In diesem Fall speziell für W.


Die Nacht war klar und kühl; sie saßen in Decken gehüllt vor dem Feuer, das langsam kleiner wurde. Der Holzvorrat, den sie für diesen Abend zusammengesucht hatte, war nahezu erschöpft und auch die letzten paar Äste würden bald in Flammen aufgehen. Danach wäre es dunkel. Sie freute sich darauf, dass das Feuer verlosch, sie freute sich auf die Dunkelheit. Ebenso wie sie sich über das Feuer und dessen Flammen freute. Stundenlang hätte sie an diesem Feuer bleiben können, hier, mitten auf einer Wiese am Waldrand. Hier bei ihrem Lieblingswald, zwischen schroffen Felsen. Ganz in der Nähe lag ihre treue Hündin begraben, mit der sie hier die schönsten, stillsten Stunden verbracht hatte. Von hier aus sah es nicht so aus, als wären die Sterne weit weg. Es war einer der Momente, die sie als perfekten Zeitpunkt zum Sterben ansah. Und vielleicht würde sie auch ihre Hündin wiedersehen.
„Was denkst Du gerade?“, fragte er sie und lächelte dabei. Sie sah in die Flammen und überlegte, ob sie die Wahrheit sagen sollte. Die Frage an sich nervte sie, im Grunde genommen beantwortete sie sie nie. Außerdem würde er ihre morbiden Gedanken ohnehin mißverstehen. Am Rand des Feuers lag ein Ast, der zum Großteil abgebrannt war und dessen Feuchtigkeit am äußeren Ende zischend aus der Bruchstelle getreten war. Es hatte wie ein Schreien geklungen, ein langgezogenes, qualvolles Schreien und sie hatte sich vorgestellt, der Ast sei ein Mensch, dessen Beine im Feuer verbrannten. Jetzt war nur noch der Oberkörper, vielleicht auch nur noch der Kopf übrig. Und in dem Moment, in dem er seine Frage stellte, hatte sie gedacht, daß er dieser Ast wäre. Ohne irgendeinen konkreten Hintergedanken. So war es oft. So war es auch, wenn sie hinter der dicken Nachbarin die Treppe hinunter ging und sich vorstellte, sie zu schubsen. Sie mochte diese Frau, aber gegen diese Gedanken konnte sie nichts machen. Sie kamen immer einfach so. Aber tun würde sie es nie.
„Es gibt nichts, was den Kopf so sehr reinigt, wie der Blick ins Feuer oder auf das Meer. Vielleicht liegt es daran, dass es dabei keine Regelmäßigkeiten gibt, dass nichts zweimal passiert. Auf einer Autobahnbrücke zu stehen kann auch schön sein, aber es ist etwas anderes, Natur ist eben einzigartig“, sagte sie ganz ruhig, ohne den Blick von den Flammen abzuwenden.
„Ja, da hast Du recht“, murmelte er. Er stützte den Kopf auf die Knie und schaute zu ihr herüber: Sie lag auf dem Rücken, so wie man am Strand liegt, auf die Ellenbogen aufgestützt und sah über den Körper hinweg ins Feuer. Er hörte ihr gern zu, denn sie brachte mit ihren Sätzen Unruhe in seinen Kopf, brachte die Dinge in Bewegung, die festgefahren in ihm lagen, brachte ihn oft auf andere, fremde Gedanken, die ihm ebenso viel Spaß machten, wie sie ihn auch beunruhigten. Er bewunderte ihre freie Lebensart, aber gleichzeitig konnte er auch nicht verstehen, wie man so leben konnte. „Warum hast Du den Auftrag neulich abgelehnt?“, fragte er plötzlich, „Du hättest damit eine Menge Geld verdienen können.“
„Du weißt, daß mir Geld nicht wichtig ist.“
Er wiegte den Kopf: „Mag sein, aber Du brauchst es doch auch zum Leben. Du solltest einfach mehr tun.“
Sie legte den Kopf in den Nacken und verfolgte ein paar Funken auf dem Weg nach oben. Bei einem von ihnen sah es so aus, als flöge er geradewegs in den Sternenhimmel hinein und vermische sich mit den hellen Punkten dort oben. Wie schön, dachte sie. Schließlich schloß sie die Augen für ein paar Sekunden und lauschte dem Prasseln und Knistern des Feuers. Teilweise klang es wie Schüsse, teilweise wie das Zerplatzen von der Plastikverpackung, die mit Luftblasen gefüllt war. Sie wollte nicht mehr arbeiten. Nicht mehr als jetzt. Und wenn sie deswegen verhungerte, machte es auch keinen Sinn. Vermutlich würde er gleich wieder mit dem Satz kommen: „In Dir steckt so viel Potential, ich begreife einfach nicht, warum Du es nicht besser nutzt.“ Er würde es mit einem Lächeln sagen, weil er es ja auch nur gut mit ihr meinte. So, wie es alle mit ihr gut meinten. Sie alle wollten ihr nur helfen, ihr Leben besser in den Griff zu bekommen. Sie gähnte gelangweilt und fragte sich, warum sie heute abend mit diesem Mann am Lagerfeuer lag. Sie hatte diesen Vorschlag gemacht, weil sie geglaubt hatte, dass es ein entspannter, interessanter Abend werden würde. Einen, den man vergißt, aber in sich trägt. Am liebsten wäre sie jetzt aufgestanden und gegangen. In den Wald. Einfach nur den Geruch von Erde und Laub warnehmen. Den Wind schmecken. Die Stille hören. Einfach nur sein.
„Du denkst einfach zu viel“, sagte er, „und wenn Du mehr arbeiten würdest, dann hättest Du für diese irreführenden Gedanken keine Zeit mehr.“
„Wer sagt denn, daß sie irreführend sind?“, fragte sie ihn scharf.
Er zuckte nur mit den Schultern: „Ich denke einfach, sie führen zu nichts, sie lenken Dich von dem Wesentlichen ab.“
Sie holte tief Luft, atmete zweimal tief ein und wieder aus. Langsam. „Was ist denn Deiner Meinung nach das Wesentliche? Geld? Arbeit?“
„Ich kann nur für mich sprechen und weiß nicht, was für Dich wichtig ist“, antwortete er mit seinem Lächeln. Diesem bestimmten Lächeln, bei dem sie sicher war, dass er es nicht ernst meinte.
„Natürlich kannst Du nur für Dich sprechen: Was ist für Dich das Wesentliche?“
er dachte nicht lange nach: „Für mich? Meine Familie. Wenn ich mal eine habe. Und natürlich meine Arbeit, ich brauch ja Geld zum Existieren.“ Sie schüttelte den Kopf. „Wenn Du mal eine Familie hast, schön. Aber bis dahin ist Dir das andere wichtig. Ich weiß nicht, was Du hier mit mir vorhast, wovon Du mich überzeugen willst, aber ich weiß recht gut, was ich für wichtig empfinde. Deine Sichtweise ist mir fremd, sie wird es mir immer bleiben.“
„Ja, klar. Das liegt auch daran, wie Du aufgewachsen bist.“ Wenn sie sich auf Kommando hätte übergeben können, dann hätte sie es jetzt getan. Statt dessen schob sie den Ast, der vor ihr lag, ganz in die Flammen und freute sich daran, wie er langsam Feuer fing. „Ich fand es immer spannend, Robinson Crusoe zu lesen, ich habe mich immer auf die Stelle mit den Kannibalen gefreut. Und ich habe versucht, mir vorzustellen, wie Menschenfleisch wohl schmeckt", sagte sie.
„Du bist eklig“, meinte er und schüttelte sich. Sie grinste: „Ja, vielleicht. Aber der Gedanke ist nicht verboten. Genauso wie ich auch gerne mal in einem Sarg liegen würde. Oder eine Nacht in einem Gefängnis schlafen. Oder ein ganzes Leben.“
„Da hättest Du auch keine Ruhe.“
„Warum nicht? Ich müßte nichts weiter tun, als dort sitzen, ein wenig Gitarre spielen und in der Gegend herum starren. Ich kann mir ein Leben erfinden und schreibe es auf."
„Unsinn, das hältst Du nicht lange aus.“ Sie rieb mit dem Zeigefinger den Nasenrücken auf und ab, starrte in das Feuer und sah zu, wie der Ast, den er eben hineingeschoben hatte, langsam ausbrannte und mehr und mehr zu Asche wurde. Stundenlang, tagelang könnte sie so sitzenbleiben.
„Ich glaube, ich mache jetzt mal die Augen zu“, murmelte er schläfrig, „wir können ja morgen weiter diskutieren.“
„Ja“, flüsterte sie, „schlaf ruhig. Ich sehe noch ein wenig ins Feuer.“
„Aber denk nicht so viel nach“, sagte er in einem Ton der spaßig-streng klingen sollte.
„Du wirst schlafen, ich werde denken - jeder tut das, was er will.“ Sie setzte sich aufrecht in den Schneidersitz und sah über das Feuer hinweg in den Wald hinein. Wirklich spannend wäre es, jetzt in den Wald zu gehen. Jetzt, wo man das Licht der Sterne hatte und nur Schatten zu sehen waren. Es mußte wunderbar sein. Wenn jetzt Winter wäre, dann wäre es so kalt, daß man erfrieren könnte. Am offenen Feuer erfrieren. Was für ein wunderbarer Tod. Er würde diese Gedanken nicht verstehen, er war - auch wenn er es nicht wahrhaben wollte - genau wie all die anderen Menschen. Seine Gedanken liefen nur in den vorgefertigten Bahnen und konnten nicht ausbrechen. Und wie all die anderen Menschen, die ab und an in ihr Leben traten, disqualifizierte er sich selbst. Durch Fragen und Forderungen. Durch Unverständniss. Disqualifiziert.
„Hey“, rief er plötzlich, „Du sollst doch nicht dauernd so viel nachdenken.“
„Nein“, sagte sie leise und lächelte ins Feuer, ein Lächeln das ein wenig belustigt und gleichzeitig voller Bedauern war.

„nein, ich denke auch gar nicht, ich plane.“