 90.000 Dokumente bei Wikileaks wühlen, Vorfilter sind da herzlich willkommen. Aber selbst Vorfilter brauchen etwas, was sie filtern und aufbreiten können: Informationen!

Als die Bürger der DDR 1989 den Zug zum Rollen gebracht hatten, war eine der ersten Handlungen die Besetzung und Sicherung der Stasi-Gebäude. Man wollte wissen, was dort vor sich geht, wollte Dokumente sichern, um zu sehen, was gesammelt worden war. Archive wie die der Stasi gibt es heute immer noch rund um den Planeten. Geheimnisse, Geheimgehaltenes und Weggeschlossenes. Und mit dieser Heimlichtuerei entzweit sich die menschliche Gesellschaft in jene, die wissen dürfen und jene, die dies nicht tun. “Hierarchisch” würde man das vielleicht nicht nennen, aber Spuren eines Kastensystems bleiben. Wie würde eine andere, als die Geschlossene Gesellschaft damit umgehen?

Es gibt weitere Baustellen in dieser Gesellschaft, die sich an diesem Thema reiben. Urheberrechte treffen heute auf moderne Technik. Bits und Bytes, die sich in sekundenschnelle über den Globus verteilen lassen (dank IP-Prokoll), aber juristisch dies gar nicht dürften. Abmahnwellen durchlaufen die Industriegesellschaften, ein Kampf zwischen technischem Fortschritt und aktueller Rechtslage. Grundtenor: “Sperrt das Wissen wieder ein, es gehört uns, den Eigentümern”. Modelle wie OpenSource, Open Manufacturing, CC-Lizenzen oder die Idee der Gemeingüter versuchen, diese einschränkenden Modell aufzubrechen. Es ist unwahrscheinlich, daß der “Kampf” morgen schon entschieden wird, aber es ist absehbar, daß hier (mindestens) zwei Weltbilder bzw. Denksysteme miteinander fechten. Möge der bessere gewinnen.