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Giuliano da Empoli ist Italiener, Schweizer und Franzose und war als Politikberater von Francesco Rutelli und Matteo Renzi tätig. Umtriebig ist er auch im Kulturbereich in Florenz sowie bei der Biennale von Venedig sowie Gründer des Think Tank Volta. In diesem 2019 erschienenen Buch setzt er sich mit den Leuten auseinander, die im Hintergrund von Populisten die technischen Fäden für Propaganda im Internet ziehen. Wie mit Big Data umgegangen wird, ist zum Teil unglaublich.

Ausgangspunkt ist die Fünf-Sterne-Bewegung in Italien, die nach Empoli nicht das Kind von Beppe Grillo ist, sondern von Gianroberto Casaleggio, der alle Fäden im Hintergrund zieht und nach dessem Tod 2016 sein Sohn Davide Casaleggio. Grillo sei nur "Erster Avatar". Von Beginn an war die Bewegung auf eine Webseite konzentriert, deren Programmierung nicht offengelegt war und dessen Mechanismus darauf ausgelegt ist, immer auf Themen sowie Standpunkte aufzuspringen, die der Mehrheitsmeinung entsprochen haben. Nach Davide Casaleggio sind alle Teilnehmer der Bewegung Ameisen in einem Ameisenhaufen, die vom Gesamten nichts wissen. Das Gesamte wird von der Zentrale gesteuert, deren Inhalte wiederum von Algorithmen entschieden werden. Einziges Ziel: Macht. So sei auch der Koalitionswechsel von Rechts nach Links nur durch das Machtstreben sowie der Entscheidung durch Algorithmen zu erklären und nicht ideologisch erklärbar. Intern sei die Macht auf Casaleggio diktatorisch konzentriert, auch sei der Begriff Fünf-Sterne-Bewegung eine eingetragene Marke auf Grillo, die nur nach Genehmigung verwendet werden darf. Auch die Struktur als Bewegung und nicht als Partei ermögliche, dass Abweichler:innen mit einem Klick aus dem Portal der Bewegung entfernt werden können, sowas wie ein Parteischiedsgericht brauche es nicht. Ausgeweitet wurde das Grillo-Casaleggio-Imperium ab 2012 mit Internet-Fernsehen wie mit einem Nachrichtenportal, die Anhänger mussten nicht mehr aus der Sterne-Blase sich entfernen, um umfassend im Sinne der Chefitäten informiert zu sein.

Unfassbar ist, wie die Fünf-Sterne-Bewegung von Casaleggio mit ihren politischen Avataren umspringt. Sämtliche Parlamentsabgeordnete müssen in einem Vertrag unterschreiben, dass sie nur Instrument des zentralen Willens seien und den Regeln der Bewegung zustimmen. Auch müssen sie ihre privaten Passwörter der persönlichen Konten auf Social-Media-Plattformen sowie ihrer E-Mail-Konten übergeben, damit die Zentrale absolute Kontrolle über sie hat. Als Virginia Raggi Bürgermeisterin von Rom wurde, musste sie alle politischen Entscheidungen wie juristischen Expertisen vor Umsetzung der Zentrale vorlegen. Ihre Kommunikation durfte sie nicht über die Webseite der Stadt Rom laufen lassen, sonder ausschließlich über beppegrillo.it. Bei Nichtbeachtung der Regeln war eine Vertragsstrafe von 150.000 Euro vereinbart.

Bewegungsintern wird die von den beiden Casaleggio (Vater und Sohn) gegründete Organisation Association Rousseau genutzt, welche ausschließliche Veröffentlichungsmacht über Entscheidungen innehat: Ergebnisse von internen Vorwahlen sowie Abstimmungen sowie über die Veröffentlichung der Themen für Wahlprogramme. Kontrolle ist nicht integriert, also kann niemand nachprüfen, ob die veröffentlichten Entscheidungen überhaupt den Abstimmungsergebnissen entsprechen. Davide Casaleggio herrscht absolut über die Fünf-Sterne-Bewegung. Der Anspruch der Bewegung sei totalitär, sie beanspruche nicht die Vertretung partikulärer Interessen, sondern die des "Volkes". Was der Volkskonsens sei, bestimme der Algorithmus.

Für die USA werden Andrew Breitbart, Stephen Bannon und Donald Trump als Beispiele herangezogen. Breitbart kämpfte gegen einen von ihm postulierten Democrat Media Complex, der auf Basis der Ideolgie der Vordenker der Frankfurter Schule (Adorno, Horkheimer, Marcuse) sämtliche andersdenkende Meinungsäußerungen unterdrücke. Als selbsternannte Gegenkraft war er Mitbegründer der Hufftington Post und schließlich der rechtsaußen angesiedelten Breitbart News. Nach seinem Tod 2012 übernimmt Bannon das Imperium. Bannon perfektioniert den Mix an gesicherten Informationen und falschen Informationen, außerdem ist er nach einem Shitstorm in der Gamer-Welt, dem er in den Nullerjahren ausgesetzt war, davon überzeugt, dass der Zorn im Internet nicht nur sehr wirkmächtig artikuliert, sondern auch kanalisiert werden kann. Mit Peter Schweizer, der ein wasserdicht recherchiertes Buch über Skandale der Clinton-Familie veröffentlicht hat, schließt er sich in einem Think Tank zusammen. Gleichzeitig entwickelt sich eine Verbindung mit Donald Trump. Das Imperium funktioniert nun so, dass über die offiziellen Kanäle Belastbares veröffentlicht wird, die falschen Verschwörungstheorien über Kanäle wie 4chan, 8chan und Reddit in Umlauf gebracht werden. Zum Bruch zwischen Trump und Bannon kommt es, als letzterer sich zu sehr in den Vordergrund schiebt.

Trump selbst sei ein Unicum, da er authentisch sei, keine Spin-Doktoren brauche und darauf pfeife, ob Aussagen von ihm korrekt oder nicht korrekt seien, auch ist es ihm egal, ob Aussagen von ihm widersprüchlich seien. Schon lange vor seiner Kandidatur habe er mal zu einem Unternehmer geäußert, er sei White Trash, mit dem Unterschied: er sei nicht arm. Was Trump geschafft habe, war, die verarmten Schichten der Binnenstaaten der USA anzusprechen, und die Liberalen an Ost- wie Westküste hätten nicht erkannt, welche Gefahr heranwächst. Mit Bannon habe er perfekt die von ihm verteufelten "Mainstream"-Medien genutzt, die jede Aussage, jede Provokation von ihm diskutiert und damit verstärkt haben. Das Wahlbudget von Trump habe ein Zehntel von dem Hillary Clintons betragen. Für ihn machten seine Gegner Wahlkampf.

Als drittes Populistenbeispiel, welches das Internet nutzt, wird die AfD angeführt, vor allem Björn Höcke. 85 Prozent der Facebook-Beiträge deutscher Parteien im Wahlkampf 2019 stammten von der AfD, etwa 200.000 Fake-Accounts hätten mit Likes die Algorithmen befeuert und über das Magdeburger Unternehmen Paidlikes seien Menschen angeheuert worden, die für zwei bis sechs Cent pro Klick den ganzen Tag "Likes" für die AfD vergeben hätten.

Mit Arthur Finkelstein habe Viktor Orbán in Ungarn einen Top-Berater gehabt, der bereits erfolgreiche Kampagnen für Benjamin Netanyahu in Israel geleitet hat. Finkelstein sei einer der Top-Spindoktoren der Negativ-Kampagnen und habe Orbán in vielen Wahlkämpfen begleitet. So sei er 2015 derjenige gewesen, der mit einer sehr aggressiven Anti-Flüchtlingskampagne Orbán aus einem Umfragetief herausgeholt habe.

Doch wer sind die "Ingenieure des Chaos" und welche Prämissen stecken dahinter? Für Empoli sind es Ideen aus der Physik, welche zwischen Aggregatszustand und Teilchen unterscheiden. Die Teilchen sind die Individuen und die Wählerentscheidungen der Aggregatszustand. Es werde nicht mehr wie in der alten Umfrage-Politik nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner mit nichtssagenden Slogans gesucht, sondern ausgetestet, welche Aussagen bei unterschiedlichesten Gruppen wie ankommen. Genutzt werden Algorithmen, die auch für personalisierte Werbung im Einsatz sind, nur eben mit politischen Inhalten. Genutzt habe diese Möglichkeiten bereits Obama bei seinem Wahlkampf 2012. Mit Hilfe einer hohen Geldzahlung an Facebook (ob Spende oder Lizenzierung bleibt unklar) habe Trump deren Algorithmen nutzen können, welche fast sechs Millionen Nachrichten auf ihre Wirksamkeit austesteten, Hillary Clintons Kampagne testete 66.000 Nachrichten. Die Brexit-Kampagne in Großbritannien konnte den Lookalike Audience Builder von Facebook nutzen, mit dem herausgefiltert wurde, welche Unentschiedenen noch für die Überzeugungsarbeit angesprochen werden können. Zur Entwicklung personalisierter Propaganda wurde die kanadische Big-Data-Firma AggregateHQ aus dem Cambridge-Analytica-Umfeld beauftragt. Diese Firma schickte mehr als eine Milliarde personalisierte Nachrichten an britische Wählerinnen und Wähler.

Welche Auswirkung hat diese neue Form von Propaganda auf die Politik? Durch das Ansprechen von unterschiedlichsten Zielgruppen werden die Aussagen radikaler, extremer, es müsse keine Rücksicht mehr auf den "kleinsten gemeinsamen Nenner", auf Kompromisse genommen werden. Es müsse keine Durchschnittstemperatur mehr propagiert werden, diese lasse sich auch ermitteln, wenn die Füße in der Tiefkühltruhe und der Kopf im Backofen stecken. Inhaltlich bestehe die Gefahr, dass Ressentiments geweckt werden können, die Menschen noch ganz tief in sich verborgen haben, sich jedoch nicht zugestehen, dass also radikale Ansichten (zu Zuwanderung, Rassismen u. a.) nicht nur bei Menschen greifen, welche diese Ansichten selbst vertreten. Algorithmen, die Verhalten auf Socia-Media-Plattformen überwachen, bringen hervor, ob solche Ansichten funktionieren und über die Zielgruppe hinaus greifen. Wenn sie funktionieren, werden sie weiter befeuert.

Ein weiteres Problem sei ein psychologisches. In Bereichen, die wir nicht selbst überprüfen können, wird meist einer akzeptierten Mehrheitsansicht vertraut (Erde dreht sich um die Sonne, Impfungen schützen vor schlimmen Krankheiten, die Nazis haben sechs Millionen jüdische Menschen ermordet). Durch das Dauerbombardement von neuen "Informationen" (Impfen löse Autismus aus, Flüchtlinge seien Terroristen) erodiere eine alte Vertrautheit. Je mehr Menschen diese neuen "Informationen" annehmen, desto geringer werde der Widerstand gegen solche "Informationen". Falschinformationen gehen den Weg in ein breiteres Bewusstsein. Doch - und hier übernimmt Empoli die Metahper der Physik - ein System, das auf einer Zentrifugalbewegung (die Teile, hier die Ansichten der Menschen streben auseinander) beruhe, werde instabil und es sei nur noch eine Frage der Zeit, bis das System auseinanderbreche, in diesem Fall die Gesellschaft.

Doch gebe es einen seit etwa 40 Jahren existierenden gesellschaftspolitischen Hintergrund, der die Basis für diese Entwicklung gelegt habe. Der Schwerpunkt der Finanzmärkte habe ich von einer Konsumorientierung sowie einer sozialen Orientierung zu einer Orientierung auf Aktienmärkte (Shareholder-Interessen) verlagert. Wohlfahrtsinstitutionen seien weltweit abgeschafft oder zurückgefahren worden, Gewerkschaften werden marginalisiert, die Kluft zwischen Arm und Reich werde größer. Doch wenn Zersplitterung und Radikalisierung die Antwort ist, die mit Hilfe der Technik sich immer perfekter für politische Machtzwecke nutzen lässt, müsse man auf die Weimarer Republik zurückblicken, als Radikalisierung, Rassismus, Pöbelei, Beschimpfung, Gewalt immer mehr den politischen Diskurs bestimmt habe: Die Player, die damit begonnen haben, seien allesamt schnell verschwunden. Übrig geblieben sei die brutalste und enthemmteste Bewegung.
Sind die Tabus einmal aufgebrochen, kann man sie nicht wiederherstellen: Wenn die aktuellen Regierungschefs und Rechtspopulisten wieder in der Versenkung verschwunden sind, ist die Wahrscheinlichkeit sehr gering, dass die Wähler, die an die starken Drogen des Nationalpopulismus gewohnt sind, sich auf einmal wieder nach dem Baldrian der traditionellen Parteien zurücksehnen.

Sie werden nach etwas Neuem verlangen, und dieses Neue wird vielleicht sogar noch enthemmter und extremer auftreten. Das sogenannte Overton-Fenster - wie der amerikanische Publizist und Politiker Joseph Overton die Menge der von der Öffentlichkeit noch als zulässig betrachteten Meinungen bezeichnete - öffnet sich immer weiter nach rechts.
Eine beeindruckende Lektüre.