Ich weiß, wie es enden wird. Ich bin ja kein Idiot. Im Grunde halte ich mich sogar für ziemlich intelligent – global betrachtet. Die Masse ist dumm; ich bin es nicht. Tatsächlich bedeutet das Ding durch zuziehen für mich ja keine Verschlechterung der Lebensumstände; vielmehr ergibt sich dadurch eine völlig neue Perspektive. Ich habe die Vorteile und Nachteile tausendmal gegeneinander abgewogen: tu' ich es nicht, versinke ich irgendwann in meiner eigenen Unzulänglichkeit. Vergessen wie die großen Helden, die schon so lange unter der Erde liegen, dass die Geschichten schon gar nicht mehr wahr sind. Tue ich es, kommen eine Reihe von Unannehmlichkeiten auf mich zu. Dennoch: man wird sich an mich erinnern – und darum geht es doch. Schließlich habe ich einen Punkt in meinem Leben erreicht, an dem dies meine einzige große Leistung darstellen würde: ein Vermächtnis. Oder vielmehr: wenigstens ein Vermächtnis, wenn sonst schon nichts bleibt. Eine sinnlose Existenz mehr, aber zumindest eine, an die man sich erinnern kann. Ein Vorteil im Meer der Vergessenen.

Ich beobachte die Menschen, die an mir vorbei hasten. Ausdruckslose Gesichter. Genervt von der Anwesenheit menschlichen Lebens. Auf dem Weg irgendwohin und wieder zurück. Nach Hause - sofern man eines hat. Wenn nicht, bleibt man Schattengestalt. Zwischen Tag und Nacht; zwischen U-Bahn-Station und „oben“. Zwielichtige Gestalten in den Nischen und Ecken der Stadt; unbemerkt von wenigen; ignoriert von den meisten. So jemand möchte ich nicht sein. So jemand bin ich nicht.

Jemand schnarcht. Ein ungepflegter Typ ist auf der Bank vorne über gekippt. Er ist Mitte 20, unrasiert, unfrisiert, dunkle Ringe unter den Augen. Und es ist gerade mal elf! Ich schüttle den Kopf – armseliges, unwürdiges Menschlein, du bist ekelhaft. Ich sehe weg, als mir bewusst wird, dass auch ich einmal dieser Typ war. Erst jetzt merke ich, wie erbärmlich ich an manchen Sonntagen gewirkt haben muss: seit Tagen nur flüssige Nahrung, wenig bis kein Schlaf und randvoll mit legalen, halblegalen, illegalen Drogen; manchmal gröhlend, lachend; manchmal schlafend, schreiend, zitternd zwischen den braven Arbeitern, Schülern, Studenten, Müttern, Vätern, Kindern.
Ein neuer Schwung Menschen gleitet die Rolltreppe herunter. Sie sind alle in Eile - hat es zumindest den Anschein wie sie hektisch einer nach dem anderen die auf die Transporthilfe steigen, sich anrempeln und böse Blicke zuwerfen. Vielleicht wollen sie auch nur so wenig Zeit wie möglich in der tristen Umgebung einer innerstädtischen U-Bahn-Station verbringen. Manche warten gelangweilt bis sie von der Treppe unsanft unten abgesetzt werden; andere laufen links an den Wartenden vorbei. Ein Typ im Anzug hastet die Stufen hinunter, immer zwei auf einmal nehmend. Von hier unten aus gesehen ziemlich lächerlich, da auf den Anzeigen der U-Bahnen in beide Richtungen jeweils 3 Minuten stehen. Das kann er natürlich nicht wissen; er rennt.


Ein Mädchen mit schwarzen Haaren blickt zu Boden, als ob es dort etwas Interessantes zu sehen gäbe. In Wirklichkeit weicht sie den Blicken der Männer aus, die auf der gegenüberliegenden Rolltreppe nach oben fahren. Unwillkürlich hebt sie den Kopf und starrt mich an. Hat sie bemerkt, dass ich sie beobachte? Ich drehe mich ein wenig zur Seite und schiele weiter aus den Augenwinkeln nach ihr.

Sie ist hübsch. Nicht auf die Art und Weise, wie die Frauen in der L'Oreal-Werbung, aber sie gehört zu den attraktiveren Geschöpfen auf diesem Planeten. Ihre abgetragene, durchlöcherte, enge Jeans und das schwarze T-Shirt mit dem quietsch-rosa Emblem irgendeiner Punk-Band verleihen ihrer ganzen Person diesen speziellen Used-Look, der sie irgendwie sexy macht. Zumindest für jemanden wie mich. Die dunkle Schminke betont ihre strahlenden, smaragdgrünen Augen und bilden einen Kontrast zu ihrem hellen Lip-Gloss. Sie hat schöne Lippen, zusätzlich betont durch einen schlichten Ring in der Mitte. Ich bin kein besonderer Freund von Piercings, was bedeutet, dass ich kein Geld dafür ausgeben würde, mir von einem dieser arbeitslosen Knastbrüder Löcher in den Körper stechen zu lassen, aber ich komme nicht umhin zu bemerken, dass ihr der Ring steht.

Plötzlich lächelt sie unmerklich. Sie ist mit den Gedanken völlig woanders – bei etwas oder jemandem, der sie glücklich macht. Ihre Augen leuchten bei dem Gedanken an irgendetwas, das derjenige gesagt oder getan hat, das sehe ich bis hier hin. Ich könnte sie auch glücklich machen. Ich würde sie verstehen; das entnehme ich zumindest dem „Legalize it!“-Button auf ihrer Jacke.
Plötzlich sieht sie verwirrt zur Seite. Offensichtlich hat einer der ambitionierten, mehr oder weniger jungen, paarungsbereiten Städter, die die Rolltreppe in die andere Richtung benutzen, ihr Lächeln als Interessensbezeugung missgedeutet und überschwänglich geantwortet. Das passiert ihr wahrscheinlich öfter. Es muss anstrengend sein, ständig angemacht zu werden. Vor allem, wenn man wie sie - bestimmt - zu nett ist, um die sabbernden Kerle zurecht zu weisen. Mit mir wäre das anders. Ich würde sie mit Respekt behandeln, sie nicht anmachen, als wäre sie billiges Freiwild auf irgendeiner Single-Party.

Sie ist stolz; das sieht man daran, wie sie sich bewegt, an ihrer Haltung. Ich würde mir genau überlegen, was ich zu ihr sage. Ich würde sie merken lassen, dass es mir um mehr ginge, als um Sex, auch wenn das bestimmt jeder von sich behauptet. Bei mir ist das anders. Ich hatte zu viele zwanglose Begegnungen, um mich an ihre Namen erinnern zu können; zu viele, um nicht zu wissen, dass ich den meisten genauso wenig bedeutet habe, wie sie mir; zu viele, um dem Gefühl der Leere noch irgendeine Bedeutung beizumessen; genug, um sich etwas von Wert und Dauer zu wünschen.

Irgendwie wirkt sie verletzlich. Sie hat bestimmt auch schon einige Versager ertragen müssen. Intensive Beziehungen ohne Zukunft. Sie hat alles hineingelegt und nichts zurückbekommen - außer einer leeren Wohnung und die zerrütteten Krater ihrer geschundenen Seele. Die haben sie nicht zu schätzen gewusst; die, die ihr das angetan haben. Aber sie hat gelernt: sie wirkt so erfahren, so abgeklärt; so, als hätte sie alles schon gesehen. Misstrauisch, wie jemand, der es besser weiß. Aber mir könnte sie vertrauen. Ich würde sie nicht enttäuschen, sondern zum ersten Mal in ihrem Leben jemand sein, auf den sie sich verlassen könnte. Sie und ich – gegen die Welt.
Ich glaube, dass man sich mit ihr gut unterhalten könnte. Sie wirkt trotz ihres coolen Auftretens irgendwie sensibel. Das sind ihre Augen. Wie in diesem blödsinnigen Kinderreimen, assoziiere ich grün mit Hoffnung. In ihr liegt sie vielleicht: die Hoffnung; in ihren Augen. Sie könnte meinem Leben einen Sinn geben. Mit ihr hätte ich vielleicht eine Zukunft – und müsste nicht tun, wozu ich gekommen bin.

Sie kommt auf mich zu, den Blick geradeaus gerichtet. Aus der Nähe wirkt sie etwas größer – und ihre Augen noch grüner. In freudiger Erwartung richte ich mich auf. Ich überlege, was ich zu ihr sagen könnte. Sie ist meine letzte Hoffnung! Doch das ist nicht unbedingt der erste Satz, den ein völlig Fremder von einem hören möchte. Wahrscheinlich würde sie mir nicht glauben. Es liegt außerhalb ihrer Vorstellungskraft, dass sie für jemanden das einzige sein könnte, das ihn noch rettet. Dazu ist sie zu bescheiden.

Für einen kurzen Moment treffen sich unsere Blicke. Ich atme tief ein und setze an, den bedeutendsten Satz meines Lebens zu sagen. Ich weiß selbst nicht genau, wie dieser lauten soll, aber ich werde etwas sagen. Irgendetwas, um sie nicht einfach vorbeigehen zu lassen. Irgendetwas, um sie zu halten - hier, jetzt! Während sich meine Gedanken überschlagen, ist sie auch schon vorbei. In einem Sekundenbruchteil wird mir kotzübel und meine Beine geben nach. Nicht...

Ich erwische sie gerade noch am Arm und reiße sie rückwärts, bis sie vor mir auf dem Boden kniet, den Blick ungläubig zu mir hoch gerichtet. Sie zuckt nicht einmal, als ich ihr die Waffe an die Stirn halte und abdrücke. Sie ist überrascht. Nicht erschrocken: verwundert. Ihre Hirnmasse hat sich über den Boden der Station verteilt; ihre letzten Gedanken in Bröckchen. Passanten gehen noch in Deckung, als es schon längst wieder vorbei ist.

4 endlose, stille Sekunden lang passiert gar nichts. Diese Sekunden gehören uns. Uns beiden. Wir hätten mehr davon haben können, aber sie wollte nicht. In der 5. Sekunde ertönt der gellende Schrei einer Frau, dann der eines Kindes – und dann, wie zufällig, dreht sich die Welt weiter.