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1726 veröffentlicht und über die Jahrhunderte beinahe zu einem Kinderbuch entschärft, war der Roman ursprünglich eine bitterböse Satire auf die englische, ja sogar die menschliche Gesellschaft.

Ich fange mit dem vierten Buch an, das Gulliver (englisch ein Sprachspiel mit dem Adjektiv "gullible" und übersetzbar mit "Naivling") in ein Reich führt, das von intelligenten Pferden beherrscht wird, in das vierbeinige Bioinvasoren namens "Yähu" (im Original "Yahoo") eingdrungen sind, beherrscht wird.

Die Yähus sind Menschen auf beinahe affenartiger Stufe, die auf vier Beinen laufen und all die Bösartigkeit, die Swift den Menschen in den vorausgehenden drei Büchern zuschreibt (egal ob er die englische Gesellschaft anspricht, ein Miniaturvolk oder ein Riesenvolk präsentiert), bereits in ihrem Wesen mit sich bringen. Die Pferde haben die Yähus gezähmt, nutzen sie als Arbeitstiere und ihre Haare als Grundlage für Webstoffe, aber aufgrund ihrer Bösartigkeit beschließen die Pferde die Yähus zu sterilisieren, damit sie aussterben.

In den drei Büchern davor spiegelt Swift die englische Gesellschaft ausschließlich von ihren negativen Seiten:

- Die Liliputgesellschaft hält Augenausstechen für eine milde Strafe
- Die Gesellschaft der Riesen setzt Gulliver in einer Schachtel am Meer aus
- Die Gelehrtengesellschaft der schwebenden Insel ruiniert funktionierende Wirtschaften

Außer in der Pferdegesellschaft der Houyhnhnms herrscht nur Neid, Absolutismus, Missachtung jeglicher Rechte von Einzelnen und totale Unfähigkeit. Swift sieht den Menschen als stinkendes, triebhaftes, unvernünftiges Wesen, egal in welcher gesellschaftlichen Struktur es lebt.

Selbst Gulliver kommt sehr schlecht weg: Er verlässt als gelernter Wundarzt andauernd Frau und Familie, um Jahre lang durch verschiedenste Weltgegenden zu reisen. Und als er nach der vierten Reise zurückkommt, verweigert er ein Jahr lang jeglichen Kontakt, weil ihn seine Frau und Kinder an Yähus erinnern.

Misanthropischer geht es fast nicht.

Online zu lesen hier:
http://gutenberg.spiegel.de/buch/gullivers-reisen-7565
http://www.zeno.org/Literatur/M/Swift,+Jonathan/Roman/Gullivers+Reisen

Einige interessante Textpassagen im Spoiler

Die Textmaschine (in Lagado, der von der Gelehrteninsel beherrschte Hauptstadt):

„Der erste Professor, den ich sah, befand sich in einem großen Zimmer und war von vierzig Schülern umgeben. Nach der gewöhnlichen Begrüßung bemerkte er, daß ich interessiert einen Rahmen betrachtete, der den größten Teil des Zimmers in Länge und Breite ausfüllte, und sagte: Ich wundere mich vielleicht, daß er sich mit einem Projekt beschäftige, die spekulativen Wissenschaften durch praktische und mechanische Operationen zu verbessern. Die Welt werde aber bald die Nützlichkeit dieses Verfahrens bemerken. Er schmeichelte sich mit dem Gedanken, daß eine höhere und edlere Idee noch nie aus dem Gehirn eines Menschen entsprungen sei. Ein jeder wisse, wieviel Mühe die gewöhnliche Erlernung der Künste und Wissenschaften bei den Menschen erfordere; er sei überzeugt, durch seine Erfindung werde die ungebildetste Person bei mäßigen Kosten und bei geringer körperlicher Anstrengung Bücher über Philosophie, Poesie, Mathematik und Theologie ohne die geringste Hilfe des Genies oder von Studien schreiben können.

Er führte mich an einen Rahmen, wo alle seine Schüler in Reihen aufgestellt waren. Der Rahmen enthielt zwanzig Quadratfuß und befand sich in der Mitte des Zimmers. Die Oberfläche bestand aus einzelnen Holzstücken von der Form eines Würfels, von denen jedoch einzelne größer als andere waren. Sie waren sämtlich durch leichte Drähte miteinander verbunden. Diese Holzstücke waren an jeder Fläche mit Papier überklebt, auf dem alle Worte der Landessprache in Konjugationen und Deklinationen, jedoch ohne alle Ordnung aufgeschrieben waren. Der Professor bat mich, achtzugeben, da er seine Maschine in Bewegung setzen wolle. Jeder Zögling nahm auf seinen Befehl einen eisernen Griff zur Hand, von denen vierzig am Rande befestigt waren. Durch eine plötzliche Wendung wurde die ganze Anordnung verändert. Dann befahl er sechzehn Knaben, die verschiedenen Zeilen langsam zu lesen, und wenn sie drei oder vier Worte herausgefunden hatten, die einen Satz bilden konnten, diktierten sie diese vier anderen Knaben, welche sie niederschrieben. Diese Arbeit wurde drei-oder viermal wiederholt. Die Maschine war aber so eingerichtet, daß die Worte bei der Umdrehung einen anderen Platz einnahmen, sobald das ganze Viereck sich von oben nach unten drehte.
Sechs Stunden mußten die Schüler täglich bei dieser Arbeit zubringen. Der Professor zeigte mir mehrere Folianten, die auf diese Weise aus abgebrochenen Sätzen gebildet waren und die er zusammenstellen wollte. Aus diesem reichen Material werde er einen vollständigen Inbegriff aller Wissenschaften und Künste bilden.“

Konversation mit Piktogrammen (in Lagado):

„Das Projekt des zweiten bezweckte die Abschaffung aller Wörter, und dies wurde als eine große Verbesserung der Gesundheit wie der Kürze betrachtet. Denn es ist klar, daß jedes von uns gesprochene Wort eine Verminderung unserer Lungen durch Abnutzung bewirkt, folglich auch die Verkürzung unseres Lebens zur Folge hat. Es wurde deshalb folgendes Auskunftsmittel angeboten: Da Worte allein in Zeichen der Dinge bestehen, sei es passender, wenn alle Menschen solche Auskunftsmittel bei sich herumtrügen, die ein besonderes Geschäft bezeichneten, worüber sie sich unterhalten wollten."

Dies wird auch heute von der Geschichtswissenschaft so gesehen:

„Auch seien keine Kriege so wütend und blutig und dauerten so lange wie die, welche durch Verschiedenheit der Meinungen erregt würden."

Sterilisation der Yähus durch die Houyhnhnms:

„Er hat mir auch unter anderem einen Gebrauch davon erzählt, wonach die Hauyhnhnms in ihrer Jugend verschnitten werden, um sie zahmer zu machen, und diese Operation ist leicht und sicher. Auch ist es ja keine Schande, von Tieren zu lernen; Fleiß lernt man von der Ameise, das Bauen von der Schwalbe« – so übersetze ich das Wort Leihanhh, obgleich dieser Vogel etwas größer ist als der erwähnte. »So läßt sich diese Erfindung bei den jüngeren Yähus anwenden, die ohnedies leichter zu behandeln und zu gebrauchen sind. Dadurch wird das ganze Geschlecht ohne Tötung aufhören."

Der Stolz als Kern allen Übels und Schlusswort des Romans:

„Die Hauyhnhnms, die unter der Herrschaft der Vernunft leben, haben nicht mehr Stolz auf ihre guten Eigenschaften als zum Beispiel ich, daß mir weder ein Arm noch ein Bein fehlt. Jedermann wird sich dessen wohl nicht rühmen, solange er nicht verrückt ist, obgleich der Mangel jener Glieder ihn unglücklich machen müßte. Ich verweile länger bei diesem Gegenstande, weil ich die Gesellschaft eines englischen Yähus auf irgendeine Weise weniger unerträglich zu machen wünsche, und deshalb bitte ich diejenigen, die auch nur einen Schein von diesem lächerlichen Gebrechen haben, mir in Zukunft vom Leibe zu bleiben."