Es war einmal…

Wir haben es Februar, es ist wie gewohnt kalt und die Zeit ist alles andere als aufstehenswürdig. Zu allem Überfluss ist auch noch Samstag. Allerdings muss ich heute mal die Zähne zusammenbeißen, aus ganz Thüringen werden Feuerwehren für ein Ereignis erwartet, welches jedes Jahr Spaß, Sport und Müdigkeit für hunderte Kinder bietet. Ein Geländespiel, Jugendfeuerwehren aus dem ganzen Land treffen zusammen und messen sich auf einer ca. 10km langen Strecke in Geschicklichkeit, Fachwissen und Sportlichkeit. Veranstalter in diesem Jahr war unsere Feuerwehr, der Treffpunkt war der Speisesaal der Grundschule.

Der Speisesaal der Grundschule…seit sage und schreibe dreizehn Jahren hab ich ihn nicht mehr gesehen. Ebenso wenig die Grundschule, in der ich erst wieder zu Gast war, als ich ein paar meiner alten Kinderbücher der Bibliothek zur Verfügung stellte. Ich war natürlich neugierig, welche Erinnerungen dieser Speisesaal in mir wecken würde. Immerhin war das der Ort, in dem ich 4 Jahre lang jeden Tag das Mittagessen aus der Massenküche aß. Ich stand also auf und machte mich fertig, alles war am Vortag schon weitgehend hergerichtet worden. Ich ging ins Gerätehaus, zog mich um und begab mich zur Grundschule, es fing wieder an, zu flöckeln und zum Arbeiten war diese Temperatur definitiv zu niedrig. Aber was muss, das muss.

Den schönen Gedanken, endlich ins Warme zu kommen, betrat ich den Speisesaal. Ich traute meinen Augen kaum. Es sah alles noch so aus wie zu meinen Grundschulzeiten. Die gusseisernen Massenkleiderhaken, das äußerst finstre Ambiente, welches durch die Fenster nicht merklich aufgehellt wurde, dieser Charme des Ostens. Von der Garderobe in den Saal rein fühlte ich mich zurückversetzt in eine Zeit irgendwo zwischen 1992 und 1996. Ich nahm mir einen Kaffee und begab mich an einen Tisch, an dem sich unser Wehrführer schon mit dem Stadtbrandinspektor unterhielt, ich grüßte und setzte mich dazu. Dann kamen schon die ersten Erinnerungen hoch. Das war auch nicht schwierig, alles war wie damals, die Stühle die selben, die Tische wurden wahrscheinlich mal erneuert, die Lampen immer noch die selben schummrigen Funzeln wie 1992. Die Boxen an der Decke, ich hatte mir als kleines Kind nur das Wort „Sound“ gemerkt, sie waren auch noch die Gleichen. Ich schaute nach vorn…die hüfthohe Bühne und der lindgrüne Vorhang, scheinbar sogar die Basteleien der Kinder. Alles genauso wie vor 13 Jahren. Überwältigt von der Kraft dieser Erinnerungen konzentrierte ich mich wieder auf meinen Kaffee…und auf den Tisch an dem ich saß, exakt an diesem Platz haben wir, es dürfte 1993 gewesen sein, eine herrliche Sauerei veranstaltet.

In meinem Kopf kann ich es rekonstruieren, irgendjemand am Tisch bekam eine Erbse ab. Oder so was Ähnliches, nicht lange hat es gedauert, da flog ein Gemüsestück in die Gegenrichtung. Schließlich funktionierten wir unsere Gabeln zu Katapulten um, Erbsen, Möhrchen, Kartoffeln, alles flog in hohem Bogen quer über den Tisch, getränkt in allgemeinem Tumult und dem Kinderlachen an diesem Tisch.

Oh verdammt, wie gern würde ich jetzt wieder in dieser Zeit sein und mit vorhandenem Wissen über physikalische Zusammenhänge meine Esswerkzeuge zu hocheffektiven Nahrungsmittelkatapulten umbauen um eine Gemüseschlacht epischen Ausmaßes zu schlagen. Da schweift mein Kopf zur Essensausgabe. Links kam das Essen raus und rechts das dreckige Geschirr wieder rein…oder so ähnlich. Mir schießen verbogene Aluminiumlöffel in die Gedanken, die sahen regelmäßig aus wie Korkenzieher. Mein Kaffee ist mittlerweile leer, ich hole mir einen Tee. Und schon steh ich vor der Pinwand an der Essenspläne usw. ausgehängt sind wie auch schon zu meinen Schulzeiten und vorm geistigen Auge taucht Herr Beyer neben mir auf, wie er an den Essensplan schaut. Herr Bayer war ein respektierter, wenn nicht gefürchteter Regelschullehrer. Berüchtigt war er in Grundschulkreisen, man hörte nichts Gutes von ihm, im Hintergrund tuscheln Kinder von ihm als wäre es der Leibhaftige, ich schau ihn an und male mir aus, wie er wohl sein wird.

Wie sich später herausstellte, war Herr Bayer alles andere als ein Tyrann. Seine Lehrmethoden waren teils streng, teils auch auf die Schüler zugeschnitten, er machte – manchmal erkennbar nach Lachern gierende – Scherze, bemühte sich auch darum, sympathisch zu wirken. Nunja, der Tee war nun auch getrunken und langsam ging es dran, die Gäste zu erwarten, ich schnappte meinen Funkscanner in der Hoffnung, damit einen einigermaßenen Radioempfang zu haben, was sich dann als nicht zu schaffen herausstellte und begab mich gemäß des Befehls vom Wehrführer an die Hauptstraße um die eintreffenden Gäste einzuweisen. Gleich der Erste begann, Probleme zu machen. Es war ein Reisebus von irgendwo aus dem Thüringer Wald, die hatten schon ne weite Reise hinter sich und wo stellt man nun einen Reisebus hin? Ich hab sie einfach frei Schnauze Richtung Schule geschickt, sollen sich die Kameraden damit herumärgern.

So ging das nun gefühlte drei Stunden, ich trat von einem Fuß auf den Nächsten und wartete, gegen zehn Uhr war dann niemand mehr zu erwarten, ich ging wieder zum Speisesaal und besorgte mir einen schönen warmen Tee. Alle anderen Posten waren verteilt und ich konnte mich erstmal „ausruhen“. Also ging ich wieder raus und schlenderte über den Schulhof, der Schnee hatte wieder eine dünne Decke drübergelegt und ich ging völlig in Gedanken versunken die Ecken des Schulhofs ab. Da war das seltsame Karussell, was nicht mehr existiert…man ist mir darauf mal schlecht geworden. Weiter ging es an den Büschen entlang, schräg ging der Boden recht steil nach oben…ich wusste in etwa noch, wo ich mir damals so höllisch das Knie angeschlagen hatte beim Spielen. Es war irgendein kleiner Baumstumpf. Diese Schmerzen vergess ich nie. Weiter ging es bis dahin, wo frühe eine massive Stahlbetonplatte lag. Warum die da lag, das weiß ich bis heute nicht aber sie diente vielen Zwecken in der Kinderfantasie. Beliebt war sie, darauf zu hocken und Blödsinn auszuhecken und nicht selten stand der Lehrer unten und befahl allen, da runter zu kommen.
An der Stirnseite des Schulhofs, ebenso stark steigendes Gelände noch ein besonders dichter Busch, von dem man sich unter Grundschulkindern erzählte, dass man da rein geht und nicht mehr raus kommt, weil sich hinter einem dann Falltore schließen. Noch weiter oben, an diesen geheimnisvollen Busch angrenzend dann das Heizhaus. Es hatte seinen eigenen Charme. Irgendwas zwischen Krematorium und Fabrikhalle und Kriegsgefangenenlager.

Meine Runde beendete ich dann dort, wo ich sie angefangen hab. Am Schulhofeingang des Grundschulgebäudes. Alles wie vor so vielen Jahren, dieselbe graue Tür, dieselben bröckelnden Treppen, mein Wehrführer war grad auch oben, ich klemmte mich an das kleine Runde Fenster und zog mich hoch um noch mal einen Blick in die Schule zu erhaschen. Auch drin schien sich nichts getan zu haben. Es war finster, viel war nicht zu sehen aber eins weiß ich: Ich will da wieder rein und mir noch einmal die Schule anschauen, in der ich meine Kindheit verbrachte.

© GilbMLRS