684
"Eine Kupplerin zu töten ist in unserer hochheiligen Justiz kein Verbrechen."
Rassul tötet - Dostojewskis Verbrechen und Strafe in Dauerschleife im Schädel - eine Geldverleiherin und Kupplerin, die seine Verlobte Suphia angestellt hat und ihre Mädchen auch als Nutten ausnutzt, um sie zu befreien und ihr Geld zu stehlen, damit er seine Familie und der Suphias (in beiden ist der Vater verstorben) aushalten zu können. An Geld und Schmuck kommt er jedoch nicht, da eine Frau in blauer Burka, deren Identität nie aufgedeckt wird, seiner Mordtat in die Quere kommt und Rassul fliehen muss.

Von Schuld geplagt verstummt er, entfremdet sich von seiner Familie und Suphia, versumpft in Haschischhöhlen, setzt einem Wächter des Mausoleums von Schah-e Do Schamschera Wali eine Pistole an die Schläfe, weil er Suphia als Hure vertrieben hat und stellt sich schließlich selbst der Staatsanwaltschaft und dem Gericht, um seine Schuld zu sühnen. Dort findet er seine Stimme wieder.

Zunächst wollen sie ihn davonjagen (siehe Eingangszitat), doch dann beginnt die Scharia-Mühle des postsowjetischen Afghanistan der 90er Jahre zu mahlen. Der Richter sieht Sippenhaftung, weil Rassuls Vater Kommunist war, und verhängt folgende Strafe:
"Morgen schwärzt ihr ihm das Gesicht, bevor ihr ihn öffentlich bestraft: Ihr schlagt ihm wegen Diebstahls die rechte Hand ab, dann hängt ihr ihn! Ihr peitscht die dreckige Leiche aus, als Lektiion für alle: Das ist die Strafe, die vorgesehen ist für die Überlebenden des alten Regimes, die Unheil und Verderben verbreiten!"
Als sich ein Warlord und sein Cousin für ihn einsetzen, folgt ein kafkaesk skurriler Streit um Rechtsauslegung der Scharia.
"Entweder bist du naiv, oder du hast nie in diesem Land gelebt, oder du weißt nichts über den Islam und seine fiqh. Du weißt, dass das Verbrechen, jemanden zu töten, der Scharia zufolge in den Bereich der qisas fällt: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Das ist alles. Die Entscheidung liegt bei der Familie des Opfers. Du als Kommunist hingegen bist ein fitna, ein Abtrünniger. Bei dir kommen die hudud-Gesetze, die Grenzstrafen, zur Anwendung, die sich vom göttlichen Recht ableiten. Du bist nicht, was du bist. Du bist nur, was deine Eltern sind, dein Stamm."
Und bezüglich des Mordes an der Vermieterin, Pflandleiherin und Zuhälterin ist Parwaiz, der Sicherheitswarlord von Kabul, noch deutlicher:
"Mord ist ein Verbrechen, wenn das Opfer unschuldig ist. Diese Frau musste bestraft werden. Sie hat deine Familie, deiner namus, unrecht getan. Sie hat dich entehrt. Was du getan hast, nennt man Rache. Niemand hat das Recht, dich als Mörder zu verurteilen."
Das Ende des Romans wird schließlich undurchsichtig. Parwaiz erhängt sich und hinterlässt eine Notiz an seine Anhänger: "Trauert um mich, aber rächt mich nicht." Er will den Wahnsinn der Scharia mit seinem Tod brechen.

Der Richter wird von einer nicht genannten Autorität seines Amtes enthoben, das Urteil gegen Rassul scheint nichtig zu sein. Er unterhält sich am Ende mit dem Gerichtsdiener, der ihn fragt, warum er das Geld nicht genommen habe.

Rahimi schreibt eine sehr dringliche Anklage gegen die Praktiken der Scharia und den Wahnsinn der islamischen Fanatiker, die Frauen in blaue Burkas zwingt, auch wenn er diesem Faktum durch die unerkannte Frau einen klassischen Krimi-Aspekt entlockt, der jedoch nie aufgelöst wird.

Infolinks im Spoiler
Der Autor:
Wikipedia: Atiq Rahimi
https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/im-gespraech-exilautor-atiq-rahimi-afghanistan-ist-wie-star-wars-11765046.html (Interview)

Verlagsinfo:
https://www.ullstein-buchverlage.de/nc/buch/details/verflucht-sei-dostojewski-9783548611631.html

Rezensionen:
https://www.deutschlandfunkkultur.de/das-verlorenste-land-der-welt.950.de.html?dram:article_id=141320
https://www.tagesspiegel.de/kultur/bringt-dieses-spiel-zu-ende/6624752.html
https://de.qantara.de/inhalt/atiq-rahimi-verflucht-sei-dostojewski-schuld-ohne-suehne