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Robert Gerwarth - Hitler's Hangman

2 Beiträge ▪ Schlüsselwörter: Rezension, Nationalsozialismus, Holocaust ▪ Abonnieren: Feed E-Mail
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Robert Gerwarth - Hitler's Hangman

31.07.2020 um 01:52
Gerwarth

Der aus Berlin stammende Historiker Robert Gerwarth hat in Oxford promoviert und arbeitet derzeit an der Universität Dublin. Seine 2011 auf Englisch erschienene Biographie zu Reinhard Heydrich schließt mit seinen aus dem tschechischen Nationalarchiv ausgegrabenen Dokumenten durchaus eine Lücke in der NS-Forschung, da Heydrich selbst, obwohl er in seinen Funktionen Hauptverantwortlicher der rassistsichen und mörderischen Radikalisierung und Organisater der Wannseekonferenz war, nie so richtig im Fokus der Forschung stand.

Gerwarth beginnt mit dem Attentat in Prag, bleibt danach jedoch im für Biographien klassischen chronologischen Erzählen. So ist der Beginn seiner Herkunft gewidmet, zurückgehend auf die Großeltern und dem Entkräften des Blödsinns des Gerüchts, er hätte durch seine Brutalität eine jüdische Herkunft kompensiert. Sein Vater war Komponist und Inhaber einer Elite-Musikschule in Halle/Saale, der 1904 geborene Heydrich war musikalisch begabt (ein Hobby, das er neben seinen sportlichen Aktivitäten bis zu seinem Tod durchgezogen hat), wollte ursprünglich Chemiker werden, schlug aber eine Karriere in der Marine ein, wo er aber wegen Heiratsschwindels 1931 entlassen wurde. Dies war der Bruch in seinem Leben.

Seine Verlobte (glühende Nationalsozialistin wie ihre ganze Familie) öffnete 1931 den Kontakt zu Himmler, und Heydrich wurde beauftragt, eine Sicherheitsdienst der SS (SD) aufzubauen, was er akribisch und brutal (inklusive Teilnahme an den Morden an SA-Mitgliedern im Juni 1934) durchzog. Heydrichs Persönlichkeit verschmolz mit seiner Aufgabe, und bis zu seinem Tod können seine Grundsätze auf wenige Punkte reduziert werden:

- Der Einfluss der SS muss in Partei und Staat durchgehend erhöht werden
- Der SD der SS muss über andere Parteiorganisationen, Polizei und Militär/Wehrmacht stehen
- Konkurrenz und Meritokratie bei seinen Untergebenen: Brutalität ist karrierefördernd
- Bekämpfung der Feinde der Partei und des Staats: Oppositionelle, Kommunisten, Juden
- Durchsetzung der germanischen Rasse als Herren Europas
- Durchsetzung eines von ausschließlich Germanen besiedelten Herrschaftsraums
- Judenfreiheit Europas (verschiedene Pläne bis hin zur physischen Vernichtung)
- Vertreibung und Vernichtung der Slawen aus Europa
- Integration der als rassisch germanisch bestimmten Bevölkerungsteile in slawischen Siedlungsgebieten

Das große Ziel, den SD als staatliche Organisation anerkannt zu bekommen, hat er nicht geschafft. Selbst im Reichssicherheitshauptamt (RSHA), das 1939 gegründet wurde und er leitete, war strukturell ein Zwitter: Der SD wurde keine Staatsorganisation, sondern wurde weiterhin von der Partei bezahlt, was Heydrich bedauerte, da über den Staat mehr Budget hätte lukriert werden können.

Nichtsdestotrotz begann mit dem Überfall auf Polen Heydrich seine Einsatzgruppen (eine Mischung aus SS und Polizei) zusammenzustellen, die hinter der Front wüteten und erschossen, was nicht bei Drei auf den Bäumen waren (Polen, Juden, Widerständler, Kommunisten, ...). Die Wehrmacht war nicht einig, wie dies zu bewerten ist. Es gab offenen Protest, aber auch Befürwortung. Folge war aber, dass die Wehrmacht sich durchsetzen konnte, dass in den Westfeldzügen von 1940 keine mordenden Einsatzgruppen hinterherzogen, auch wurde nach der Besetzung Frankreichs, Belgiens, der Niederlande und Dänemarks die SS erfolgreich blockiert. Erst in Norwegen konnte sie wieder Fuß fassen. Heydrich war permanent außer sich vor Wut gegenüber der Wehrmacht und nahm - zur Abreaktion? - als Jagdflieger am Luftkampf auf England teil (selbst beim Russlandfeldzug flog er Einsätze und wurde sogar abgeschossen).

Mit Beginn des Russlandfeldzugs war Heydrich wieder voll im Geschehen, seine Einsatzgruppen wüteten wie Berserker, binnen kürzester Zeit wurde wohl über eine Million Menschen erschossen, darunter Unmengen an Juden. Für die Westeuropäischen Juden wurden verschiedenste Pläne entwickelt, vom Madagaskarplan (war logistisch eine Wahnidee) bis hin zur Vertreibung nach Sibirien (Tod durch Arbeit am Aufbau der Infrastruktur im germanischen "Garten Eden"). Vorgehensweise und Plan gegenüber der jüdischen Bevölkerung war:

- Juden in der Sowjetunion werden erschossen
- Juden in Polen werden ghettoisiert und nach Osten verschoben (Tod durch Arbeit)
- Juden in West- und Zetraleuropa werden nach Osten verschoben (Tod durch Arbeit)
- Arbeitsunfähige Juden werden dem Tod zugeführt

Das mit dem Verschieben hat bereits 1941 nicht so geklappt, da sich die NS-Statthalter in wo auch immer sich gegen den Zustrom von Juden gewehrt haben. Sie wollten selbst "judenfrei" sein. Der Platz wurde eng. Einerseits sollten Deutsche bzw. Deutschstämmige aus den Gebieten aus der Sowjetunion in Westpolen angesiedelt werden, andererseits sollten deportierte Juden aus dem Westen dort vorübergehend abgeladen werden, und dann gab es noch die riesige Anzahl an polnischen Juden in den Ghettos. Dies war ab Herbst 1941 die Situation, in der Heydrich die ersten Massenmordmethoden Abseits von Erschießungen austesten ließ (Vergasungs-LKWs, stationäre Vergasung mit Dieselabgasen, Testläufe mit Zyklon-B in Auschwitz I). Bei Testläufen waren übrigens immer sowjetische Kriegsgefangene die Opfer.

Wie Gerwarth durch Dokumente überzeugend darlegt, war die Wannseekonferenz noch nicht die Entscheidung über die Ermordung aller elf Millionen Juden gefallen, es sollten einige überleben, die als Arbeitssklaven eingesetzt werden können, aber dies ist ja auch aus späteren Zeiten bekannt, als 1944 in Auschwitz immer noch Selektionen durchgeführt wurden. Für mich ist diese Konferenz immer noch die Überschreitung des Rubicon: Heydrichs SS und RSHA integriert den Staat in die systematische Ermordung der euroäischen Juden.

Im September 1941 wurde Heydrich (zusätzlich zur Leitung des RSHA) Statthalter im Protektorat Böhmen und Mähren. Seine kurzfristigen Ziele: Optimale Ausbeutung der Kriegswirtschaft, Germanisierung, Brechung des Widerstands, Deportierung der Juden. Langfristiges Ziel: Böhmen und Mähren wird rassisch germanisch, den rassisch "minderwertigen" Tschechen blüht ein Schicksal ähnlich wie den Juden: Tod durch Arbeit und letztlich physische Annihilierung.

Am 27. Mai 1942 schließlich verübt ein von den Briten eingeflogenes tschechisches Kommando ein Attentat auf Heydrich, dem er einige Zeit später erliegt.

Die Reaktionen darauf ist die Entfesselung des Mordpotenzials der NS-Herrschaft. Dass als Reaktion im Ort Lidice und später in Lezáky sämtliche männliche Bevölkerung ermordet wurde, ist bekannt. Großbritannien und Frankreich erklären das Münchner Abkommen für Null und Nichtig. In Polen wird die "Aktion Reinhardt" gestartet: die Ermordung aller jüdischen Polen. Überzeugend legt Gerwarth anhand von Dokumenten und Indizienketten dar, dass Hitler persönlich an Himmler den Auftrag gegeben hat, dass bis zum Jahresende 1942 sämtliche Juden im deutschen Herrschaftsbereich zu töten sind. Die Slowakei war der erste unabhängige Staat, der mit Deutschland einen Vertrag zur Auslieferung aller Juden an Deutschland abgeschlossen hat. Diese Vernichtungspolitik wurde beinahe bis Kriegsende durchgezogen.

Eine Biographie, die Kapitel für Kapitel immer beklemmender wird.


Verlagsinfo (Archiv-Version vom 20.09.2020)
Kurze Leseprobe

Interviews:
SPIEGEL
media-mania.de
Süddeutsche Zeitung

Rezensionen:
Perlentaucher (Überblick)
ORF (Archiv-Version vom 23.06.2021)
Deutschlandfunk Kultur
H/Soz/Kult (Englisch)
Literaturkritik
WELT
Zukunft braucht Erinnerung (Archiv-Version vom 05.11.2016)
Deutschlandfunk
FAZ


Interview der Cohen Film Collection mit Robert Gerwarth über Heydrich bzw. den von Bertolt Brecht und Fritz Lang nach dem Tod Heydrichs gedrehten Film Hangmen Never Die:

Youtube: Story of a Hangman. Robert Gerwarth on Reinhard Heydrich - Featurette
Story of a Hangman. Robert Gerwarth on Reinhard Heydrich - Featurette
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Robert Gerwarth - Hitler's Hangman

31.07.2020 um 08:52
Sehr interessanter Beitrag, danke für das Erstellen des selbigen.


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