Winkler-Westen1

Dieser erste Band des deutschen Historikers Heinrich August Winkler über die Geschichte des Westens aus dem Jahr 2010 (2. Auflage) mit dem Untertitel Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert umfasst in seiner Druckfassung rund 1350 Seiten. Bis oft ins kleinste Detail präsentiert Winkler die politische Geschichte der Staaten und Gemeinwesen, welche dem Westen zuzurechnen sind, wobei er eine klassische Grenzziehung vornimmt: Kernstaaten des Westens sind diejenigen im Einflussbereich der katholischen Kirche bzw. des Protestantismus befindlichen. Kennzeichen seien ferner die ungleichzeitige Entwicklung wie ein oft eklatanter Widerspruch zwischen postulierten Werten und politischer Realität.

Winkler kontrastiert seine politische Definition der Werte des Westens von Max Weber aus dem Jahr 1920 ab, der folgende Charakteristika des Westen anführte:

  • empirisch vorgehende Wissenschaft
  • rationale harmonische Musik
  • stengen Schematismus des Rechts
  • Fachmenschentum
  • schrankenlose Erwerbsgier
  • Trennung von Haushalt und Betrieb
  • rationale Buchführung
  • Bürgertum
  • Organisation freier Arbeit
  • Entstehung eines rationalen Sozialismus


Dahingegen sind Winklers Punkte viel konziser:

  • unveräußerliche Menschenrechte
  • Herrschaft des Rechts
  • repräsentative Demokratie
  • Gewaltenteilung


Ausgangsbedingung für diese Werte seien der jüdische, auf der ägyptischen Aton-Religion basierende Monotheismus, der die Trennung zwischen Staat und Religion ermöglichte und im Neuen Testament durch das Postulat, dem Kaiser sei zu geben, was des Kaisers sei, verfestigt wurde. Nur dadurch war es im Mittelalter möglich, zwei Herrschaften zu definieren, die sich auch bekämpften: die kirchliche und die weltliche, eine "Urform" der Gewaltenteilung. Der kirchliche Beitrag zur Rechtsstaatlichkeit sei das kanonische Recht, also das Kirchenrecht gewesen. Rechtswissenschaft wie auch die durch arabische Vermittlung nach Westeuropa eingeflossenen antiken Philosophien hätten zu einer Verwissenschaftlichung des Denkens beigetragen.

Eine weitere Bedingung für die Entstehung des Postulats der Gewaltenteilung sei die Feudalisierung gewesen, die es im byzantinischen Reich wie auch in Russland nicht gegeben habe. Diese habe den Gegensatz zwischen Zentralgewalt (Kaiser, König, Fürst) und Stände mit sich gebracht wie auch im Laufe des Mittelalters durch die Stadtentwicklung das Streben nach Mitherrschaft durch ein reich gewordenes, nicht adeliges Bürgertum. Einer der Zugangsmöglichkeiten zur Zentralmacht war der Eintritt in Verwaltung und Rechtswesen, für die auch absolut regierte Staaten ausgebildete Personen benötigten.

Auch sieht Winkler im europäischen Mittelalter das Entstehen zweier Nationsbegriffe: eines staatlich-politischen in Westeuropa und eines sprachlich-kulturellen bei Deutschen und Italienern sowie in Ostmitteleuropa.

Das Auseinanderdriften von postulierten Werten und Realität sieht Winkler bereits im Mittelalter in der Ausgrenzung von Juden bis hin zu mörderischen Pogromen und Vertreibungen. Ihnen wurde keine Möglichkeit der Teilhabe zugestanden. Judenhass und Hexenwahn standen bald in schreiendem Gegensatz zu den Werten der Humanisten wie auch Unterdrückung, Misshandlung und massenhafte Tötung der indigenen Bevölkerung Amerikas durch die Conquistadoren. Seine Empörung darüber brachte ein Dominikaner zum Ausdruck: Francisco de Vitoria. Mit seinem Hinweis, es seien Menschen und keine Affen, zählt Vitoria zu den Wegbereitern der Idee der universalen Menschenrechte. Die Reaktion Spaniens 1517: die Verfrachtung von "widerstandsfähigeren" afrikanischen Sklaven nach Mittel- und Südamerika. Aber der Weg dahin ist noch sehr weit. Auch John Locke, selbst als Teilhaber der Royal Africa Company Profiteur des Sklavenhandels, gestand Nichteuropäern keine Rechte zu. Als explizite Kritiker an Sklaverei und Sklavenhandel traten letztlich nur Montesquieu, Rousseau und Adam Smith in Erscheinung.

Selbst unter Aufklärern des 18. Jahrhunderts war die Haltung zur Judenemanzipation nicht einhellig. Montesquieu und Diderot verurteilten die Diskriminierung von Juden, Voltaire lehnte die Toleranz gegenüber Juden ab, da er im Judentum ein noch dunkleres Relikt der Vergangenheit sah als im Christentum. Ein großer Fürsprecher für die Judenemanzipation war Moses Mendelssohn, der den christlichen Kritikern vorhielt, dass nur die Vernunft die Basis der Überlegungen sein dürfe und nicht sogeannte "Geschichtswahrheiten".

Die Staatskirchenentwicklung des Protestantismus habe zwar die Trennung von Staatsmacht und Kirchenmacht relativiert und zu Formen des Caesaropapismus geführt (Landesherr = Kirchenherr), andererseits habe der vor allem kalvinistische Grundsatz, Reichtum sei ein Zeichen von Gottesgnade, die wirtschaftliche Entwicklung vorangetrieben, auch wenn es in Zentraleuropa erst nach mörderischen Kriegen zu einer Entwicklung in Richtung religiöser Toleranz gekommen ist.

Die völkerrechtlichen Folgen des Dreißigjährigen Krieges waren unter anderem, dass sich kein Staat in innere Angelegenheiten eines anderen einmischen dürfe, auch nicht auf Berufung einer Unterdrückung von Menschen aus politischen oder religiösen Gründen (die Sowjetunion und andere kommunistischen Staaten beriefen sich permanent auf diesen Grundsatz). Der niederländische Völkerrechtler Hugo Grotius postulierte im 17. Jahrhundert, dass kein Krieg ohne Not begonnen werden dürfe. Die Furcht vor der Macht des Nachbarn reiche als Kriegsgrund nicht aus. Dieses Postulat ist bis zum heutigen Tag meiner Ansicht nach aktuell.

Jahrhunderte dauerte der Weg zur Rechtssicherheit für die breite Masse der Bevölkerung. Der Jurist Jean Bodin sah im 16. Jahrhundert den Souverän an kein Gesetz gebunden, Hobbes übernahm von ihm diesen Gedanken, um den Souverän nicht kompromittieren, und er sei nur verpflichtet, das Leben seiner Untertanen zu schützen. Spinoza formulierte im 17. Jahrhundert, der Zweck des Staates sei, die Freiheit zu befördern. Menschen seien weder Tiere noch Automaten, sondern ihr Geist und Körper habe ungefährdet ihre Kräfte zu entfalten. John Locke ging weiter: Der Herrscher sei an Gesetze gebunden und wenn er das Gesetz bricht, verliert er den Anspruch auf Gehorsam. Wenn er die Legislative behindert, sei es Recht, gegen den Herrscher mit Gewalt vorzugehen. Der deutsche kalvinistische Rechtsgelehrte Johannes Althusius entwickelt das Subsidiaritätsprinzip, dass eine höherstehende Gewalt nur Funktionen übernehmen darf, welche eine niedrigere nicht bewähltigen kann. Rousseau ist der Auffassung, die durch die Natur gegebene Ungleichheit der Menschen müsse durch das Recht und Verträge ausgeglichen werden. Zweifelhafter ist seine Idee einer Zivilreligion und Tugendlehre, dessen Beförderer die Vaterlandsliebe sein soll, die auch heilige Kriege rechtfertigt. Somit gilt er auch als Begründer des modernen, chauvinistischen Nationalismus. Rousseaus Staat wäre durch den Gesellschaftsvertrag eigentlich ein freier, aber die Rolle, welche den Untertanen zugeschrieben wird, machten sie laut Winkler "zu einem Nichts". Für den nächsten Schritt, nämlich der Begründung für ein allgemeines Wahlrecht, dauert es ein weiteres Jahrhundert, bis der britische Liberale John Stuart Mill formuliert, dass eine Demokratie ohne allgemeines Wahlrecht nur ein Zerrbild derselben sei.

Wie schwierig und blutig Rechte durchgesetzt werden mussten, zeigt Winkler bereits an der Geschichte Englands im 17. Jahrhundert bis 1688 und danach. Auf dem Kontinent bekriegten sich absolut regierende Herrscher um ihren Anteil am Herrschaftskuchen, bis 1789 in Frankreich das Limit des Absolutismus erreicht war und die Frustration sich in einer Revolution Luft machte. Die erste Resonanz der Revolution war im zerstückelten Polen, dessen Großer Reichstag im Mai 1791 die erste Verfassung Europas mit Gewaltenteilung nach der Lehre Montesquieus (drei Monate vor Frankreich). Russland zerschlägt den Großen Reichstag militärisch.

Auch der sogeannte aufgeklärte Absolutismus war zwiespältig. Friedrich II. refeudalisierte Preußen, verbot Bürgerlichen den Erwerb von Rittergütern und militarisierte das aufgrund seiner räumlichen Zerrissenheit verwundbare Land. Disziplin und Unterordnung waren Kerntugenden, die eingefordert wurden. Joseph II. hob 1781 in den österreichischen Erbländern und Böhmen die Schollenbindung und Erbuntertänigkeit der Bauern auf, nicht sozial oder wirtschaftliche Klöster wurden aufgelöst, nichtkatholische Christen erhielten das volle Staatsbürgerrecht, Juden erhielten per Toleranzedikt gewisse Freiheiten der Religions- und Gewerbeausübung. Auf heftigen Widerstand stieß sein auf Zentralisationsbestrebungen beruhendes Ziel, Deutsch zur Amts- und Geschäftssprache des gesamten Habsburgreichs zu machen.

Die britischen Kolonisten in Amerika kamen sehr früh in eine Auseinandersetzung mit dem Mutterland. 1684 wurde eine Charter für Massachusetts für nichtig erklärt, alle Kolonien wurden unter die Gewalt des Königs gesetzt und Volksvertretungen aufgelöst. Thomas Paine drängte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts darauf, die Souveränität des Königs durch eine Volkssouveränität zu ersetzen. Provinzialkongresse lösten die Volksvertretungen ab und am 12. Juni 1776 beschloss der Kongress von Virginia mit der Declaration of Rights die erste Menschenrechtserklärung der Geschichte, welche die Gleichheit aller Menschen, ihre unveräußerlichen Rechte und ihr Recht auf Glück und Sicherheit festlegte. Die Souveränität gehe vom Volk aus, alle Amtsträger seien Treuhänder und Diener des Volks, die drei Gewalten seien getrennt, Grundfreiheiten (Pressefreiheit, Religionsfreiheit, Wahlfreiheit) werden festgeschrieben. Schließlich beschloss der Kontinentalkongress am 4. Juli 1776 die Unabhängigkeitserklärung der 13 Kolonien als Vereinigte Staaten von Amerika. Nach einem Befreiungskrieg anerkannte Großbritannien die USA im Jahr 1783. Am 17. September 1787 verabschiedeten die USA ihre Verfassung. Sie trennte die drei Gewalten und zur Beschränkung der jeweiligen Gewalt wurden zwei parlamentarische Kammern eingerichtet und der Präsident erhielt nur ein aufschiebendes (suspensives) Veto und kein absolutes Veto gegenüber Gesetzesbeschlüssen. Ein System der gegenseitigen Kontrolle (checks and balances) wurde eingerichtet. Ausgeschlossen waren zwar Frauen, Indigene und Afroamerikaner, aber dennoch war die theoretische Grundlage für ein Verfassungs- und Menschenrechtssystem für alle gelegt, deren Umsetzung jedoch noch beinahe 200 Jahre benötigte, in welchen die Indigenen beinahe ausgerottet wurden, ein Bürgerkrieg zur Sklavenbefreiung (der Sklavenhandel wurde 1808 verboten) geführt wurde und weitere Einschränkungen für Afroamerikaner bis in die 1960er Jahre bestanden. Die Stärke der Verfassung war aber auch ihre Anpassbarkeit durch Zweidrittelmehrheiten in beiden Kammern des Kongresses. Die indigene Bevölkerung sollte nach dem Bürgerkrieg in Reservaten angesiedelt werden. Nach den Erfahrungen des Trail of Tears der Umsiedlung der Cherokee zwischen 1830 und 1850 kam es zu erbitterten Aufständen vor allem der Sioux und Cheyenne, der nach dem Massaker am Wounded Knee 1890 zusammenbrach. Der Dawes Act von 1887 sollte die Ausrottung der Indigenen stoppen und sie sesshaft machen, aber das Land, das ihnen angeboten wurde, war schlecht, auch war die angestrebte kulturelle Assimilation eine Kulturvernichtung. Auch verloren sie im Gegensatz zu vor 1887 weitere 60 Prozent Land. Letztlich führten die Maßnahmen zu großer Armut. 1934 wurde mit dem Indian Reorganization Act die Wiederherstellung der Selbstverwaltung der überlebenden Stämme eingeleitet.

Die Ereignisse in Amerika hatten direkte Auswirkungen auf das teilweise beteiligte Frankreich. Der König wurde gezwungen, einer verfassungsgebenden Versammlung zuzustimmen, am 26. August 1789 wurde von der Nationalversammlung die Menschenrechtserklärung verkündet, die Verfassung richtete ein Einkammernsystem ein und der König hatte nur mehr ein suspensives Veto, musste einen Eid auf die Verfassung ablegen und stand nicht mehr über den Gesetzen. Mit der Verabschiedung der Verfassung hatte die Konstituante ihre Aufgabe erfüllt und es wurde eine neue Nationalversammlung konstituiert, in der kein Abgeordneter der Konstituante vertreten sein durfte. Damit hat sich die Revolution die Option einer Kontinuität genommen. Die Stimmung radikalisierte sich, auch der König war für einen Krieg gegen Österreich, der sich eine Stärkung der royalen Kräfte erhoffte. Am 20. April 1792 wurde der Krieg an Österreich erklärt. Am 20. September zwang die französische Armee die Koalitionstruppen bei der Kanonade von Valmy zum Rückzug. Die Lage in Frankreich war unübersichtlich, die Stadtbevölkerung wegen hoher Lebensmittelpreise unzufrieden, König Ludwig XVI. beging einen Fluchtversuch, der gestoppt werden konnte, am 21. Januar 1793 wurde er nach Abstimmung im Konvent (387:334 an Stimmen) hingerichtet. Im März brach in der Vendée ein royalistischer Aufstand aus, der brutalst niedergeschlagen wurde, nach einer Niederlage der Nordarmee wollte General Dumouriez putschen, der Putsch wurde vereitelt, die gemäßigten Girondisten gerieten von den radikalen Jakobinern unter Generalverdacht, im April wurde der Wohlfahrtsausschuss eingerichtet, der die Hintermänner des Verrats ausfindig machen sollte. Am 2. Juni wurden die girondistischen Abgeordneten verhaftet. Unter dem Vorwand, die Septembermorde von 1792 nicht zu wiederholen, entschieden sich die Jakobiner für eine Politik des Terrors.Danton: "Seien wir schrecklich, damit das Volk es nicht zu sein braucht." Im September wurde mit dem Gesetz gegen die Verdächtigen der Denunziation Tür und Tor geöffnet, das Urteil war meist die Hinrichtung durch die Guillotine. Als Robespierre als Führer der Jakobiner die Terrorgesetze verschärfen wollte, wandten sich am 27. Juli 1794 sämtliche Konventabgeordnete gegen ihn, er wurde verhaftet und am Tag darauf hingerichtet. Opferzahlen zwischen März 1793 und August 1794: 100.000 bis 250.000 Bewohner der Vendée, ca. 20.000 Guillotinierte. Einziger Erfolg während der Terrorherrschaft: Kleinbauern bekamen die Möglichkeit, Land zu erwerben.

Winkler resümiert über die Terrorherrschaft, dass Robespierres Handeln, dem Volk die von ihm als solche definierte Vernunft auch durch Gewalt einzubläuen, auf dem philosophischen Denken Rousseaus beruht habe, den er 1778 als Student besucht hat und der sein philosophisches Vorbild war. Die unveräußerlichen Menschenrechte, welche die amerikanische und die Französische Revolution hinterlassen haben, waren nicht mehr aus der Welt zu schaffen.

Das Europa nach der Terrorzeit in Frankreich ist ein Rückfall in repressive Zeiten. Napoleon beschnitt Freiheitsrechte in Frankreich und versuchte blutig, aber erfolglos den Großmachtstatus zu erweitern. Das Heilige Römische Reich zerfiel, ein einheitliches Deutschland entstand genausowenig wie ein geeintes Italien. Einzig Preußen schaffte es unter Existenzdruck nach Niederlagen gegen Napoleon, nachhaltige Reformen umzusetzen: Abschaffung der Erbuntertänigkeit, Gewerbefreiheit, Judenemanzipation, Bildungsreform. Dies führte zu einem Modernisierungsschub, der in die Zukunft wies. Widerstand erhob sich von neuer Seite: die radikalen Nationalisten Fichte, Arndt und Jahn setzten sich für ein Deutschtum ohne Juden ein und eröffneten eine Denktradition, welche im 20. Jahrhundert in die Katastrophe führte. Fichte sprach schon davon, dass das Judentum "ein mächtiger, feindseliger Staat, der fast überall in Europa mit allen übrigen in beständigem Krieg stehe" sei, und plädierte für ihre Ausweisung. In den 1870er und 1880er Jahren flammte der Antisemitismus in Deutschland wieder auf. Der Historiker Heinrich von Treitschke sieht in den Juden Mitbürger zweiter Klasse, der Orientalist Paul de Lagard bezeichnet sie als "wucherndes Ungeziefer" und verlangt deren Vernichtung: "Mit Trichinen und Bazillen wird nicht verhandelt. Trichinen und Bazillen werden auch nicht erzogen, sie werden so rasch und so gründlich wie möglich vernichtet."

Auf den Ende des 19. Jahrhunderts nicht nur in Deutschland, sondern auch in vielen anderen Staaten aufflammenden Antismitismus (unter anderen in Frankreich mit der Dreyfus-Affäre und Russland mit gewaltsamen Pogromen) reagiert die neue jüdische Strömung des Zionismus. Der Wiener Theodor Herzl formuliert in seinem Buch "Der Judenstaat" 1894, dass Juden in Europa ein so eng begrenztes Tätigkeitsfeld hätten, dass weder ein Aufstieg in das Staatswesen noch ein Abstieg in handwerkliche Beschäftigungen hätten, sodass ein eigener Staat für Juden nötig sei. Der Ukrainer Ascher Ginsberg (Achad Ha'am) strebt eine Wiederbelebung der hebräischen Kultur an. Herzl strebt einen Staat für Juden an, für den Einzelnen, Ginsberg einen jüdischen Staat. Eine Auseinandersetzung zweier zionistischer Richtungen, die bis heute den Staat Israel mitprägt. In Palästina lebten um 1870 etwa 150.000 bis 300.000 Menschen, davon 25.000 Juden. Eine erste Einwanderungswelle gab es ab 1881 nach den Pogromen in Russland. Die zionistische Einwanderung begann 1905, wieder nach Pogromen in Russland, und dauerte bis 1914. Etwa 50.000 bis 80.000 Menschen wanderten in diesem Zeitraum ein. Im Vergleich dazu, exilierten im gleichen Zeitraum etwa 850.000 Juden in die USA. Bereits 1905 entstanden die ersten Kibuzzim und 1909 wurde Tel Aviv gegründet. Hochrangige Politiker des Staates Israel wie David Ben-Gurion siedelten zu dieser Zeit nach Palästina.

Freiheitskämpfe ab den 1820er Jahren gab es in Griechenland gegen die osmanische Herrschaft sowie in Südamerika gegen die spanische Kolonialmacht. Die USA erklärten ganz Amerika in der Monroe-Doktrin von 1823 zu ihrem Einflussgebiet und drohten europäischen Mächten, die sich einmischten. Gleichzeitig setzten die USA den Indian Removal Act um, andererseits begann sich die Republikanische Partei für die Abschaffung der Sklaverei einzusetzen. Nach der französischen Julirevolution von 1830 begann sich Frankreich weiter zu demokratisieren (Ausweitung der Wählerschaft) und 1831 wurde die Unabhängigkeit Belgiens anerkannt. In Großbritannien wurde das Wahlrecht reformiert, und eine Bewegung "Junges Europa" war in Italien und Deutschland mit dem Ziel der staatlichen Einigung aktiv. Im bürgerlichen Spektrum stritten Liberale um Zollfreiheit gegenüber Protektionisten, welche hohe Schutzzölle einführen wollten. Die Industrialisierung brachte eine neue Schicht bzw. Klasse hervor: die Arbeiterschaft bzw. das Proletariat. In Abgrenzung zu Frühsozialisten wollten die deutschen Denker Karl Marx und Friedrich Engels einen Zusammenschluss der Arbeiterschaft, um das Eigentum an Produktionsmitteln zu vergesellschaften sowie durch eine Revolution eine Diktatur des Proletariats errichten. Damit sei die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen beendet. Dass "die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist", diesen Satz aus dem Kommunistischen Manifest haben sich deren Epigonen an der Macht offensichtlich nicht verinnerlicht.

Die Revolutionen 1848/49 wurden nicht zum von Engels erhofften revolutionären Weltkrieg. Die Revolution in Deutschland mit Ziel Liberalisierung und Einigung scheiterte an Preußen und den weit gesteckten Zielen, die Revolutionen in Österreich, Ungarn und Italien wurden militärisch niedergeschlagen. Aber immerhin habe es im Anschluss drei neue Verfassungsstaaten gegeben: Sardinien-Piemont, Preußen und Dänemark. Die USA haben 1848 Frieden mit Mexiko geschlossen, Texas wurde neuer Bundesstaat und der Rio Grande Grenzfluss, 1850 wurde Kalifornien als Bundesstaat aufgenommen.

Die Zeit zwischen 1850 und 1914 wird als die Zeit der Imperien bezeichnet. Gekennzeichnet ist sie durch eine rasante Industrialisierung und einem - wenn auch mehrfach unterbrochenen - Wirtschaftsaufschwung. Sowohl in Europa als auch in den USA wurde der rasante Ausbau des Eisenbahnnetzes zum Sinnbild für den Aufschwung. 1869 beschleunigte die Eröffnung des französisch-ägyptischen Suez-Kanals den Warenverkehr zwischen Europa und Asien, vor allem im britischen Interesse.

1860 einte sich Italien, 1866 trennte sich Deutschland von Österreich und gründete nach einem Krieg gegen Frankreich 1871 das Deutsche Kaiserreich. Russland begann 1863 Zentralasien zu erobern und russifizierte die Ukraine (Sprachverbote 1863 wie 1876). Auch nach dem Bürgerkrieg stabiliserte sich das Verhältnis der Afroamerikaner in den USA nicht. In einer Entscheidung des Obersten Gerichtshofs wurden Bürgerrechtsgesetze als verfassungswidrig erklärt, die Jim-Crow-Gesetze gaben der Rassentrennung an Schulen, in öffentlichen Verkehrsmitteln, Restaurants und Vergnügungsstätten eine gesetzliche Grundlage, auch wurde das Wahlrecht von Afroamerikanern eingeschränkt.

Der deutsche Krieg um Elsass und Lothringen 1871 wurde für Frankreich durch den Aufstand der Pariser Kommune zu einer Katastrophe. Nach zweimonatiger Belagerung nahmen Regierungstruppen die Stadt ein. In der Blutwoche vom 21. bis 28. Mai 1871 verloren 200.000 Kommunarden ihr Leben, etwa 10.000 wurden zu Zuchthaus oder Strafinsellager verurteilt. Die Arbeiterbewegung verlor mehr oder weniger ihre gesamte Führung.

In Deutschland wurde nach einem Attentat jegliche Betätigung der Sozialdemokratie außerhalb des Parlaments verboten. Die Sozialistengesetze blieben bis 1890 aufrecht.

Die Kräfteverhältnisse in Europa begannen in den 1870er Jahren sich zu verändern. Nach Aufständen am Balkan gegen die Osmanenherrschaft und einem gescheiterten russisch-türkischen Krieg wurde 1878 in Berlin Bosnien-Herzegowina unter die Verwaltung Österreichs gestellt. 1879 schloss Deutschland mit Österreich-Ungarn einen Zweibund, dem sich 1881 Italien anschloss. Bereits 1875 ging der Mehrheitsbesitz des Suez-Kanals an Großbritannien. 1884/85 fand in Berlin die Kongokonferenz statt, in deren Rahmen sich die europäischen Großmächte Afrika aufteilten. 1885 sicherte sich Frankreich von China die Oberhoheit über die vietnamesische Provinz Annam. Im Gegensatz zu der wirtschaftlich orientierten Kolonialpolitik Großbritanniens dürfte die französische Kolonialpolitik Prestigegründe gehabt haben. Die französischen Kolonien seien wirtschaftlich nicht interessant gewesen, konstatiert Winkler. Die deutsche Kolonialpolitik änderte sich ebenfalls Mitte der 1880er Jahre hin zu einer aktiven Staatspolitik, während zuvor Handelsgesellschaften aktiv waren. Mit Großbritannien wurde Sansibar gegen Helgoland ausgetauscht. Ein Tausch, der nach vorne weist, indem das Deutsche Reich Interesse an einer aktiven Nordseepolitik zeigt.

Der bedeutsamste Beschluss der Kongokonferenz war jedoch, dass die Teilnehmerstaaten am 26. Februar 1885 den Sklavenhandel verboten. Zynisch ist, dass einer der lautesten Fürsprecher, der beligische König Leopold II., in seiner Privatkolonie Kongo ein Terrorregime zur Kautschuk- und Rohstoffgewinnund durch Versklavung der Arbeiter unter Verwaltung eines ehemaligen Sklavenhändlers aus Sansibar hochzog. Zwischen 1880 und 1920 verringerte sich die Bevölkerung des Kongo durch Mord, Hunger, Erschöpfung, Krankheit und gesunkener Geburtenrate auf die Hälfte.

Die Risiken der imperialistischen Politik der europäischen Mächte legte der britische Ökonom John Atkinson Hobson 1902 dar: Imperialismus sei der Ausdruck dessen, dass im Inland die Märkte für überschüssiges Kapital und Überproduktion nicht mehr vorhanden sind. Der Mehrwert von kolonialen und imperialen Bestrebungen sei jedoch gering, dafür wachse die Gefahr von internationalen Konflikten, weswegen imperialistische Politik zwangsweise zu Militarisierung und Hochrüstung führe. Die entsprechenden Ideologien seien Rassismus und Jingoismus (Chauvinismus), die der als wertvoller dargestellten eigenen Kultur oder Rasse das Recht auf Gewaltanwendung gäben.

Winklers These ist, dass Großbritannien den Einflussverlust durch die Gründung des Deutschen Reichs durch das Empire ausgleichen wollte, Frankreich seine Gloire nach der militärischen Niederlage von 1870/71 wieder aufpäppeln wollte. Die jungen Nationalstaaten Deutschland und Italien im Gegenzug den alten Kolonialmächten um nichts nachstehen wollten. Deutschland schaffte es zu einem respektablen Kolonialbestand, Italien hatte seine Müh und Not mit Abessinien und der Cyrenaika. Und die ursprünglichen Kolonialstaaten? Den Niederlanden blieb noch Indonesien, Spanien die Philippinen, die Karolinen, die Marianen, Kuba und Puerto Rico (und Ende des 19. Jahrhunderts ein Krieg mit den USA) sowie die Einrichtung eines Protektorats West-Sahara. Portugal blieb (nach Verlust Brasiliens) noch Macao, Goa, Ost-Timor sowie Angola und Mocambique.

In den USA begann ab den 1870er Jahren eine massive Industrialisierung, die mit den Namen Rockefeller (Öl), Carnegie (Stahl), Morgan (Bankwesen) verbunden ist, welche eine hohe Konzentration an Kapital symbolisieren. Ende des 19. Jahrhunderts kontrollierte ein Prozent der Konzerne ein Drittel der industriellen Produktion der USA. Das Arbeitskraftpotenzial wurde aus der hohen Einwanderungszahl geschöpft. 1830 lebten etwa 30 Mio Menschen in den USA, um 1900 etwa 75 Mio, 1920 106 Mio. Der Staat hielt sich grundsätzlich aus wirtschaftlichen Belangen raus, doch bei Arbeitskämpfen wurde das Militär eingesetzt, was dazu führte, dass Arbeitsauseinandersetzungen tendenziell zu Gewalt neigten. Dennoch war der Organisationsgrad der Arbeiter sehr gering, was vermutlich auch an den im Weltvergleich hohen Löhnen lag. Der deutsche Soziologe Werner Sombart schätzte, dass der Lohn für Arbeiter in den USA dreimal so hoch war wie in Europa. Verbreitet waren sozialdarwinistische Ansichten der Überlegenheit der weißen Rasse. Auch führende Industrielle wie Rockefeller oder Carnegie vertraten diese Ansichten. Bezüglich der Militärdoktrin setzte sich der Mahanismus des Admiral Alfred Thayer Mahan durch, der den Pazifik als "Mare Americanum" betrachtete. Schließlich wurde 1898 Krieg gegen die spanische Flotte geführt und Spanien aus den Philippinen und der Karibik vertrieben. Auf den Philippinen führte der Rebell Emilio Aguinaldo den Guerillakrieg gegen die neuen Kolonialherren weiterführte, wurde dieser Aufstand brutalst niedergeschlagen. Die philippinische Opferzahl wird auf 50.000 geschätzt. Nach diesem Krieg setzten die USA in Hinkunft auf informellen Imperialismus und nicht mehr auf formellen Kolonialismus. So boten die USA China nach Niederchlagung des Boxeraufstands großzügige Stipendien für chinesische Studenten an und konnten so das Verhältnis zwischen diesen beiden Staaten erheblich verbessern. Das Interesse der USA war, dass China ein Partner bei der Abwehr von europäischen und japanischen Expansionsbestrebungen im pazifischen Raum sein kann. Um die Jahrhundertwende begannen die USA auch den Aufbau eines modernen Militärwesens. Ein Zusatz von Theodore Roosevelt zur Monroe-Doktin, die Roosevelt Corollary, besagt, dass die USA sich das Recht vorbehalten, in Staaten der westlichen Hemisphäre einzugreifen, die nicht in der Lage seien, die innere Ordnung oder staatliche Souveränität aus eigenen Kräften aufrechtzuerhalten.

Auch um die Jahrhundertwende begannen die sozialdemokratischen Parteien um die politische Richtung zu streiten. Karl Kautsky vertrat die Ansicht, dass aufgrund verbesserter Bedingungen wie Parlamentarismus und Wahlen die Sozialdemokratie die Herrschaft nicht mehr im bewaffneten Kampf, sondern durch Wahlen erobern kann. Daher sei die parlamentarische Regierungsform eine Vorbedingung für den Sieg des Proletariats. Einen Schritt weiter ging Eduard Bernstein. Er widerlegte die Katastrophentheorie von der Verelendung des Proletariats anhand umfangreichen Datenmaterials. Daher sei die Verbesserung der Lage der Arbeitenden mittels demokratischer Einrichtungen möglich. Die Eroberung der Macht und die Enteignung der Kapitalbesitzer sei kein Endziel mehr, sondern nur einer von vielen möglichen Wegen. Die ideologischen Grundlagen der modernen Sozialdemokratie sind gelegt.

Bedrohlich für Zentraleuropa wurde die Zerrissenheit Österreich-Ungarns. Eduard Graf Taaffe regierte als Ministerpräsident von 1879-1893 mit einem "Eisernen Ring" aus Deutschklerikalen, Deutschkonservativen, Polen, Slowenen und Tschechen. Die Deutschliberalen wandelten sich unter Georg Ritter von Schönerer zu einer antisemitischen Partei, welche zum beispiel den jüdischen Armenarzt Viktor Adler zur Sozialdemokratie vertrieb. 1891 gründete der Wiener Rechtsanwalt und "Schönerianer" die Christlich-Soziale Partei und war schließlich von 1897 bis 1910 Bürgermeister von Wien. Ministerpräsident Graf Kasimir Badeni erweiterte 1895 das Wahlrecht um eine fünfte Kurie (Männer über 24), scheiterte 1897 an einer Sprachenreform, laut der alle Beamte die Sprache hätten beherrschen müssen, in dessen Gebiet sie eingesetzt waren. Ab 1905 konnten mährische Gemeinden ihre Amtssprache selbst wählen, ab 1910 in der Bukowina. 1907 wurde schließlich das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht für Männer eingeführt. Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand trat für einen deutsch-ungarisch-slawischen Trialismus ein, der den österreichisch-ungarischen Dualismus ablösen sollte. In Ungarn verstärkte sich die Anziehungskraft radikal nationalistischer und antisemitischer Strömungen. Bereits seit 1883 verfolgte Ungarn eine Magyarisierungspolitik, unter der alle Minderheiten zu leiden hatten. Immer mehr wurde Serbien zu einem Gegenspieler von Österreich-Ungarn, vor allem seit 1908 Bosnien-Herzegowina von Österreich annektiert wurde. Auch war Österreich immer bestrebt, einen Zugang Serbiens zur Adria zu verhindern, bis hin zur Anerkennung eines unabhängigen Albanien.

Da Deutsche Reich entwickelte sich Ende des 19. Jahrhunderts zu einer Industriemacht. Der nationalistische Alldeutsche Verband verlangte bereits 1894 den Wandel Deutschlands von einer Großmacht zur Weltmacht, ein Streben, welches immer stärker von der Militärfraktion übernommen wurde. Weltpräsenz sollte der Bau der Bagdadbahn wie ein Kanonenbootauftritt bei Marokko zeigen. Präsenz wurde während der Niederschlagung des Boxeraufstands in China gezeigt, die Niederschlagung des Aufstands der Herero und Nama hatte die Vernichtung dieser Völker zum Ziel. Gegen diese Stärke rückten Frankreich, Russland und Großbritannien näher zusammen.

Heiß wurde es schließlich 1912 mit dem Ersten Balkankrieg, das diesen von osmanischer Herrschaft befreite. Doch führten die Auseinandersetzungen um Mazedonien bald danach zum Zweiten Balkankrieg, dessen Verlierer der Aggressor Bulgarien war. Die Türkei erhielt Edirne zurück. Um den russischen Einfluss zurückzudrängen plädierte der deutsche Kaiser Wilhelm der II. am 8. Dezember 1912 für einen sofortigen Krieg mit Russland, Kanzler Bethmann Hollweg konnte eine solche Entscheidung durch diplomatische Verbindungen mit Großbritannien noch abwenden. Österreich beschloss noch in diesem Monat eine Erhöhung der Mannstärke der Armee, was ein Wettrüsten zur Folge hatte.

1913 brachte die Entscheidung einer deutschen Unterstützung für die osmanische Armee Deutschland an den Rand eines Krieges mit Großbritannien. Auch diese Gefahr konnte noch diplomatisch abgewendet werden, wenn auch die deutsche Armee nun in der Türkei beratend tätig war. Auch Russland sah in dieser Entscheidung einen unfreundlichen Akt. Großbritannien wollte jedoch keinen Krieg und Russland fehlte die Unterstützung der westlichen Entente-Partner. Auch gelang 1914 zwischen Deutschland und Großbritannien ein Kompromiss bezüglich Bagdadbahn, die nicht von Basra weiter an den Persischen Golf geführt werden würde.

Das Schlüsselereignis war der 28. Juni 1914. Thronfolger Franz Ferdinand und seine Gattin wurden in Sarajewo in einem offenen Wagen erschossen. Ein totaler Sicherheitsplunder. Serbien sah in Bosnien-Herzegowina ein "unerlöstes Gebiet". Die Geheimorganisation "Schwarze Hand", deren Mitglied der Attentäter Gavrilo Princip war, wurde vom serbischen Geheimdienstchef und Generalstabsoberst Dragutin Dimitrejevic geführt. Am 20. Juni 1914 hat Wilhelm II. Österreich ein "Jetzt oder nie!" ausrichten lassen. Österreich selbst war noch vorsichtig, am 6. Juli sicherten Wilhelm II. und Bethmann Hollweg Österreich Unterstützung in jedem Fall zu und drängte auf "sofortiges Einschreiten seinerseits gegen Serbien als radikalste und beste Lösung unserer Schwierigkeiten auf dem Balkan". Die Motivation Bethmann Hollwegs war, dass jetzt die Kriegschancen besser stünden als in ein paar Jahren, wenn die Gegner selbst weiter hochgerüstet seien. Für Österreich stand bei Nichthandeln die Rolle als Großmacht auf dem Spiel. Schließlich übermittelte Österreich-Ungarn Serbien ein Ultimatum, auf das Serbien auf Anraten Russlands sehr konziliant einging. Für Wilhelm II. war damit der Kriegsgrund eigentlich weggefallen, doch Bethmann Hollweg schickte die kaiserliche Botschaft in verfälschter Form nach Wien, damit Österreich nicht einlenkt (erinnert mich an die Emser Depesche Bismarcks). Am 28. Juli erklärte Österreich-Ungarn um 11 Uhr Serbien den Krieg. Auch den Wunsch Wilhelm II., dass Österreich nur Belgrad einnehmen solle, wurde von Bethmann Hollweg nicht in dieser Weise weitergeleitet. Am 29. Juli ordnete Russland die Teilmobilmachung an, Österreich-Ungarn bombardierte Belgrad. Am 30. Juli informierte Italien, dass bei einem Angriffskrieg kein Bündnisfall vorliege, Russland ordnete als Reaktion auf die Bombardierung die Generalmobilmachung gegen Österreich-Ungarn an. Am 1. August erklärte Deutschland Russland den Krieg, am 3. August Frankreich, am 4. August marschieren deutsche Truppen in Belgien ein, im Gegenzug erklärte Großbritannien den Krieg an Deutschland.

Für Winkler steht fest, dass Österreich das Ultimatum aus Angst vor dem Verlust des Großmachtstatus gestellt hat und Deutschland es war, das aus Gründen des "Jetzt oder nie", des Ziels Weltmacht zu werden sowie wohl auch um die Sozialdemokratie nicht weiter erstarken zu lassen zum Krieg gedrängt hat und die Kriegspartei auch Bethmann Hollweg auf ihre Seite holen konnte. Nur in Russland seien Kräfte zu erkennen, die als Kriegspartei benannt werden könnten, solche gab es weder in Frankreich noch in Großbritannien. Der These, dass die Großmächte unwillentlich in einen Krieg geschlittert seien, kann Winkler nichts abgewinnen. Deutschland und Österreich hätten ihn gewollt.