Leseprobe - Arm und Reich. Die Schicksale menschlicher Gesellschaften - Jared Diamond Vorwort Was die Weltgeschichte mit einer Zwiebel gemein hat Dieses Buch unternimmt den Versuch, die Geschichte aller Völker in den letzten 13 000 Jahren zu skizzieren. Die Frage, die es zu beantworten sucht, lautet: Warum nahm die Geschichte auf den verschiedenen Kontinenten einen so unterschiedlichen Verlauf? Wer nun zusammenzuckt, weil er meint, eine rassistische Abhandlung vor sich zu haben, sei gleich beruhigt: Wie Sie sehen werden, spielen Unterschiede zwischen menschlichen Rassen bei der Beantwortung der Frage nicht die geringste Rolle. Statt dessen geht es in diesem Buch darum, nach tieferen Ursachen für Geschichtsverläufe zu forschen und historische Kausalketten in möglichst ferne Vergangenheit zurückzuverfolgen. Die meisten Werke, die »Weltgeschichte« oder »Universalgeschichte « im Titel führen, beschäft igen sich vornehmlich mit der Geschichte von Schriftkulturen in Eurasien und Nordafrika. Gesellschaften in anderen Teilen der Welt – Afrika südlich der Sahara, Nord- und Südamerika, südostasiatische Inselwelt, Australien, Neuguinea, Pazifikinseln – erhalten wenig Aufmerksamkeit, und in der Regel ist nur die Zeit nach ihrer Entdeckung .. und Unterwerfung durch Westeuropäer Gegenstand der Darstellung. Innerhalb Eurasiens erhält wiederum die Geschichte des westlichen Teils viel mehr Raum als die Geschichte Chinas, Indiens, Japans, Südostasiens und anderer östlicher Kulturen. Nur knapp wird auch das Geschehen vor dem Auftauchen der Schrift um 3000 v. Chr. abgehandelt, obwohl dieser Zeitraum 99,9 Prozent der fünf Millionen Jahre alten Geschichte unserer Spezies ausmacht. Eine derart verengte Betrachtung der Weltgeschichte hat drei Nachteile. Der erste besteht darin, daß sich heute immer mehr Menschen auch für andere Gesellschaften als die des westlichen Eurasien interessieren. Einleuchtenderweise, muß man hinzufügen, denn immerhin repräsentieren jene »anderen« Gesellschaft en das Gros der Weltbevölkerung und die überwältigende Mehrzahl der ethnischen, kulturellen und sprachlichen Gruppierungen der Menschheit. Einige von ihnen gehören schon heute zu den bedeutendsten wirtschaft lichen und politischen Mächten der Welt, andere sind auf dem Weg dorthin. Zweitens vermag eine Geschichtsschreibung, die sich auf das Geschehen seit dem Aufkommen der Schrift beschränkt, selbst demjenigen keine tieferen Einsichten zu vermitteln, der sich vor allem dafür interessiert, wie die moderne Welt geformt wurde. Schließlich war es nicht so, daß die Gesellschaften auf den verschiedenen Kontinenten bis 3000 v. Chr. auf gleichem Stand waren und westeurasische Gesellschaften dann aus heiterem Himmel die Schrift erfanden und auch in anderen Be reichen plötzlich davonpreschten. Vielmehr existierten in Eurasien und Nordafrika schon um 3000 v. Chr. Gesellschaft en, die neben den Anfängen der Schrift auch zentralistische Staatswesen, Städte, Metallwerkzeuge und -waffen kannten, Haustiere als Transportmittel, Zugtiere und Lieferanten mechanischer Energie nutzten und sich von Erzeugnissen der Landwirtschaft ernährten. In den meisten oder sogar allen Regionen der übrigen Kontinente waren diese Errungenschaften zu jenem Zeitpunkt noch unbekannt; einige, aber nicht alle, kamen später in verschiedenen Teilen Nord- und Südamerikas und Afrikas südlich der Sahara auf, wenn auch erst im Laufe der nächsten 5000 Jahre; Australien blieb dagegen ein weißer Fleck. Dies allein weist schon deutlich darauf hin, daß die Wurzeln der eurasischen Vorherrschaft in der heutigen Welt in der schriftlosen Zeit vor 3000 v. Chr. zu suchen sind. (Mit eurasischer Vorherrschaft meine ich die dominierende Rolle der Gesellschaften des westlichen Eurasien sowie ihrer Ableger auf anderen Kontinenten.) Drittens übergeht eine Geschichtsschreibung, die ihr Augenmerk nur auf das westliche Eurasien richtet, völlig die entscheidende Frage, warum ausgerechnet jene Gesellschaften so ungleich mächtiger und innovativer wurden. Für gewöhnlich werden in diesem Zusammenhang diverse unmittelbare Faktoren angeführt, etwa das Aufkommen von Merkantilismus, Kapitalismus, Wissenschaftsgeist, Technik und bösartigen Krankheitserregern, denen die Bewohner anderer Kontinente bei der Begegnung mit Westeurasiern erlagen. Doch warum bildeten sich all diese Ingredienzen der Eroberung im westlichen Eurasien heraus, in anderen Teilen der Welt aber gar nicht oder nur in geringerem Ausmaß? Es handelt sich bei alldem um unmittelbare Faktoren, nicht um eigentliche Ursachen. Warum blühte nicht der Kapitalismus im Mexiko der Azteken, der Merkantilismus in Afrika südlich der Sahara, der Wissenschaft sgeist in China, die Technik im indianischen Nordamerika und bösartige Krankheitserreger im Australien der Aborigines? Wer zur Erwiderung auf spezifi sche kulturelle Verhältnisse verweist – etwa darauf, daß der Geist der Wissenschaft in China durch den Konfuzianismus erstickt wurde, im westlichen Eurasien dagegen in griechischen beziehungsweise jüdisch-christlichen Traditionen einen fruchtbaren Nährboden fand –, ignoriert nur einmal mehr die Notwendigkeit echter, tiefergehender Erklärungen: Warum entwickelte sich der Konfuzianismus nicht im westlichen Eurasien und die jüdischchristliche Ethik in China? Er übersieht außerdem, daß das konfuzianistische China bis etwa 1400 n. Chr. in der technischen Entwicklung weiter war als die Gesellschaften des westlichen Eurasien. Selbst wenn man sich damit begnügen will, die westeurasischen Ge sellschaften zu verstehen, reicht es nicht aus, den Blick nur auf sie zu richten. Die interessanten Fragen sind nämlich die nach den Unter schieden zwischen ihnen und anderen Kulturen. Zu ihrer Beantwortung müssen wir auch alle anderen Gesellschaft en verstehen, um die des westlichen Eurasien in einem weiteren Kontext sehen zu können. .. Vielleicht haben einige Leser nun den Eindruck, ich würde, verglichen mit der herkömmlichen Geschichtsschreibung, ins entgegengesetzte Extrem verfallen, indem ich dem westlichen Eurasien zugunsten anderer Teile der Welt zuwenig Platz einräume. Darauf möchte ich entgegnen, daß einige dieser Regionen sehr aufschlußreich sind, weil sie auf kleinem Raum eine Vielzahl höchst unterschiedlicher Kulturen beherbergen. Andere Leser werden vielleicht die Ansicht teilen, die ein Rezensent der amerikanischen Ausgabe dieses Buches äußerte. Mit leicht kritischem Unterton bemerkte er, für mich sei die Weltgeschichte offenbar wie eine Zwiebel, deren äußerste Schale die moderne Welt verkörpere und deren innere Schichten es auf der Suche nach Antworten eine nach der anderen abzutragen gelte. Wie recht er hat! Die Weltgeschichte gleicht in der Tat einer Zwiebel. Sie Schicht um Schicht zu schälen ist nicht nur ungemein spannend, sondern obendrein von ungeheurer Bedeutung, wenn wir unsere Vergangenheit verstehen und daraus Lehren für die Zukunft ziehen wollen. Prolog Yalis Frage Der unterschiedliche Lauf der Geschichte in den verschiedenen Teilen der Welt Jeder weiß, daß die Geschichte für verschiedene Völker in verschiedenen Teilen der Erde einen höchst unterschiedlichen Lauf nahm. In den 13 000 Jahren, die seit dem Ende der letzten Eiszeit vergangen sind, entstanden in einigen Teilen der Welt Industriegesellschaft en mit Metallwerkzeugen und Schrift, in anderen dagegen nur schrift lose bäuerliche Gesellschaft en, während die Bewohner wie der anderer Regionen Jäger und Sammler blieben und mit Steinwerkzeugen vorliebnahmen. Diese historischen Ungleichheiten warfen lange Schatten auf die moderne Welt, da diejenigen Gesellschaft en, die in den Besitz von Schrift und Metallwerkzeugen gelangt waren, jene anderen Gesellschaft en unterwarfen oder gar auslöschten. Obwohl man diese Unterschiede als grundlegendste Tatsache der Weltgeschichte bezeichnen könnte, sind die Gründe, die für sie genannt werden, nach wie vor vage und umstritten. Vor 25 Jahren wurde ich in sehr persönlicher Form mit diesem Th ema konfrontiert. Im Juli 1972 unternahm ich eine Strandwanderung auf der Tropeninsel Neuguinea, wo ich als Biologe Untersuchungen zur Evolution der Vögel anstellte. Mir war bereits von einem charismatischen örtlichen Politiker namens Yali berichtet worden, der sich zur gleichen Zeit auf einer Rundreise durch das Gebiet befand. Zufällig hatte Yali an jenem Tag dasselbe Ziel wie ich und holte mich beim Wandern ein. Wir gingen eine Stunde nebeneinander am Strand entlang und unterhielten uns die ganze Zeit. Yali war ein Mann mit Ausstrahlung, dessen Augen vor Energie blitzten. Er erzählte sehr selbstbewußt von sich, stellte aber auch viele bohrende Fragen und lauschte gespannt meinen Antworten. Unsere Unterhaltung begann mit einem Thema, das damals alle Bewohner Neuguineas beschäftigte, nämlich dem raschen Tempo des politischen Wandels. Papua-Neuguinea, wie Yalis Heimatland inzwischen heißt, befand sich zu jener Zeit noch als UNO-Mandatsgebiet unter australischer Verwaltung, aber die Unabhängigkeit lag schon in der Luft. Yali erläuterte mir, welche Rolle er persönlich bei der Vorbereitung seines Volkes auf die Selbstverwaltung spielte. Nach einiger Zeit drehte er den Spieß um und fi ng an, nun mich auszufragen. Er hatte Neuguinea noch nie verlassen und besaß keine höhere Bildung, doch seine Neugier war unersättlich. Zuerst mußte ich ihm über meine ornithologische Arbeit in Neuguinea berichten (und auch darüber, wieviel ich dafür bezahlt bekam). Ich erklärte ihm, wie verschiedene Vogelgattungen Neuguinea im Laufe der Jahrmillionen besiedelt hatten. Als nächstes wollte Yali wissen, wie die Ahnen seines eigenen Volkes innerhalb der letzten Jahrzehntausende nach Neuguinea gekommen waren und wie die weißen Europäer Neuguinea in den letzten 200 Jahren kolonisiert hatten. Der Ton der Unterhaltung blieb freundlich, wenngleich die Spannungen zwischen den beiden Gesellschaften, die Yali und ich repräsentierten, ihm und mir wohlbekannt waren. Vor 200 Jahren lebten alle Bewohner Neuguineas noch »in der Steinzeit«, was heißen soll, daß sie noch ähnliche Steinwerkzeuge wie die verwendeten, die in Europa schon vor mehreren tausend Jahren durch Werkzeuge aus Metall ersetzt worden waren, und daß sie in Dörfern lebten, die nicht unter einer zentralen politischen Instanz vereint waren. Als die Weißen kamen, brachten sie die zentralistische Regierungsform mit sich. Weitere Mitbringsel waren diverse materielle Güter, deren Nutzen den Bewohnern Neuguineas sofort einleuchtete, wie Stahläxte, Streichhölzer und Medikamente bis hin zu Kleidung, Erfrischungsgetränken und Regenschirmen. In Neuguinea wurden all diese Güter zusammenfassend als »Cargo« (Fracht) bezeichnet. Viele der weißen Kolonialisten verachteten die Neuguineer unverhohlen als »primitive Wilde«. Selbst der Geringste unter den weißen »Masters« der Insel, wie sie sich 1972 noch nannten, genoß einen weit höheren Lebensstandard als die Neuguineer, ja sogar als charismatische Politiker wie Yali. Der aber hatte schon viele Weiße ausführlich befragt, wie er es mit mir gerade tat, und ich hatte das gleiche mit zahlreichen Neuguineern getan. Wir wußten also beide ganz genau, daß Neuguineer im Durchschnitt mindestens ebenso intelligent sind wie Europäer. An all das muß Yali gedacht haben, als er mir aus seinen funkelnden Augen einen bohrenden Blick zuwarf und fragte: »Wie kommt es, daß ihr Weißen so viel Cargo geschaffen und nach Neuguinea mitgebracht habt, wir Schwarzen aber so wenig eigene Cargo hatten?« Es war eine simple Frage, die aber den Kern dessen traf, was Yali bewegte. Ja, es gibt noch immer gewaltige Unterschiede zwischen der Lebensweise des durchschnittlichen Neuguineers und der des durchschnittlichen Europäers oder Amerikaners. Ebenso gewaltige Unterschiede klaff en zwischen anderen Völkern der Welt. Für diese enorme Ungleichheit muß es doch gewichtige und, so möchte man meinen, augenfällige Gründe geben. Bei näherer Betrachtung erweist sich Yalis zunächst so einfache Frage als ausgesprochen schwer zu beantworten. Ich wußte damals keine Antwort. Unter Historikern herrscht auch heute noch keine Übereinstimmung, und die meisten haben es aufgegeben, diese Frage überhaupt zu stellen. In den Jahren, seit Yali und ich uns am Strand begegneten, habe ich über verschiedene Aspekte der menschlichen Evolution, Geschichte und Sprache geforscht und geschrieben. Dieses Buch stellt den Versuch dar, Yalis Frage mit 25 Jahren Verspätung zu beantworten. Obgleich Yali seine Frage nur auf die unterschiedliche Lebensweise von Neuguineern und weißen Europäern gemünzt hatte, war mit ihr doch ein umfassenderes Phänomen der modernen Welt beispielhaft angesprochen. Völker eurasischen Ursprungs und insbesondere die heutigen Bewohner Europas und Ostasiens sowie die nach Nordamerika ausgewanderten Europäer spielen mit ihrem Reichtum und ihrer Macht eine beherrschende Rolle in der Gegenwart. Andere Völker, darunter die meisten Afrikaner, konnten zwar das Joch der europäischen Kolonialherrschaft abschütteln, aber in puncto Reichtum und Macht liegen sie noch weit zurück. Wieder andere Völker, wie die Ureinwohner Australiens, Nord- und Südamerikas und des südlichen Afrika, sind nicht einmal mehr Herren im eigenen Land, sondern wurden von europäischen Kolonialisten dezimiert, unterjocht und in manchen Fällen sogar ausgerottet. Fragen zur Ungleichheit in unserer heutigen Welt können deshalb auch so formuliert werden: Wie kam es dazu, daß Reichtum und Macht so verteilt sind, wie wir es in der Gegenwart erleben, und nicht anders? Warum führte die Geschichte nicht dazu, daß beispielsweise Indianer, Afrikaner und australische Aborigines Europäer und Asiaten dezimierten, unterwarfen oder ausrotteten? Greifen wir noch etwas weiter zurück. Als die weltweite koloniale Expansion Europas um 1500 n. Chr. noch am Anfang stand, klafften zwischen den Bewohnern der verschiedenen Kontinente bereits gewaltige Unterschiede im Stand der Technik und der politischen Organisation. So bestanden Europa, Asien und Nordafrika zum großen Teil aus Staaten oder Reichen, deren Bewohner Metallwerkzeuge besaßen und von denen einige schon an der Schwelle zur Industrialisierung standen. Zwei indianische Völker, Azteken und Inkas, herrschten über Reiche mit Steinwerkzeugen. In Teilen Afrikas südlich der Sahara gab es kleinere Häuptlingsreiche mit Eisenverarbeitung. Die meisten anderen Völker – darunter auch sämtliche Bewohner Australiens und Neuguineas, zahlreicher Pazifikinseln, eines Großteils Nord- und Südamerikas sowie kleinerer Teile Afrikas südlich der Sahara – trieben in Stammesgemeinschaft en Landwirtschaft oder durchstreiften gar ihre Heimat in kleinen Scharen als Jäger und Sammler und besaßen nur Steinwerkzeuge. Diese technischen und politischen Unterschiede, die schon um 1500 n. Chr. existierten, waren gewiß der unmittelbare Grund für die Ungleichheiten in der heutigen Welt. Reiche, deren Armeen über Waffen aus Stahl verfügten, konnten über Stammesgesellschaft en mit Waff en aus Stein und Holz herfallen und sie unterjochen oder auslöschen. Wie aber kam es, daß die Welt um 1500 n. Chr. so und nicht anders aussah? Wiederum können wir leicht einen Schritt weiter zurückgehen, indem wir uns auf geschichtliche Aufzeichnungen und archäologische Funde stützen. Bis zum Ende der letzten Eiszeit um 11 000 v. Chr. waren die Bewohner aller Kontinente noch Jäger und Sammler. Unterschiedliche Entwicklungsgeschwindigkeiten auf den verschiedenen Kontinenten zwischen 11 000 v. Chr. und 1500 n. Chr. führten zu den unübersehbaren technischen und politischen Ungleichheiten am Ende jenes Zeitraums. Während die australischen Aborigines und viele Indianerstämme weiter als Jäger und Sammler lebten, entwikkelten sich in den meisten Gebieten Eurasiens und in großen Teilen Nord- und Südamerikas sowie Afrikas südlich der Sahara schrittweise Ackerbau, Viehzucht, Metallurgie und komplexe Formen politischer Organisation. In Teilen Eurasiens und in einer Region Amerikas wurde eigenständig die Schrift erfunden. Jede der genannten Neuerungen tauchte jedoch in Eurasien früher auf als anderswo. So war die Massenproduktion von Bronzewerkzeugen, die in den südamerikanischen Anden erst in den Jahrhunderten vor 1500 n. Chr. einsetzte, in Teilen Eurasiens schon über 4000 Jahre zuvor fester kultureller Bestandteil. Die Steintechnologie der Tasmanier war noch beim ersten Zusammentreff en mit europäischen Entdeckungsreisenden im Jahr 1642 n. Chr. primitiver als in Teilen Europas während der Jungsteinzeit, also zigtausend Jahre früher. Somit können wir die Frage nach den Ungleichheiten der heutigen Welt letztendlich so formulieren: Warum verlief die Entwicklung auf den verschiedenen Kontinenten in so unterschiedlichem Tempo? Diese Unterschiede stellen das allgemeinste Verlaufsmuster der Geschichte dar und sind Thema dieses Buchs. Während es hierin also letzten Endes um Geschichte und Vorgeschichte geht, ist der Gegenstand des Buchs doch keineswegs von rein akademischem Interesse, sondern von sehr großer praktischer und politischer Bedeutung. Es waren die Begegnungen zwischen ungleichen Völkern, oft mit der Folge von Eroberungen, eingeschleppten Seuchen und Genozid, die unsere Welt formten. Die Folgen der Kollisionen von einst sind noch heute, viele Jahrhunderte später, zu spüren und spielen besonders in einigen der schlimmsten Krisenregionen der Welt noch immer eine wichtige Rolle. So macht das Erbe des Kolonialismus vielen Ländern Afrikas immer noch schwer zu schaffen. In anderen Regionen – beispielsweise in Mittelamerika, Mexiko, Peru, Neukaledonien, der ehemaligen Sowjetunion und Teilen Indonesiens – kommt es immer wieder zu Unruhen oder Rebellionen, bei denen sich Urbevölkerungen und Regierungen, die von Nachfahren fremder Eroberer dominiert werden, feindselig gegenüberstehen. Etliche andere Urbevölkerungen – zum Beispiel Hawaiianer, australische Aborigines, Sibirjaken und Indianer in den USA, Kanada, Brasilien, Argentinien und Chile – wurden durch Genozid und Krankheiten so stark dezimiert, daß sie den Nachfahren der fremden Eroberer heute zahlenmäßig stark unterlegen sind. Obgleich ein Bürgerkrieg deshalb nicht in Betracht kommt, pochen sie doch zunehmend auf ihre Rechte. Neben diesen politischen und wirtschaft lichen Folgen der Kollisionen der Vergangenheit gibt es auch einen linguistischen Nachhall, insbesondere in Form des drohenden Aussterbens der meisten der 6000 heute noch existierenden Sprachen und ihrer allmählichen Ablösung durch Englisch, Chinesisch, Russisch und eine Handvoll anderer Sprachen, deren Sprecherzahlen in den letzten Jahrhunderten in die Höhe geschnellt sind. All diese Probleme der heutigen Zeit sind das Ergebnis der unterschiedlichen Geschichtsverläufe, die in Yalis Frage anklingen. .. Bevor wir mit der Suche nach Antworten auf Yalis Frage beginnen, wollen wir uns möglichen Einwänden gegen die Behandlung dieses Themas zuwenden. Von mancher Seite wird nämlich, aus verschiedenen Gründen, ein Frevel darin gesehen, die Frage überhaupt zu stellen. Der erste Einwand lautet so: Würde nicht jede einleuchtende Erklärung der Entwicklung, die zur Vorherrschaft einiger Völker über andere führte, wie eine Rechtfertigung derselben aussehen? Würde das Ergebnis nicht als unvermeidlich erscheinen und jeder Versuch, daran heute etwas zu ändern, als vergeblich? Dieser Einwand beruht auf der verbreiteten Verwechslung von Ursachenerklärung und Rechtfertigung. Wozu eine historische Erklärung benutzt wird, hat letztlich nichts mit der Erklärung selbst zu tun. Wissen dient häufiger als Schlüssel zur Veränderung von Ergebnissen historischer Geschehnisse als dazu, sie zu wiederholen oder fortzuschreiben. Das ist ja auch der Grund, warum Psychologen versuchen, die Gedankenwelt von Mördern und Vergewaltigern zu verstehen, warum Sozialhistoriker nach den Gründen von Genozid und Ärzte nach den Ursachen von Krankheiten forschen. Ihnen allen liegt es fern, gute Gründe für Mord, Vergewaltigung, Genozid und Krankheiten zu finden. Vielmehr geht es darum, das Wissen um eine Kausalkette zu nutzen, um sie zu unterbrechen. Zweitens ließe sich vielleicht einwenden, die Beschäftigung mit Yalis Frage werde automatisch in eine eurozentrische Geschichtsbetrachtung, eine Verherrlichung der Westeuropäer und eine obsessive Beschäft igung mit der überragenden Bedeutung Westeuropas und des europäisierten Amerika in der heutigen Welt münden. Handelt es sich aber bei jener Bedeutung nicht bloß um ein kurzlebiges Phänomen der letzten Jahrhunderte, das angesichts der Entwicklung Japans und Südostasiens schon wieder verblaßt? Wie Sie sehen werden, handelt dieses Buch zum größten Teil von nichteuropäischen Völkern. Statt die Betrachtung auf Interaktionen zwischen Europäern und Nichteuropäern zu verengen, werden wir auch den Kontakten verschiedener nichteuropäischer Völker untereinander nachgehen – insbesondere in Afrika südlich der Sahara, Südostasien, Indonesien und Neuguinea. Weit davon entfernt, die Völker westeuropäischen Ursprungs zu verherrlichen, werden wir sehen, daß die meisten Grundelemente der westeuropäischen Kultur und Zivilisation von anderen Völkern in anderen Teilen der Welt entwickelt und später nach Westeuropa »importiert « wurden. Drittens könnte man fragen, ob nicht mit Ausdrükken wie »Zivilisation« und »Aufstieg der Zivilisation« stillschweigend unterstellt wird, Zivilisation sei etwas Positives, das Leben der Jäger und Sammler etwas Erbärmliches und die Geschichte der letzten 13 000 Jahre handle vom Fortschritt der Menschheit hin zu mehr Glück und Zufriedenheit. Um es ganz off en zu sagen: Ich unterstelle weder, daß Industrieländer »besser« sind als Stammesgemeinschaften von Jägern und Sammlern, noch daß die Aufgabe der Jagd- und Sammelwirtschaft zugunsten eisengewappneter Staatlichkeit einen »Fortschritt« darstellt oder damit in der Vergangenheit eine Zunahme von Glück und Zufriedenheit unter den Menschen einherging. Meine eigenen Erfahrungen aufgrund meines zwischen amerikanischen Städten und neuguineischen Dörfern aufgeteilten Lebens haben mir gezeigt, daß die sogenannten Segnungen der Zivilisation auch eine Kehrseite haben. So genießen die Bewohner der Industriestaaten zwar verglichen mit Jägern und Sammlern zweifellos eine bessere medizinische Versorgung, kommen nicht so häufig durch Totschlag ums Leben und haben eine höhere Lebenserwartung. Doch dafür können sie erheblich weniger auf die Hilfe von Freunden und Großfamilien zählen. Mein Motiv für die Untersuchung der geographischen Unterschiede zwischen menschlichen Gesellschaften hat rein gar nichts damit zu tun, einen Gesellschaftstypus als den anderen überlegen zu feiern – mir geht es ganz allein um ein Verständnis dessen, was in der Geschichte passierte. Mußte wirklich noch ein weiteres Buch geschrieben werden, um Yalis Frage zu beantworten? Kennen wir die Antwort nicht schon längst? Und wenn ja, wie lautet sie? Die am häufigsten vorgebrachte Erklärung geht mehr oder weniger explizit von biologischen Unterschieden zwischen den Völkern aus. In den Jahrhunderten nach 1500, als europäische Entdeckungsreisende Kenntnis von den großen Unterschieden zwischen den Völkern der Welt in puncto technischer und politischer Entwicklung erlangten, wurden diese als Ausdruck unterschiedlicher angeborener Fähigkeiten interpretiert. Mit dem Siegeszug der Darwinschen Lehre wurde die Erklärung dahingehend abgewandelt, daß nun natürliche Selektion und Evolution in den Vordergrund gestellt wurden. Demnach wurden Völker, die auf technisch niedriger Stufe standen, als evolutionäre Überbleibsel der menschlichen Abstammung von aff enähnlichen Vorfahren betrachtet. Die Verdrängung dieser Völker durch Kolonisten aus industrialisierten Gesellschaften wurde gar als Beispiel für das Überleben des Stärkeren angeführt. Mit dem späteren Aufkommen der Genetik wurde die Erklärung erneut revidiert. Fortan galten Europäer als genetisch intelligenter als Afrikaner und insbesondere australische Aborigines. Heute wird Rassismus in der westlichen Gesellschaft von breiten Schichten der Bevölkerung nach außen hin abgelehnt. Insgeheim oder unbewußt hegen jedoch immer noch viele Menschen (vielleicht sogar die meisten!) rassistische Vorstellungen. In Japan und vielen anderen Ländern werden diese sogar öff entlich und ohne jeden Versuch der Rechtfertigung vorgebracht. Selbst gebildete weiße Amerikaner, Europäer und Australier erkennen, wenn die Sprache auf australische Aborigines kommt, etwas Primitives an diesen. Sehen sie nicht völlig anders aus als Weiße? Viele der heutigen Nachfahren der Aborigines, die die Ära der europäischen Kolonisation überlebten, tun sich zudem schwer damit, in der weißen australischen Gesellschaft wirtschaftlich Fuß zu fassen. Ein scheinbar zwingendes Argument lautet so: Weiße Einwanderer errichteten in Australien einen Staat auf der Grundlage von Metallwerkzeugen und Landwirtschaft mit Attributen wie alphabetisiert, industrialisiert, politisch zentralisiert und demokratisch, und das alles binnen eines Jahrhunderts nach Besiedlung desselben Kontinents, auf dem die Aborigines seit mindestens 40 000 Jahren als Jäger und Sammler in Stammesgemeinschaften ohne Metall gelebt hatten. Es handelt sich mithin um zwei geschichtliche Experimente mit identischer Umwelt, wobei die einzige Variable die Völker waren, die sich ihrer bemächtigten. Müssen die Unterschiede zwischen den Gesellschaften der australischen Aborigines und der Europäer da nicht zwangsläufig auf Unterschiede zwischen den Völkern selbst zurückgeführt werden? Derart rassistische Erklärungen sind nicht nur widerwärtig, sondern auch falsch. Es gibt keinen stichhaltigen Beweis für eine Parallele zwischen Intelligenz und technischem Entwicklungsstand. Im Gegenteil, noch existierende »Steinzeitvölker« besitzen im Durchschnitt eher mehr und nicht weniger Intelligenz als die Bewohner der Industrieländer, wie ich gleich erläutern werde. Es mag paradox klingen, aber die weißen Neu-Australier können das Verdienst für den Aufb au einer Industriegesellschaft mit den genannten Errungenschaften nicht für sich in Anspruch nehmen, wie sie es gerne tun (siehe Kapitel 14). Auch ist regelmäßig zu beobachten, daß Angehörige von Völkern, die bis vor kurzem auf technisch primitiver Stufe standen, die Technik des Industriezeitalters bestens meistern, wenn sie nur die Chance erhalten. Die kognitive Psychologie hat ausgiebig nach IQ-Unterschieden zwischen Angehörigen von Völkern unterschiedlicher geographischer Herkunft geforscht, die im gleichen Land zusammenleben. So sind insbesondere in den USA zahlreiche weiße Psychologen seit Jahrzehnten um den Nachweis bemüht, daß schwarze Amerikaner afrikanischer Abstammung von Natur aus weniger Intelligenz besitzen als weiße Amerikaner mit europäischen Vorfahren. Wie man sehr wohl weiß, gibt es zwischen beiden Gruppen aber erhebliche Unterschiede in bezug auf die soziale Umwelt und die Bildungschancen. Daraus resultieren gleich zwei Probleme für die Prüfung der Hypothese, daß Unterschiede der geistigen Fähigkeiten die Ursache für Unterschiede im technischen Entwicklungsstand seien. Erstens sind kognitive Fähigkeiten selbst bei Erwachsenen in hohem Maße durch die soziale Umwelt in der Kindheit geprägt, wodurch es besonders schwer ist, die Wirkung genetischer Unterschiede festzustellen. Zweitens neigen Tests kognitiver Fähigkeiten (beispielsweise Intelligenztests) dazu, kulturelles Lernen statt der reinen, angeborenen Intelligenz (was immer das sein mag) zu testen. Aufgrund der unstrittigen Auswirkungen von Kindheitserfahrungen und erlerntem Wissen auf die Ergebnisse von Intelligenztests ist es Psychologen bis heute nicht gelungen, die postulierten genetischen Defizite im IQ nichtweißer Völker über zeugend nachzuweisen. Mein eigener Standpunkt in dieser Kontroverse hat viel mit den Erfahrungen zu tun, die ich im Laufe von 33 Jahren mit Neuguineern in ihrem eigenen intakten Lebensumfeld sammeln konnte. Von Anfang an beeindruckten mich diese Menschen als im Durchschnitt intelligenter, aufgeweckter, ausdrucksvoller und stärker an Dingen und Personen ihrer Umwelt interessiert als durchschnittliche Europäer oder Amerikaner. Bei manchen Aufgaben, bei denen ein enger Zusammenhang mit bestimmten Gehirnfunktionen vermutet werden muß, etwa bei der Fähigkeit, eine fremde Umgebung im Geist zu kartieren, wirken sie erheblich intelligenter als Menschen aus dem Westen. Natürlich schneiden Neuguineer in der Regel bei Aufgaben schlecht ab, die bei uns von Kindheit an geübt werden, in Neuguinea jedoch nicht. Wenn Neuguineer aus entlegenen Dörfern zu Besuch in die Stadt kommen, mögen sie deshalb in westlichen Augen töricht aussehen. Umgekehrt bin ich mir stets bewußt, welch schlechte Figur ich für Neuguineer abgeben muß, wenn ich mit ihnen in den Dschungel gehe und dort meine Unfähigkeit unter Beweis stelle bei so einfachen Aufgaben wie dem Wandern auf einem Dschungelpfad oder der Errichtung einer kleinen Schutzhütte, die für Neuguineer die einfachsten Dinge von der Welt sind, weil sie damit von Kindheit an vertraut sind. Zwei leicht nachvollziehbare Gründe sprechen für die Richtigkeit meines Eindrucks, daß Neuguineer womöglich intelligenter sind als Menschen aus dem Westen. Erstens gibt es in Europa seit Jahrtausenden Gesellschaften mit zentraler Regierungsgewalt, Polizei und Justiz. Seither waren Krankheitsepidemien (z. B. Pocken) angesichts der Bevölkerungsdichte historisch die häufi gste Todesursache, während Mord verhältnismäßig selten vorkam und Krieg eher die Ausnahme war als die Regel. Die meisten Europäer, die keiner ansteckenden Krankheit zum Opfer fielen, entgingen auch anderen möglichen Todesursachen, bevor sie ihr Erbgut an ihre Nachkommen weitergeben konnten. Heute sterben Neugeborene im Westen kaum noch an lebensbedrohlichen Infektionskrankheiten und pflanzen sich ungeachtet ihrer Intelligenz und der Qualität ihrer Erbanlagen fort. Im Gegensatz dazu leben Neuguineer in Gesellschaft en, deren Bevölkerungsdichte zu gering war, als daß sich Krankheitsepidemien hätten ausbreiten können. Dafür kamen in Neuguinea früher viele Menschen durch Mord, häufige Stammeskriege, Unfälle und Hunger ums Leben. Intelligente Menschen entgehen diesen Todesursachen in traditionellen neuguineischen Gesellschaft en eher als weniger intelligente. Dagegen hatte die diff erentielle Sterblichkeit aufgrund von Krankheitsepidemien in traditionellen europäischen Gesellschaft en kaum etwas mit Intelligenz zu tun. Vielmehr spielten dabei erblich bedingte, von biochemischen Körpereigenschaft en gesteuerte Abwehrkräfte eine Rolle (ein typisches Beispiel ist die größere Pockenabwehrkraft von Menschen mit Blutgruppe B oder Null als von Menschen mit Blutgruppe A). Daraus ergibt sich, daß die natürliche Selektion nach Intelligenz auf Neuguinea wahrscheinlich sehr viel rigoroser erfolgte als in den dichter besiedelten Regionen mit komplexen politischen Organisationsformen, in denen biochemische Körpereigenschaften bei der natürlichen Selektion eine größere Rolle spielten. Neben diesem genetischen Grund gibt es noch einen zweiten, der eine mögliche Erklärung dafür liefert, warum die Neuguineer der Gegenwart vielleicht intelligenter sind als die Menschen westlicher Prägung. Amerikanische und europäische Kinder verbringen heutzutage einen großen Teil ihrer Zeit mit passiver Unterhaltung wie Fernsehen, Radio oder Kino. In amerikani schen Durchschnitts haushalten läuft der Fernseher sieben Stunden am Tag. Demgegenüber haben Kinder in Neuguinea, die in traditionellen Verhältnissen aufwachsen, praktisch keine Gelegenheit zu passiver Unterhaltung. Sie beschäftigen sich statt dessen meist von früh bis spät auf die eine oder andere Weise aktiv, beispielsweise durch Gespräche oder Spiele mit anderen Kindern oder Erwachsenen. In fast allen Untersuchungen zur kindlichen Entwicklung wird die besondere Bedeutung von Stimulation und Aktivität als Voraussetzung der geistigen Entfaltung hervorgehoben, während zugleich auf die irreversible geistige Verkümmerung hingewiesen wird, die das Ergebnis ungenügender Stimulation sein kann. Wir haben es hier also mit einem nichtgenetischen Faktor zu tun, der mit zu der überlegenen Geisteskraft des durchschnittlichen Neuguineers beiträgt. In ihren geistigen Fähigkeiten sind die Neuguineer den westlichen Menschen demnach genetisch wahrscheinlich überlegen und in dem Sinne, daß sie der verheerenden entwicklungspsychologischen Benachteiligung entgehen, der die meisten Kinder in den Industrie gesellschaft en heute ausgesetzt sind, ganz gewiß. Mit Sicherheit spricht jedenfalls nichts für eine intellektuelle Unterlegenheit der Neuguineer, die Yalis Frage ja weitgehend beantwortet hätte. Die beiden genannten Faktoren, der genetische und der entwicklungspsychologische, dürften nicht nur speziell die Bewohner Neuguineas von denen der westlichen Industriegesellschaft en unterscheiden, sondern ganz allgemein Jäger und Sammler sowie andere Mitglieder technisch primitiver von Angehörigen technisch fortgeschrittener Gesellschaft en. Damit wäre die übliche rassistische These auf den Kopf gestellt. Wie kommt es, daß die Europäer trotz ihrer genetischen Unterlegenheit und ihrer (seit einiger Zeit) unbestreitbaren entwicklungspsychologischen Benachteiligung so viel mehr materielle Güter besitzen? Warum blieben die Neuguineer trotz ihrer, wie ich glaube, überlegenen Intelligenz technisch auf primitivem Stand? Mögliche Antworten auf Yalis Frage kommen nicht nur von der Genetik. Ein besonders bei den Bewohnern Nordeuropas beliebter Erklärungsansatz hebt die vermeintliche Stimulationswirkung des kühlen nordischen Klimas hervor, dem der angeblich negative Einfl uß des feuchtheißen Tropenklimas auf Kreativität und Energie gegenübergestellt wird. Vielleicht stellen die jahreszeitlichen Klima schwankungen in nördlichen Regionen ja vielfältigere Herausforderungen, die es zu bewältigen gilt, als das im Jahresverlauf schwankungsarme Tropenklima. Vielleicht ist auch mehr technischer Erfindungsreichtum gefragt, um in kalten Klimazonen zu bestehen, da man sich mit warmer Kleidung und Behausung gegen die Kälte wappnen muß, während in den Tropen einfachere Behausungen und das Adamskostüm genügen. Man kann das Argument auch umdrehen und zu dem gleichen Schluß gelangen: Die langen Winter im hohen Norden lassen den Menschen viel Zeit, um im Warmen zu sitzen und Erfi ndungen auszubrüten. Dieses früher vielzitierte Erklärungsmuster hält einer genauen Prüfung ebenfalls nicht stand. Wie wir sehen werden, leisteten die Völker Nordeuropas in dem Zeitraum bis vor etwa tausend Jahren keinerlei fundamentale Beiträge zur eurasischen Zivilisation. Sie konnten sich glücklich wähnen, in einem geographischen Raum zu leben, wo ihnen Erfi ndungen (wie Landwirtschaft , Rad, Schrift , Metallurgie) aus wärmeren Teilen Eurasiens mehr oder weniger in den Schoß fielen. In der Neuen Welt waren die kalten Regionen im hohen Norden technisch und kulturell noch rückständiger. Die einzigen Indianerkulturen, in denen die Schrift erfunden wurde, lagen in Mexiko südlich vom Wendekreis des Krebses. Die älteste Keramik der Neuen Welt stammt aus einem Gebiet in Äquatornähe im tropischen Südamerika. Und die in Kunst, Astronomie und anderen Bereichen wohl fortgeschrittenste Zivilisation der Neuen Welt war die der Mayas im tropischen Yucatán und in Guatemala im 1. Jahrtausend n. Chr. Ein dritter Antworttyp auf Yalis Frage bringt die Bedeutung von Flußtälern in Tieflandzonen mit Trockenklima ins Spiel, wo als Voraussetzung einer ertragreichen Landwirtschaft umfangreiche Bewässe rungssysteme errichtet werden mußten, die wiederum einer zentralistischen Bürokratie bedurften. Diese Erklärung wurde aus der unumstrittenen Tatsache abgeleitet, daß die ältesten bekannten Reiche und Schrift systeme im Zweistromland von Euphrat und Tigris sowie im ägyptischen Niltal entstanden. Bewässerungssysteme gingen offenbar auch in anderen Regionen der Welt mit zentralisierter politischer Macht Hand in Hand, so im Industal auf dem indischen Subkontinent und in den Tälern des Gelben Flusses und des Jangtse in China, im Maya- Tiefland in Mittelamerika und in den Wüstengebieten an der Küste von Peru. Eingehende archäologische Studien ergaben jedoch, daß komplizierte Bewässerungssysteme nicht parallel zum Aufk ommen zentralistischer Bürokratien entstanden, sondern diesen mit beträchtlicher Verzögerung folgten. Das bedeutet, daß zentralistische Staatswesen aus anderen Gründen entstanden, bevor sie dann die Errichtung komplizierter Bewässerungssysteme ermöglichten. Alle entscheidenden früheren Entwicklungen, die der Entstehung solcher Staatsgebilde in den besagten Regionen vorangingen, wiesen keinerlei Zusammenhang mit Flußtälern oder komplizierten Bewässerungssystemen auf. So lagen in dem Teil Vorderasiens, der aufgrund seiner geographischen Form als »Fruchtbarer Halbmond« bezeichnet wird, die Ursprünge von Landwirtschaft und Dorfgemeinschaft en in Hügeln und Bergen, nicht aber in den Flußtälern des Tieflands. Das Niltal war noch 3000 Jahre nach dem Aufkeimen einer dörfl ichen Landwirtschaft in den Hügeln des Fruchtbaren Halbmonds kulturelle Provinz. In einigen Flußtälern im Südwesten der USA entwickelten sich zwar Bewässerungslandwirtschaft und komplexe Gesellschaften, aber erst nachdem viele der Errungenschaft en, die dafür die Voraussetzung bildeten, aus Mexiko importiert worden waren. In den Flußtälern im Südosten Australiens lebten unterdessen Stammesgesellschaft en, denen Landwirtschaft gänzlich fremd war. Ein weiterer Erklärungstyp verweist auf die unmittelbaren Faktoren, die den Europäern die Ausrottung oder Unterwerfung anderer Völker ermöglichten, also insbesondere Gewehre und Kanonen, Epidemien europäischer Infektionskrankheiten, Stahlwerkzeuge und Industrieerzeugnisse. Diese Art der Erklärung führt auf die richtige Spur, da ja die aufgezählten Faktoren nachweislich in direktem Zusammenhang mit den Eroberungen der Europäer standen. Allerdings haben wir es noch mit einer unvollständigen Hypothese zu tun, da die Nennung unmittelbarer Ursachen lediglich die Vorstufe zu einer wirklichen Erklärung darstellen kann. Immerhin wird ein Anstoß für die Suche nach den eigentlichen Ursachen gegeben: Warum besaßen am Ende Europäer und nicht Afrikaner oder Indianer Gewehre und Kanonen, die bösartigsten Krankheitserreger und Werkzeuge aus Stahl? Während bei dem Versuch, die eigentlichen Ursachen der Eroberung der Neuen Welt durch Europäer zu verstehen, gewisse Fortschritte erzielt wurden, gibt Afrika, über Jahrmillionen Stätte der menschlichen Evolution, an der auch der anatomisch moderne Mensch herangereift sein dürfte und wo Krankheiten wie Malaria und Gelbfieber europäische Entdecker dahinrafften, nach wie vor große Rätsel auf. Angesichts des gewaltigen zeitlichen Vorsprungs, den Afrika zweifelsohne besaß, stellt sich die Frage, warum Kanonen und Stahl nicht zuerst in Afrika auftauchten und den Afrikanern und ihren Krankheitserregern die Macht gaben, Europa zu erobern. Und wie erklärt es sich, daß die australischen Aborigi nes das Stadium von Jägern und Sammlern mit Stein werkzeugen nie verließen? Fragen, die sich aus dem Vergleich menschlicher Kulturen in verschiedenen Regionen der Welt ergeben, stießen bei Historikern und Geographen früher auf großes Interesse. Die wohl bekannteste Arbeit dieser Art aus neuerer Zeit ist das mehrbändige Werk von Arnold Toynbee mit dem Titel Der Gang der Weltgeschichte*. Toynbees Interesse galt in erster Linie der inneren Dynamik von 23 Hochkulturen, von denen 22 im Besitz der Schrift und 19 in Eurasien beheimatet waren. Weniger stark interessierte er sich dagegen für Vorgeschichte und für einfachere, schriftlose Kulturen. Dabei liegen die Wurzeln der heutigen Ungleichheit mit Sicherheit in vorgeschichtlichen Zeiten. Toynbee stellte sich jedoch weder Yalis Frage, noch fand er eine Erklärung für das nach meiner Auffassung allgemeinste Verlaufsmuster der Geschichte. Andere Bücher zur Universalgeschichte beschäft igen sich ebenfalls vorrangig mit den eurasischen Hochkulturen der letzten 5000 Jahre; präkolumbianische indianische Kulturen werden wesentlich knapper abgehandelt, und der Rest der Welt erscheint bestenfalls am Rande, abgesehen von seinen Berührungen mit eurasischen Zivilisationen in der jüngeren Geschichte. Nach Toynbee sind Die amerikanische Originalausgabe erschien in zwölf Bänden mit dem Titel »A Study of History«. .. Versuche, globale Synthesen historischer Kausalzusammenhänge zu erarbeiten, bei den meisten Historikern in Ungnade gefallen, da sie Probleme aufwerfen, die sich einer Lösung offenbar hartnäckig entziehen. Experten unterschiedlicher Disziplinen ist es inzwischen gelungen, in ihren jeweiligen Fachgebieten entsprechende Synthesen zu entwickeln. Besonders wertvolle Beiträge kommen von der Umweltgeographie, der Kulturanthropologie, der biologischen Forschung über Pflanzen- und Tierdomestikation sowie von einer Forschungsrichtung, die dem Einfluß von Infektionskrankheiten auf den Lauf der Geschichte nachgeht. Solche Untersuchungen haben zwar Licht auf einzelne Elemente des Rätsels geworfen, doch eine allgemeine Synthese fehlt nach wie vor. Von einer weithin akzeptierten Antwort auf Yalis Frage kann mithin nicht die Rede sein. Einerseits sind die unmittelbaren Ursachen klar: Einige Völker brachten schneller als andere Kanonen, Krankheitserreger, Stahlwerkzeuge und andere Dinge hervor, die ihnen politische und wirtschaftliche Macht gaben, während manche Völker überhaupt keine Anzeichen für Fortschritte in dieser Richtung erkennen ließen. Andererseits bleiben die eigentlichen Ursachen – also beispielsweise, warum Bronzewerkzeuge in einigen Regionen Eurasiens sehr früh auftauchten, in der Neuen Welt erst spät und nur vereinzelt, in Australien dagegen nie – unklar. Das gegenwärtige Fehlen grundlegender Erklärungen für diese ungleiche Entwicklung stellt eine schwere Wissenslücke dar, handelt es sich hier doch um das allgemeinste Verlaufsmuster der Geschichte. Noch schlimmer ist jedoch die moralische Lücke, die klafft , sprich das freie Feld, das rassistischen Interpretationen überlassen wird. Jeder, ob erklärter Rassist oder nicht, weiß um das höchst unterschiedliche Los der Völker in der Geschichte. So sind die USA eine Gesellschaft europäischer Prägung, errichtet auf Land, das den indianischen Ureinwohnern entrissen wurde, und mit einer Bevölkerung, zu der die Nachfahren von Millionen Schwarzafrikanern gehören, die als Sklaven nach Amerika geschafft wurden. Das moderne Europa ist keine Gesellschaft schwarzafrikanischer Prägung, in der die Nachfahren von Millionen von Indianern leben, die als Sklaven dorthin kamen. Die Ergebnisse des Geschichtsverlaufs sind in ihrer Einseitigkeit kaum zu überbieten: Nein, es wurden nicht 51 Prozent der Fläche Amerikas, Australiens und Afrikas von Europäern erobert und dafür 49 Prozent der Fläche Europas von Amerikanern, australischen Aborigines oder Afrikanern. Die ganze moderne Welt wurde höchst einseitig geformt, und dafür muß es unwiderlegliche Erklärungen geben, grundlegendere als solche, die sich mit dem Ausgang der einen oder anderen Schlacht oder dem Ursprung dieser oder jener Erfindung vor einigen Jahrtausenden begnügen. Es scheint plausibel anzunehmen, der Geschichtsverlauf sei Ausdruck angeborener Unterschiede zwischen den Völkern. Sicher, man hat uns gelehrt, daß es sich nicht ziemt, solche Gedanken in der Öff entlichkeit zu äußern. Aber immer wieder hört man von wissenschaft lichen Untersuchungen, in denen solche angeborenen Unterschiede angeblich nachgewiesen werden, und natürlich läßt eine Widerlegung wegen angeblicher methodischer Fehler nicht lange auf sich warten. Im Alltag erleben wir, daß die Nachfahren der einst unterjochten Völker noch heute eine Unterschicht bilden, Jahrhunderte nach der Eroberung beziehungsweise nach der Verschleppung als Sklaven. Auch dies, so sagt man uns, habe mit biologischen Faktoren nichts zu tun, sondern sei nur Ausdruck sozialer Benachteiligung und mangeln der Chancengleichheit. Trotzdem kann man doch ins Grübeln kommen. Da sind all die eklatanten Unterschiede im Status der Völker, die hartnäckig fortbestehen. Man versichert uns, daß die scheinbar einleuchtende biologische Erklärung für die schon vor 500 Jahren unübersehbaren Ungleichheiten auf der Welt falsch sei, läßt aber offen, wie denn die richtige Erklärung lauten müßte. Bis uns eine überzeugende, detaillierte und weithin akzeptierte Erklärung des allgemeinsten Verlaufsmusters der Geschichte vorliegt, werden die meisten Menschen sicher weiter die Vermutung hegen, daß an der rassistischen biologischen Erklärung doch etwas dran sei. Und genau darin liegt für mich der Hauptgrund, dieses Buch zu schreiben. Autoren werden von Journalisten regelmäßig gebeten, den Inhalt eines Buchs auf eine kurze Formel zu bringen. Sie könnte in diesem Fall so lauten: »Daß die Geschichte verschiedener Völker unterschiedlich verlief, beruht auf Verschiedenheiten der Umwelt und nicht auf biologischen Unterschieden zwischen den Völkern.« Nun ist der Gedanke, daß Umwelt- und Biogeographie Einfl uß auf die gesellschaft liche Entwicklung nehmen, keineswegs neu. Er ist aber in Historikerkreisen nicht sehr beliebt, da er angeblich falsch oder simplifi zierend sei. Häufig wird er auch als Ökodeterminismus abgetan, oder die Suche nach einer schlüssigen Erklärung für die Unterschiede auf der Welt wird als zu schwieriges Unterfangen zurückgestellt. Daß die Geographie einen gewissen Einfl uß auf den Verlauf der Geschichte hatte, ist indes unstrittig. Offen ist nur, wie stark dieser Einfluß war und ob die Geographie das allgemeine Verlaufsmuster der Geschichte zu erklären vermag. Unterdessen geben neue Erkenntnisse aus wissenschaftlichen Disziplinen, die auf den ersten Blick wenig mit Geschichte zu tun haben, Anlaß zu einer erneuten Auseinandersetzung mit diesen Fragen. Von Bedeutung sind insbesondere: Genetik, Molekularbiologie und Biogeographie in bezug auf Kulturpfl anzen und ihre wildwachsenden Vorgänger; die gleichen Disziplinen sowie die Verhaltensökologie in bezug auf domestizierte Tiere und ihre wilden Vorfahren; Molekularbiologie in bezug auf menschliche und verwandte tierische Krankheitserreger; Epidemiologie menschlicher Krankheiten; Humangenetik; Linguistik; archäologische Untersuchungen auf allen Kontinenten und großen Inseln; Untersuchungen zur Geschichte der Technik, der Schrift und der politischen Organisation. Dieses breite Spektrum von Disziplinen wirft für ein Buch, das sich die Beantwortung von Yalis Frage zum Ziel setzt, erhebliche Probleme auf. So muß der Autor über Fachkenntnisse in allen obengenannten Disziplinen verfügen, um relevante neue Erkenntnisse in die von ihm vorzunehmende Synthese einbringen zu können. Geschichte und Vorgeschichte jedes Kontinents müssen ihm ebenso gründlich bekannt sein. Gegenstand des Buchs ist die Menschheitsgeschichte; es wird jedoch eine naturwissenschaftliche Betrachtungsweise zugrunde gelegt, bei der historische Naturwissenschaften wie Evolutionsbiologie und Geologie den Schwerpunkt bilden. Vom Autor muß überdies verlangt werden, daß er aus eigener Erfahrung eine Vielzahl menschlicher Kulturen kennt, von Jägern und Sammlern bis hin zu den modernen Zivilisationen des Weltraumzeitalters. Diesen Anforderungen kann auf den ersten Blick nur ein Sammelband mit Beiträgen verschiedener Autoren gerecht werden. Ein solches Vorgehen wäre jedoch von Anfang an zum Scheitern verurteilt, da der Kern des Problems ja gerade die einheitliche Synthese ist. Deshalb führt trotz aller Schwierigkeiten kein Weg an einem Einzelautor vorbei. Dieser muß sich bis zum Hals in Arbeit stürzen und unermüdlich Material aus zahlreichen Disziplinen auswerten, wobei ihm der Rat ebenso zahlreicher Fachkollegen unverzichtbar ist. Mein beruflicher Werdegang brachte mich mit mehreren der aufgeführten Disziplinen in Berührung, noch bevor mir Yali im Jahr 1972 seine Frage stellte. Meine Mutter ist Lehrerin und Linguistin, mein Vater Arzt und Spezialist für genetische Faktoren bei Kinderkrankheiten. Meinem Vater nacheifernd, wollte ich als Schüler ebenfalls Arzt werden. Mein brennendes Interesse galt aber daneben, seit ich sieben Jahre alt war, der Vogelkunde. Es war für mich deshalb ein leichter Entschluß, gegen Ende meines Grundstudiums vom Ziel des Medizinstudiums abzurücken und die biologische Forschung als neues Ziel zu wählen. Während meiner gesamten Schulzeit und in den ersten vier Jahren an der Universität waren jedoch Sprachen, Geschichte und Schreiben die Schwerpunkte meiner Ausbildung gewesen. Selbst nachdem ich beschlossen hatte, in Physiologie zu promovieren, hängte ich im ersten Jahr des Fachstudiums die Naturwissenschaft en beinahe an den Nagel, um statt dessen Linguist zu werden. Seit Beendigung meiner Doktorarbeit im Jahr 1961 habe ich meine wissenschaftliche Betätigung zwischen zwei Bereichen aufgeteilt: Molekularphysiologie einerseits, Evolutionsbiologie und Biogeographie andererseits. Als unvorhergesehener Pluspunkt für die Arbeit an diesem Buch sollte sich erweisen, daß die Evolutionsbiologie als historische Naturwissenschaft zu anderen Methoden gezwungen ist als jene Disziplinen, die neue Erkenntnisse hauptsächlich im Labor gewinnen. Aufgrund dieser Erfahrungen waren die Schwierigkeiten beim Erarbeiten einer naturwissenschaft lichen Betrachtungsweise historischer Zusammenhänge für mich nicht ganz neu. Und da ich von 1958 bis 1962 in Europa gelebt und dort Menschen kennengelernt habe, deren Leben durch die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts in brutalster Weise durcheinandergewirbelt worden war, hatte ich zudem schon früh angefangen, mir Gedanken über das Wirken und Ineinandergreifen historischer Kausalketten zu machen. Die letzten 33 Jahre brachten mich im Rahmen evolutions biologischer Forschungen in engen Kontakt mit einer Vielzahl menschlicher Kulturen. Mein Spezialgebiet ist die Vogelevolution, über die ich in Südamerika, im südlichen Afrika, in Indonesien, Australien und vor allem Neuguinea geforscht habe. Durch das Zusammenleben mit den Einheimischen dieser Regionen hatte ich Gelegenheit zum besseren Kennenlernen etlicher technisch primitiver Gesellschaften, von Jäger- und Sammlervölkern bis hin zu einfachen bäuerlichen oder vom Fischfang lebenden Stammesgemeinschaften, die bis in die jüngste Vergangenheit noch Steinwerkzeuge verwendeten. Was die meisten gebildeten Menschen als exotische Lebensweise aus vorgeschichtlicher Zeit betrachten würden, ist deshalb für mich ein besonders lebendiger Teil meiner Erinnerung. Neuguinea, auf das zwar nur ein kleiner Teil der Landmasse der Erde entfällt, besitzt einen überproportional großen Anteil an der kulturellen Vielfalt unseres Planeten. Von den weltweit rund 6000 Sprachen der Gegenwart werden 1000 nur dort gesprochen. Während meiner Vogelforschungen auf Neuguinea entbrannte mein linguistisches Interesse neu, da es zu meinen Aufgaben gehörte, von den Einheimischen die örtlichen Vogelnamen in nahezu hundert neuguineischen Sprachen zu erfahren. Diese verschiedenen Interessen bildeten die Grundlage für mein letztes Buch mit dem Titel Der dritte Schimpanse, in dem ich die Evolution des Menschen in allgemeinverständlicher Form darzustellen versuchte. Kapitel 14 handelte unter der Überschrift »Zufällige Eroberer« von dem Ergebnis des Zusammentreffens von Europäern und amerikanischen Indianern. Nach Erscheinen des Buchs wurde mir bewußt, daß andere neuzeitliche, aber auch prähistorische Begegnungen zwischen Völkern ähnliche Fragen aufwarfen. Ich erkannte, daß die Frage, mit der ich in Kapitel 14 gerungen hatte, im Grunde die gleiche war wie jene, mit der mich Yali 1972 konfrontiert hatte, nur eben bezogen auf einen anderen Teil der Welt. Und so will ich nun, unterstützt von zahlreichen Freunden und Kollegen, endlich den Versuch wagen, Yalis Neugier zu befriedigen – und meine eigene. Das Buch ist in vier Teile gegliedert. Teil I, »Von Eden nach Cajamarca«, umfaßt zwei Kapitel. Das erste (Kapitel 1) nimmt den Leser mit auf eine Blitzreise durch die menschliche Evolution und Geschichte, angefangen bei unserer Abzweigung vom gemeinsamen Stammbaum mit den Affen vor rund sieben Millionen Jahren bis zum Ende der letzten Eiszeit vor rund 13 000 Jahren. Wir verfolgen die Ausbreitung unserer Urahnen von Afrika zu den anderen Kontinenten und gewinnen so eine Vorstellung vom Zustand der Welt, bevor jene Entwicklungen einsetzten, die oft unter dem Begriff »Aufstieg der Zivilisation « zusammengefaßt werden. Wie ich zeigen werde, hatten die Bewohner einiger Kontinente dabei einen zeitlichen Vorsprung vor denen anderer. Das zweite Kapitel führt in das Thema der Kollisionen von Völkern verschiedener Kontinente ein. Gestützt auf Augenzeugenberichte, wird die dramatischste Begegnung dieser Art, die sich wohl je in der Geschichte abgespielt hat, nacherzählt: die Gefangennahme des letzten unabhängigen Inka-Herrschers, Atahualpa, im Beisein seiner gesamten Armee durch Francisco Pizarro und eine kleine Schar von Konquis tadoren in der peruanischen Stadt Cajamarca. Wir erfassen die Kette unmittelbarer Faktoren, die Pizarro in die Lage versetzten, Atahualpa gefangenzunehmen, und die auch bei der Unterwerfung anderer indianischer Gesellschaft en eine Rolle spielten. Dazu zählten die Krankheitserreger, Pferde, das Alphabet, die politische Organisation und Technik (insbesondere Schiff e und Waff en) der Spanier. Die Analyse der unmittelbaren Ursachen ist allerdings der leichte Teil dieses Buchs; der schwierige Teil ist die Aufdeckung der eigentlichen, sie bedingenden Ursachen, die dazu führten, daß die Geschichte diesen und nicht den umgekehrten Verlauf nahm, sprich, daß nicht Atahualpa nach Madrid zog und König Karl I. von Spanien gefangennahm. Teil II, »Beginn und Ausbreitung der Landwirtschaft «, befaßt sich in den Kapiteln 3–9 mit der aus meiner Sicht wichtigsten Konstellation eigentlicher Ursachen. In Kapitel 3 werde ich kurz skizzieren, wie die Landwirtschaft – also die planmäßige Erzeugung von Nahrung durch Ackerbau und Viehzucht anstelle des Jagens von Wildtieren und des Sammelns von Früchten der Natur – im Endeffekt jene unmittelbaren Faktoren auf den Plan rief, die Pizarros Sieg ermöglichten. Der Aufstieg der Landwirtschaft verlief jedoch in den verschiedenen Regionen der Erde sehr unterschiedlich. Wie ich in Kapitel 4 zeigen werde, erfanden manche Völker in einigen Teilen der Welt die Landwirtschaft unabhängig von anderen. Andere übernahmen sie in prähistorischer Zeit von diesen unabhängigen Zentren, während wieder andere die Land wirtschaft weder in prähistorischer Zeit erfanden noch übernahmen, sondern bis in die jüngste Vergangenheit Jäger und Sammler blieben. Kapitel 5 geht den verschiedenen Faktoren nach, an denen es gelegen haben könnte, daß der Übergang von der Jagd- und Sammelwirtschaft zur Landwirtschaft in einigen Regionen stattfand, in anderen jedoch nicht. In den Kapiteln 6, 7 und 8 erfährt der Leser, wie die ersten Bauern und Viehzüchter, ausgehend von Wildpflanzen und -tieren, in prähistorischer Zeit Kulturpflanzen und Vieh domestizierten – ganz ohne zu ahnen, was daraus folgen sollte. Geographische Unterschiede in der örtlichen Verbreitung von Wildpflanzen und -tieren, die geeignete Domestikationskandidaten darstellten, spielen eine wichtige Rolle bei der Frage, warum sich nur wenige Regionen zu unabhängigen Zentren der Landwirtschaft entwikkelten und warum die Landwirtschaft in einigen Regionen früher auf den Plan trat als in anderen. Von diesen wenigen Ausgangszentren fand die Landwirtschaft den Weg in einige Regionen schneller, in andere langsamer. Als wichtiger Faktor, der die unterschiedliche Ausbreitungsgeschwindigkeit mit erklärt, erweist sich die Ausrichtung der Kontinentalachsen. Während in Eurasien die Ost-West-Achse dominiert, ist es in Amerika und Afrika die Nord-Süd-Achse (Kapitel 9). Wir haben also in Kapitel 2 die unmittelbaren Faktoren skizziert, die zum Sieg der Europäer über die Indianer führten, und in Kapitel 3 die Herausbildung dieser Faktoren auf die Landwirtschaft als eigentliche Ursache zurückgeführt. In Teil III (»Von der Landwirtschaft zur Kleptokratie«, Kapitel 10–13) wird den Zusammenhängen zwischen unmittelbaren und eigentlichen Ursachen im Detail nachgegangen. Den Anfang macht die Evolution der für Gesellschaften mit hoher Bevölkerungsdichte charakteristischen Krankheitserreger (Kapitel 10). Weitaus mehr Indianer und andere nichteurasische Völker fielen eurasischen Krankheiten zum Opfer als den stählernen Waffen der Eindringlinge. Umgekehrt warteten auf die europäischen Eroberer in der Neuen Welt nur wenige tödliche Krankheiten. Was waren die Gründe für dieses ungleiche Verhältnis? Aufschluß geben die Ergebnisse neuerer molekularbiologischer Studien, die einen Zusammenhang, der in Europa wesentlich intensiver war als in Nord- und Südamerika, zwischen Krankheitserregern und der Entstehung der Landwirtschaft nachweisen. Eine weitere Kausalkette führt von der Landwirtschaft zur Entstehung der Schrift, der vielleicht wichtigsten Erfindung der letzten Jahrtausende (Kapitel 11). In der Geschichte der Menschheit wurde die Schrift nur einige wenige Male neu erfunden, und zwar in Gebieten, in denen die Landwirtschaft innerhalb der jeweiligen Regionen am frühesten aufgekommen war. Alle anderen Schriftkulturen übernahmen ihr Alphabet oder jedenfalls die Idee der Schrift von einem jener wenigen Hauptzentren. Beim Studium der Weltgeschichte läßt sich deshalb anhand der Schrift eine weitere wichtige Ursachenkonstellation besonders gut erforschen: der Einfl uß der Geographie auf die Schnelligkeit und Leichtigkeit der Ausbreitung von Ideen und Erfi ndungen. Was für die Schrift gilt, gilt auch für die Technik (Kapitel 12). Eine wichtige Frage lautet, ob es bei technischen Innovationen so sehr auf das seltene Genie einzelner Erfinderpersönlichkeiten ankommt und ob eine solche Vielzahl schwer zu systematisierender kultureller Faktoren hineinspielt, daß allgemeine Gesetzmäßigkeiten nicht ermittelt werden können. Wie wir sehen werden, erleichtert die Vielfalt kultureller Faktoren paradoxerweise gerade die Aufdeckung solcher Gesetzmäßigkeiten des technischen Fortschritts. Indem die Landwirtschaft Bauern in die Lage versetzte, Überschüsse zu erzeugen, gestattete sie es bäuerlichen Gesellschaft en, sich handwerkliche Spezialisten zu leisten, die selbst keine Nahrung produzierten und ihre Energie statt dessen der Entwicklung neuer Techniken widmen konnten. Neben Schreibern und Erfindern ermöglichte die Landwirtschaft den Bauern überdies auch den Unterhalt von Politikern (Kapitel 13). Bei umherziehenden Scharen von Jägern und Sammlern herrschen vergleichsweise egalitäre Zustände, und die Politik beschränkt sich auf das Territorium der jeweiligen Gruppe sowie auf wechselnde Allianzen mit Nachbargruppen. Mit dem Aufk ommen seßhafter, Nahrung produzierender, dichter Populationen ging der Aufstieg von Fürsten, Königen und Bürokraten einher. Bürokratische Apparate waren nicht nur die Voraussetzung für die Ausübung der Herrschaft über große, dicht besiedelte Gebiete, sondern auch für den Unterhalt stehender Heere, die Aussendung von Flotten zur Erkundung ferner Länder und zum Organisieren von Eroberungskriegen. Teil IV (»Reise um die Erde in fünf Kapiteln«, Kapitel 14–18) wendet die in Teil II und III gewonnenen Erkenntnisse auf jeden der Kontinente sowie einige wichtige Inseln an. Gegenstand von Kapitel 14 ist die Geschichte Australiens und der großen Insel Neuguinea, die einst mit dem australischen Festland verbunden war. Als Heimat von Kulturen, die bis in die Neuzeit auf einfachstem technischem Stand verharrten, und als einziger Kontinent, der die Landwirtschaft nicht eigenständig hervorbrachte, ist Australien für Theorien über interkontinentale Unterschiede zwischen menschlichen Kulturen ein entscheidender Prüfstein. Wir werden sehen, warum australische Aborigines Jäger und Sammler blieben, während selbst im benachbarten Neuguinea die meisten Stämme zur Landwirtschaft übergingen. In Kapitel 15 und 16 werden die Entwicklungen in Australien und Neuguinea in eine Betrachtung der Gesamtregion einschließlich des ostasiatischen Festlands und der Pazifikinseln einbezogen. Der Aufstieg der Landwirtschaft in China war Auslöser mehrerer umfassender prähistorischer Ausbreitungsbewegungen von menschlichen Populationen, kulturellen Merkmalen oder beidem zugleich. Eine fand in China selbst statt und brachte das politische und kulturelle Phänomen Chinas hervor, wie wir es heute kennen. Eine andere Bewegung hatte zur Folge, daß Jäger- und Sammlerpopulationen in nahezu dem gesamten südostasiatischen Raum verdrängt wurden; an ihre Stelle traten bäuerliche Einwanderer, deren ursprüngliche Heimat im Süden Chinas lag. Eine dritte Ausbreitungsbewegung, die austronesische Expansion, führte in ähnlicher Weise zur Verdrängung der Jäger- und Sammlerpopulationen auf den Philippinen und in Indonesien; während dabei selbst die entlegensten Inseln Polynesiens besiedelt wurden, gelang es nicht, Australien und den größten Teil Neuguineas zu kolonisieren. All diese Kollisionen von ostasiatischen und pazifischen Völkern sind für das Studium der Weltgeschichte von doppeltem Interesse: Zum einen führten sie zur Entstehung von Ländern, in denen heute ein Drittel der Weltbevölkerung lebt und die immer mehr wirtschaftliche Macht auf sich vereinen. Zum anderen eignen sie sich besonders gut als Beispiele, die das Verständnis der Geschichte von Völkern in anderen Regionen der Welt erleichtern. Kapitel 17 wendet sich erneut dem Problem aus Kapitel 2 zu, der Kollision von Europäern und amerikanischen Indianern. Eine Zusammenfassung des Geschichtsverlaufs in der Neuen Welt und im westlichen Eurasien in den letzten 13 000 Jahren verdeutlicht, warum die Eroberung Amerikas durch Europäer lediglich den Höhepunkt zweier langer, zumeist getrennter Entwicklungen bildete. Entscheidende Aspekte der unterschiedlichen Entwicklung waren insbesondere die auf jedem Kontinent vorkommenden Pflanzen und Tiere, Krankheitserreger, die Zeitpunkte der Besiedlung, die Ausrichtung der Kontinentalachsen und die ökologischen Barrieren. Kapitel 18 handelt schließlich von der Geschichte Afrikas südlich der Sahara, die verblüff ende Ähnlichkeiten, aber auch Unterschiede zur Geschichte der Neuen Welt aufweist. Die gleichen Faktoren, welche die Begegnungen zwischen Europäern und Afrikanern prägten, bestimmten auch das Zusammentreffen mit den indianischen Gesellschaften Nord- und Südamerikas. Bei jedem dieser Faktoren gab es jedoch auch Unterschiede zwischen Afrika und Amerika. Sie führten dazu, daß die europäischen Eroberungszüge, außer im äußersten Süden des Kontinents, keine umfassende beziehungsweise dauerhaft e weiße Besiedlung Afrikas südlich der Sahara zur Folge hatten. Von nachhaltigerer Bedeutung war eine umfangreiche Bevölkerungsverschiebung, die sich innerhalb Afrikas abspielte: die Expansion der Bantu- Völker. Sie hatte, wie wir sehen werden, in vieler Hinsicht gleiche Ursachen wie die Ereignisse in Cajamarca, Ostasien, auf den Pazifikinseln, in Australien und Neuguinea. Ich hege nicht die Illusion, daß es mir gelingen könnte, in wenigen Kapiteln die Geschichte der letzten 13 000 Jahre auf allen Kontinenten zu erklären. Das würde sicher den Rahmen eines einzelnen Buchs sprengen, selbst wenn alle Fragen geklärt wären, was nicht der Fall ist. Es kann hier deshalb allenfalls darum gehen, einige Konstellationen von Umweltfaktoren aufzuzeigen, die, wie ich meine, die Antwort auf Yalis Frage zum großen Teil beinhalten. Die Beantwortung noch off ener Fragen bleibt Aufgabe für die Zukunft . Im Epilog werden unter der Überschrift »Die Zukunft der Geschichte als Naturwissenschaft « einige dieser offenen Fragen umrissen, beispielsweise das Problem der Unterschiede zwischen verschiedenen Teilen Eurasiens, die Rolle kultureller Faktoren, die nicht mit der Umwelt zusammenhängen, sowie die Rolle von Individuen in der Geschichte. Die vielleicht größte ungelöste Aufgabe ist die Etablierung der Geschichtswissenschaft als historische Naturwissen schaft neben anerkannten Disziplinen wie Evolutionsbiologie, Geologie und Klimatologie. Die Erforschung der Menschheitsgeschichte wirft zweifellos große Schwierigkeiten auf, aber manche davon sind durchaus jenen vergleichbar, mit denen auch in den anerkannten historischen Naturwissenschaft en gerungen werden muß. Deshalb könnten sich einige der in diesen Bereichen entwickelten Methoden auch in der Geschichtswissenschaft als nützlich erweisen. Ich hoffe, daß ich Sie, liebe Leser, schon jetzt überzeugen konnte, daß Geschichte alles andere ist als eine langweilige Aneinanderreihung von Fakten, wie viele glauben. Daß es in der Geschichte allgemeine Verlaufsmuster gibt, steht außer Frage, und die Suche nach Erklärungen ist ebenso lohnend wie spannend.