1. Als der damalige Bundespräsident Richard v. Weizsäcker anläßlich des 40. Jahrestages der deutschen Kapitulation vom "Tag der Befreiung" sprach, ging ihm die CDU-interne Stahlhelm-Fraktion für diesen "Fauxpas" fast an die Gurgel. Die Deutschnationalen kochten vor Wut, weil sie das Potential seiner Argumentation für die Pflege der nationalen Identität einfach nicht verstanden. Befreit werden nämlich Opfer und keine Täter. Und im Handumdrehen waren die Deutschen" dann Opfer, zum einen natürlich der Nazis, zum anderen aber auch ihrer eigenen Fehler und Verbrechen, aus denen sie ab nun lernen konnten. Das Signal, welches an die Alliierten gesendet wurde (bzw. werden sollten), lautete: Wir sind nicht mehr die Deutschen von einst, wir haben aus Auschwitz die Konsequenzen gezogen und sind euch sogar dankbar dafür, daß ihr uns militärisch niedergerungen habt. Auschwitz wurde somit in die deutsche Identität einverleibt. Die Vorfahren begingen zwar ein singuläres Menschheitsverbrechen, anerkannten jedoch ihre Schuld und bieten sich der Welt als moralische Lehrmeister in Sachen Menschenrechte an. Das ist das Werte-Fundament auf dem Fischer seine Außenpolitik aufbauen konnte: mit dem Verweis auf die "Lehren aus der Vergangenheit", die seine Generation aus den berühmten "dunkelsten zwölf Jahren unserer Geschichte" gezogen hat, kann die Bundesregierung die völkische Trennung von Serben und Albanern mittels Krieg auf dem Amselfeld rechtfertigen, zum anderen aber das baathistische Antisemitenregime zu Bagdad friedenswillig und räsoniert gegen seine militärische Zerschlagung in Schutz nehmen. "Nie wieder Auschwitz!" oder "Nie wieder Krieg!" führten die hiesigen Politgranden in beiden Fällen als Begründung an.

2. Insofern ist ein Paradigmenwechsel zu verzeichnen: die alte deutsche Ideologie fand ihr Sinnbild in der pompösen Welthauptstadt Germania, sie war säbelrasselnd, haßerfüllt, aggressiv. Die neue deutsche Ideologie kommt nachdenklich, zurückhaltend, besorgt daher. Ihr entspringen keine Militärparaden durch das Brandenburger Tor mehr – sondern Friedensaufmärsche am Holocaustmahnmal direkt daneben, versinnbildlicht gesprochen. Diese Unterschiede in der Form sind so gut geeignet, Kontinuitäten im Inhalt zu verdecken, das sich die Deutschen dieser Kontinuitäten selbst wahrscheinlich nicht mehr bewusst sind. Dabei ist die Behauptung, Deutschland sei jetzt eine moderne bürgerliche Nation wie die USA oder Großbritannien nach wie vor falsch. Während bürgerliche Nationen im allgemeinen schlicht auf ihren Vorteil bedacht sind und versuchen, in der Konkurrenz mit anderen Nationalökonomien gut abzuschneiden, setzt Deutschland seine Interessen durch, indem es sie leugnet. Und im Zweifel steht man immer auf der Seite der "unterdrückten" "Völker" gegen die so genannte Globalisierung.

Das ist deutsche Ideologie vom allerfeinsten. Obwohl man selbst nichts anderes als eine kapitalistische Großmacht samt dazugehörigen Interessen darstellt, steht die BRD ideologisch immer auf der Seite der vermeintlichen Opfer des Kapitalismus. Dass ist ein Antikapitalismus, der seinen wütenden Kern darüber findet, unter den Nationen angeblich in die zwete Reihe verfrachtet worden zu sein, und der des moralischen Überschuss' wegen betrieben wird. Das Spielchen ist so alt, das schon Marx darüber Auskunft geben konnte:

"Dieses Luftreich des Traums, das Reich des 'Wesens des Menschen', halten die Deutschen den andern Völkern mit gewaltigem Selbstgefühl als die Vollendung und den Zweck der ganzen Weltgeschichte entgegen; auf jedem Felde betrachten sie ihre Träumereien als schließliches Endurteil über die Taten der andern Nationen, und weil sie überall nur das Zusehen und Nachsehen haben, glauben sie berufen zu sein, über alle Welt zu Gericht zu sitzen und die ganze Geschichte in Deutschland ihr letztes Absehen erreichen zu lassen. Daß dieser aufgeblasene und überschwengliche Nationalhochmut einer ganz kleinlichen, krämerhaften und handwerkermäßigen Praxis entspricht, haben wir bereits mehrere Male gesehen. Wenn die nationale Borniertheit überall widerlich ist, so wird sie namentlich in Deutschland ekelhaft, weil sie hier mit der Illusion, über die Nationalität und über alle wirklichen Interessen erhaben zu sein, denjenigen Nationalitäten entgegengehalten wird, die ihre nationale Borniertheit und ihr Beruhen auf wirklichen Interessen offen eingestehen. (Karl Marx/Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie, MEW Bd. 3, S. 457f.)

In diesem Abschnitt wendet sich Marx gegen die Philosophen des Deutschen Idealismus und selbstverständlich kann man deren Philosophie nicht eins zu eins auf das Denken in der jetzigen Zeit übertragen, was auch für die Rassenlehre und den Antisemitismus der Nazis gilt. Aber auch diesbezüglich gibt es ideologische Linien, die als alter Wein in neuen Schläuchen fließen: so wird zwar nicht mehr von "Rassen" gesprochen sondern von "Ethnien" und "Kulturen", doch es wird nach wie vor auf die Differenz verwiesen und diese verewigt – und somit die kosmopolitische Idee des freien Individuums in einer universalistischen Weltgesellschaft verraten – mit dem besten antirassistischen und völkerfreundschaftlichem Willen. Als Bedrohung der Ethnien und Kulturen, an denen man seine Authentizitätssucht, aus der sich der Hass auf die Künstlichkeit speist, auslebt, gilt nach wie vor die bürgerliche Moderne, welche früher in den Juden als entwurzelndem Übel personalisiert wurde und heute in den "kulturlosen" USA lokalisiert wird. Darüberhinaus ist die Feindschaft zu den US ohnehin das einigende ideologische Ressentiment in Old Europe.

3. Allein die Tatsache, das die deutsche Ideologie Auschwitz in veränderter Form überlebt hat und für Europa und weite Teile der so genannten Dritten Welt sogar zum Exportschlager wurde, ist eine Katastrophe. Das diese Ideologie ausgerechnet deshalb weiterexistieren konnte, weil sie sich in ihrer neuen Form auch noch auf die Lehren aus Auschwitz bezieht, ist ein riesengroßer Treppenwitz der Geschichte. Trost spendet jedenfalls, das sie trotz größter Bemühungen nicht reibungslos funktioniert, was zumindest in dem Land, dem sie ihren Namen verdankt, an Durchschlagskraft mindert. (Auch wenn der Name direkt auf Deutschland verweist ist die deutsche Ideologie keinem nationalen Einzugsgebiet allein zugehörig.) So ganz glauben die Krauts ihre Farce, nach der sie 1945 befreit wurden sind, selber nicht. Eigentlich wollen sie einmal so richtig Opfer sein bzw. sich richtig ungestört so fühlen dürfen, etwa als Opfer von Bombardierung und Vertreibung, aber völlig uneingeschränkt ist das eben nicht zu haben. Denn man kann den alliierten Befreiern schlecht einen Blumenstrauß an zeremoniell begangenen Jahrestagen zur Erinnerung des zweiten Weltkrieges überreichen und sich bei selbigen über die Toten beklagen, die dieses notwendige Unterfangen gekostet hat. Deshalb geraten auch die Strategen der deutschen Machtapparatur in helle Aufregung wenn etwa Bezirksparlamente den Opfern der Roten Armee gedenken, darum tritt zu jedem Bombenangriffsgedenktag ein Heer von Intelligenzlern und Politikern auf, um das eigentlich banale den Landsleuten in Erinnerung zu rufen – das man nämlich mit den Bombenschmeißen angefangen hat und weit darüber hinaus ging. Es könnte ja in Osteuropa oder im Westen jemand am Deutschlandbild zweifeln, das man sich selbst erst mühsam beibringen musste.