Ther - Ordnung

Ther ist ein deutsch-österreichischer Historiker, der am Institut für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien arbeitet. Mit diesem Buch legt er einen vor allem auf Wirtschaftsdaten beruhenden Überblick der postkommunistischen Staaten von bis 2014 vor. Stilistisch etwas irritierend ist, dass er immer wieder Anekdoten aus dem persönlichen Leben in den Text einbaut, eine für ein wissenschaftliches Werk doch etwas ungewöhnliche Methode.

Hauptsächlich anhand des BIP und zum Teil von Arbeitslosenzahlen prüft Ther, inwieweit die die Umsetzung der durch den Washington Consensus von 1989 definierten neoliberalen Ziele umgesetzt wurden und welche Auswirkungen diese Umsetzung zeitigte.

Sein Ergebnis ist, dass die Rahmenbedingungen letztlich über den - auch sozial verträglichen - Erfolg der Maßnahmen entschieden. Am schlechtesten schnitten die Staaten ab, die einen Neoliberalismus ohne flankierende Maßnahmen durchsetzten, da sich keine neue Mittelschicht entwickeln konnte, Menschen verarmten und ausländische Investitionen (FDI) zu einem Gutteil nur zu dem Zweck getätigt wurden, um Gewinne abzuschöpfen: Es wurde zwar ein stetig steigendes BIP generiert, was sich jedoch nicht in der Einkommenshöhe niederschlug. Die Armut blieb hoch, die soziale Kluft wurde größer: vor allem zwischen Stadt und Land.

Am erfolgreichsten waren die Staaten, welche neoliberale Grundsätze unterhöhlten, indem der Staat weiterhin interventionistisch auftrat, durch Sozialsysteme und durch einheimische Förderung der Wirtschaft und Industrie. Musterbeispiel dafür ist Tschechien. Auch die Slowakei begann ihren wirklichen Erfolgsweg erst dann, als die zunächst radikalen neoliberalen Maßnahmen zurückgenommen wurden.

Auch waren die Staaten, die einen staatsintervenistischen Neoliberalismus fuhren, günstigere Voraussetzungen, die Krise von 2008/09 zu bewältigen. Polen zum Beispiel hatte als einziger Staat niemals einen Wirtschaftsrückgang, sondern immer ein steigendes BIP. Mit ein Grund war auch, dass sich in Staaten wie Polen oder Tschechien eine neue tragende Wirtschaftsschicht entwickeln konnte: Klein- und Mittelunternehmen (KMU). Damit gab es einen doppelten Effekt: unabhängig Erwerbstätige wie eine unternehmerische Mittelschicht hatten ausreichend Mittel, um weiterhin am Wirtschaftskreislauf teilnehmen zu können, sprich: sie hatten Kaufkraft.

In einem Musterstaat des unflankierten Neoliberalismus, Lettland, schlug die Krise voll zu. 2009 sank das BIP pro Kopf um 17 Prozent, zwischen 2009 und 2012 sank die Bevölkerung um 9 Prozent (Auswanderung, höhere Sterblichkeitsraten). Für mich sind das Kriegswerte (während des Zweiten Weltkriegs starben in Deutschland neun Prozent der Bevölkerung).

Positiv sieht Ther die finanzielle Intervention seitens der EU, sowohl durch das PHARE-Programm in den 1990er Jahren als auch die Transferleistungen nach Beitritt zur EU. Die Höhe der Leistungen überstieg die des Marshallplans und diese wurden hauptsächlich in die Infrastruktur bzw. in rückständige ländliche Gebiete investiert, dienten also den flankierenden Maßnahmen, die der Gesamtwirtschaft bzw. Bewohnern in wirtschaftlich armen Gegenden zugute kamen.

Interessant ist auch der Vergleich von Schlüsselstädten: Prag, Bratislava und Warschau überholten Berlin mit dem kaufkraftbereinigten BIP pro Kopf, und die von mir ermittelten Zahlen für 2017 zeigen, dass auch Wien überholt wurde. Wichtig ist die Gegenüberstellung zum durchschnittlichen Einkommen, wie sie Ther vornimmt: denn diese zeigt, dass das BIP pro Kopf nichts darüber aussagt, wie die Einkommensmöglichkeit der Bewohner ist. Die Einkommen in Berlin sind auch kaufkraftbereinigt höher als in Warschau, Prag oder Bratislava.

Insgesamt hätten mich tiefergehende Analsysen interessiert, so ist es ein Überblickswerk, das auch auf die Westinvestitionen in der DDR, Tschechoslowakei und Ungarn während der 1980er Jahre eingeht, die Ursachen des Zusammenbruchs des Sowjetsystems diskutiert und auch auf Russland und die Ukraine eingeht. Bulgarien und Rumänien werden am Rande gestreift. Dies erweckt den Eindruck, dass Ther nach persönlichem Interesse bzw. persönlicher Lebenserfahrung auswählt.

Abschließend geht Ther auf die Krisen in Südeuropa ein, wobei er sich auf Italien spezialisiert; auch hier, weil er in Italien einen Lehrauftrag hat. Griechenland und Spanien werden gestreift. Seine Conclusio: Die Erfahrungen in Ostmitteleuropa zeigen, dass für diese Länder ein unflankierter Neoliberalismus nicht die ideale Strategie wäre, sondern ein Transferprogramm, eine Unterstützung durch die EU. Er fragt sich, warum die für Ostmitteleuropa wichtige EU-Politik den südeuropäischen Ländern nicht gewährt wird.

Infolinks im Spoiler

Verlagsinfo:
https://www.suhrkamp.de/buecher/die_neue_ordnung_auf_dem_alten_kontinent-philipp_ther_42461.html

Rezensionen:
https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-21580
https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezension-philipp-ther-mit-dem-sonderzug-am-abgrund-entlang-13287923.html
http://www.sehepunkte.de/2015/01/26218.html
https://www.zeit.de/2014/41/philipp-ther-buch-osteuropa
https://www.vorwaerts.de/artikel/philipp-ther-analysiert-europas-neoliberale-ordnung

Washington Consensus:
Wikipedia: Washington Consensus

Wirtschaftswerte für europäische Regionen 2017:
https://ec.europa.eu/eurostat/documents/2995521/9618267/1-26022019-AP-DE.pdf/3997d4d9-4953-4ca6-9484-be0f41b4171b