Josef Mengeles Zeit in Frankfurt
Die Doktorarbeit des Todesengels
21.01.2014 ·
Josef Mengele wurde 1938 an der Frankfurter Goethe-Universität promoviert. Am Institut für Rassenhygiene betrieb der spätere KZ-Arzt von Auschwitz erbbiologische Studien.
Dass Papier ist vergilbt, die Ecken sind abgegriffen. „Universitäts-Institut für Erbbiologie und Rassenhygiene Frankfurt am Main“ steht oben auf dem Deckblatt. Und darunter: „Sippenuntersuchungen bei Lippen-Kiefer-Gaumenspalte“. Ein Wälzer, der die Vererbbarkeit jener Missbildung belegen soll, die früher auch Hasenscharte genannt wurde. Eine Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Medizinischen Fakultät der Johann Wolfgang Goethe Universität Frankfurt, vorgelegt im Juni 1938. Verfasst hat sie ein gewisser Josef Mengele aus Günzburg an der Donau. Der spätere KZ-Arzt und „Todesengel von Auschwitz“. Jener Mann, der im „Dritten Reich“ Versuche an Zwillingen vornahm und kistenweise Augäpfel toter Kinder nach Berlin verschickte.
Groß feiert die Universität in diesem Jahr ihr hundertjähriges Bestehen. Zu ihrer Geschichte gehört die Gründung im Jahr 1914, die vor allem jüdischen Stiftern zu verdanken war. Dazu gehören aber auch die Verstrickungen während der NS-Zeit, die bis ins Vernichtungslager Auschwitz reichten. Denn der berüchtigte SS-Arzt Mengele, dessen akademische Biografie bisher meist nur mit der Ludwig-Maximilians-Universität München in Verbindung gebracht wurde, arbeitete auch in der Stadt am Main und wurde dort promoviert.
„Nie vertuscht“, aber nicht weithin bekannt
„Frankfurt ist nicht nur Goethe, sondern auch Mengele“, sagt Benjamin Ortmeyer, Professor am Institut für Allgemeine Erziehungswissenschaft der Goethe-Universität und Leiter der Forschungsstelle NS-Pädagogik, in der die Universität und das Fritz-Bauer-Institut kooperieren. Dass in dem heute zum Westend-Campus der Universität gehörenden Poelzig-Bau der IG-Farben-Konzern seinen Sitz hatte, der das Lager Monowitz in Auschwitz betrieb und das Zyklon B für die Gaskammern herstellte, gehört zur bekannten Historie des Ortes. Dass jedoch Mengele an der Universität wirkte, ist zwar in der Forschung bekannt „und auch nie vertuscht worden“, sagt Ortmeyer, „aber im kollektiven, öffentlichen Bewusstsein und Gedächtnis ist das nicht verankert“.
Das will die Forschungsstelle für NS-Pädagogik ändern. Sie beginnt am 27. Januar, dem Holocaust-Gedenktag, mit einer Ringvorlesung, die sich in vier Vorträgen, über das ganze Jahr verteilt, nicht nur mit Mengele befasst, sondern auch mit dem nationalsozialistisch gesinnten Uni-Rektor Ernst Krieck, dem jüdischen Professor Ernst Kantorowicz und der Speyerschen Hochschulstiftung. „Täter und Opfer“, betont Ortmeyer. Er versteht das als Kontrapunkt zu den offiziellen Jubelfeiern der Uni. Der Professor will zeigen, „dass nicht alles Gold war in diesen 100 Jahren“.
Ein Teil der NS-Vergangenheit schlummert im Universitätsarchiv. Dort lagern noch immer die Personalakte Mengeles und seine Doktorarbeit. Darunter finden sich die Geburtsurkunde, ein vom ihm verfasster Lebenslauf, ein „Arier-Nachweis“ und Belege seiner Anstellung als Arzt. Das Material könne eingesehen werden, für Kopien sei es aber gesperrt, sagt Ortmeyer, der in den vergangenen Monaten akribisch Unterlagen und Fakten zusammengetragen hat.
Bis 1944 auf der Uni-Gehaltsliste
Daraus ergibt sich, dass Josef Mengele von Januar 1937 bis zu seiner Einberufung im Juni 1940 unter dem NS-Rassentheoretiker Otmar von Verschuer am Universitäts-Institut für Erbbiologie und Rassenhygiene an der Gartenstraße in Frankfurt beschäftigt war. Auf Gehalts- und Personallisten der Uni stand Mengele sogar noch bis 1944, also während er schon in Auschwitz war.
Zunächst arbeitete er als Medizinalpraktikant am Institut, später als Volontär und Stipendiat der Bad Nauheimer Kerckhoff-Stiftung. Im September 1937 erhielt er die „Bestallung“ als Arzt. Direktor Verschuer schlug Mengele im Mai 1938 für die Besetzung einer Assistentenstelle an seinem Institut vor, die er kurz darauf antrat. Wie Verschuer an das Kuratorium der Uni schrieb, nahm Mengele an amtsärztlichen Untersuchungen teil. „Besonders wertvolle Dienste leistet er bei den erb- und rassenbiologischen Begutachtungen zur Abstammungsprüfung“, schreibt der Institutschef.
Durch das Raster der Wahrnehmung
Udo Benzenhöfer, Direktor des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin am Universitätsklinikum, hat sich ausführlich mit Mengele und seiner Frankfurter Zeit befasst und dazu im „Hessischen Ärzteblatt“ eine medizinhistorische Abhandlung veröffentlicht. Er bestätigt, dass so manches durch das Raster der öffentlichen Wahrnehmung gefallen ist: „Viel wurde über Josef Mengele geschrieben. Es überrascht deshalb ein wenig, dass im Bezug auf zahlreiche biographische Details noch immer Unklarheit herrscht.“
Mit Hilfe der Originalquellen im Uni-Archiv hat er die Doktorarbeit Mengeles unter die Lupe genommen. Das abstruse Werk erhielt 1938 die Note „summa cum laude“. 17 Probanden aus Frankfurt und Umgebung wählte der Doktorand unter 110 Patienten der Chirurgischen Unfallklinik Frankfurt aus. Anhand dieser Patienten stellte er Familienuntersuchungen an - bei 1222 Menschen. „583 davon besuchte Mengele persönlich“, so Benzenhöfer. Auf Umwegen und eher willkürlich kam er dann zu der Bewertung, dass 13 der 17 Probanden erblich „belastet“ seien.
Mengele blieb bis 1940 in Frankfurt. Die Uni entsprach der Bitte Verschuers um eine Vertragsverlängerung bis 1942. Am 15. Juni 1940 jedoch wurde Mengele eingezogen, in eine Sanitätseinheit nach Kassel. Später meldete er sich zur SS, von Mai 1943 an war er in Auschwitz tätig.
Nachkriegsstreit über die Promotion
Nach dem Krieg ging die Goethe-Universität laut Benzenhöfer und Ortmeyer gegen den berüchtigten Mediziner vor. Im „Hinblick auf seine politische Haltung und Vergangenheit“ enthob sie Mengele im Juli 1945 schriftlich seines Amtes als Arzt und sperrte die Bezüge. Vor allem die Promotion sorgte später für Auseinandersetzungen. 1961 entzog die Hochschule dem unterdessen nach Südamerika Geflüchteten den Doktortitel „wegen seiner als Arzt im Konzentrationslager Auschwitz begangenen Verbrechen“. Dagegen wehrte sich der eitle Mengele sogar aus seinem Versteck heraus - mit Hilfe von Anwälten und bundesdeutschen Gerichten. Der Frankfurter Anwalt Fritz Steinacker, Verteidiger vieler Nazi-Verbrecher und Vater des ehemaligen Kirchenpräsidenten der Evangelischen Kirche Hessen und Nassau, Peter Steinacker, übernahm 1961 die juristische Vertretung des KZ-Arztes. Mengeles zweite Frau Marta „hatte das veranlasst“, berichtet Ortmeyer. Drei Jahre dauerte das Verfahren. Ende 1964 verkündeten die Rektoren der Frankfurter und auch der Münchner Universität, wo er ebenfalls promoviert worden war, gemeinsam, dass Josef Mengele nicht mehr berechtigt sei, einen Doktorgrad zu führen.
Ortmeyer ist selbst über die Fülle der nun zu Tage geförderten Details überrascht. „Wir sind ganz nah dran. Mengele war hier, und darüber sollten wir als Forschungsstelle mit den Studierenden reden.“ Zusammen mit Micha Brumlik, Kind jüdischer Flüchtlinge, Erziehungswissenschaftler und emeritierter Professor der Goethe-Universität, hat er die Ringvorlesung konzipiert. Brumlik wusste, „dass Mengele in Frankfurt gearbeitet hat. Das ist mir immer wieder mal untergekommen, aber ich habe die Bedeutung unterschätzt, die dem zukommt.“ Er hält es für exemplarisch, „wie auch eine ursprünglich von jüdischen Stiftern gegründete, liberale Universität nazifiziert worden ist“.
Brumlik glaubt, dass ohne die Ringvorlesung dieser Teil der Geschichte womöglich im offiziellen Jubeljahr untergegangen wäre. Die Uni-Leitung habe die Vortragsreihe ohne weiteres akzeptiert, „sie will das Jubiläum aber lieber als Sympathiewerbung nutzen“. Da passt Mengele nicht so gut hinein. Brumlik hofft jedoch, dass gerade Studenten und junge Dozenten sich der historischen Dimension bewusst werden. „Es gibt immer weniger Sensibilität für die Belastung der deutschen Wissenschaft“, sagt er.
Die dunkelste Seite
Tanja Brühl, Vizepräsidentin der Goethe-Universität, versichert, dass die Hochschule auch „die dunkelsten Seiten ihrer hundertjährigen Geschichte in den Blick nehmen will“. Am Institut für Erbbiologie und Rassenhygiene sei als „Forschung bezeichnet worden, was keine Forschung war“. Brühl ist sich sicher, dass es nach den Jubiläumsfeiern unter Studenten und Dozenten bekannter sein wird als bisher, dass Mengele an der Gothe-Uni tätig war. „Über Personen finden Studierende leichter Zugang. Geschichte wird begreifbarer.“ Brühl will beim Auftakt der Ringvorlesung dabei sein - auch offiziell als Vertreterin des Präsidiums. Das sei ihr wichtig, sagt sie.
Oberbürgermeister Peter Feldmann, dessen jüdischer Vater selbst im Fachbereich Erziehungswissenschaften gearbeitet hat, hebt hervor, dass die Goethe-Universität „als Ort des kritischen Denkens berühmt geworden ist“. Für ihn ist es deshalb selbstverständlich, „dass die Vergangenheit in allen Facetten aufgearbeitet wird. Gerade eine Stiftungsuniversität, die auch durch den Einsatz vieler jüdischer Mitbürger entstanden ist, hat eine besondere Verantwortung.“
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