Hinweis: Personen mit einer Abneigung gegen Spinnen bitte NICHT weiter lesen!

Zwielichtige Wegbegleiter

Nach anfänglicher Nervosität, war Eleanor inzwischen seit Stunden in einem Dämmerzustand. Eigentlich hätte sie dies zu einer ausgiebigen Meditation nutzen können, aber ihr war weit mehr nach dösen. Ihr Onkel dagegen saß seit die Karren sich in Bewegung gesetzt hatten, mit verschränkten Armen einfach da. Ohne ein Wort starrte er regungslos auf die Wand über Eleanor. Vielleicht war er auch bloß mit offenen Augen am Schlafen – so genau war es nicht zu erkennen. Das Innere des Wagens hatte sich als weit bequemer erwiesen, als sie es erst vermutet hatte. Durch die magische Verarbeitung des Materials war eine Raumkrümmung gegeben, die letztlich zum „Innen größer als Außen“-Effekt führte. Statt einer beengten Kabine in der man sich auf der Pelle saß, war genug Freiraum zwischen den beiden gepolsterten Wagenseiten. Sogar ein kleiner Abstelltisch fand an der Fensterseite seinen Platz.

Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie keinerlei Ahnung hatte, wie lange sie mit diesem Konvoi bis in die Stadt brauchten. Inzwischen war es auch zu dunkel draußen, um durch einen Blick durchs Wagenfenster die Ortschaft zu bestimmen. Es hieß wohl abwarten, wenn sie ihren Onkel nicht wohlmöglich doch aus dem vermeintlichen Schlaf holen wollte. Gerade, als Eleanor resigniert wieder ins Dösen verfallen wollte, sah sie es; eine Anhäufung schwarzer, behaarter Beine krabbelte über den Abstelltisch. Ganz unmädchenhaft musste Eleanor schmunzeln. Sie besaß keine Angst vor Spinnen. Dazu war sie viel zu lange mit der naturverbundenen Loree zusammen im Wald gewesen. Insekten und Tiere waren ihre Freunde. Sie verstand deren Gedankensprache zwar nicht wie ihre Freundin – aber Scheu vor dem Kontakt mit ihnen war ihr fremd.

So kam ihr beim Beobachten des Mehrbeiners eine Idee. In ihren Fingern sammelte sich ein ganz kleines Bisschen Magie und ganz vorsichtig entließ sie einen Hauch davon an die Luft um den Tisch herum. Ein Luftzug entstand, von dem die Spinne sanft von den Beinen gerissen und ca. zwei Zentimeter nach hinten versetzt wurde. Eleanor achtete bewusst darauf, nicht zu feste zu werden. Die Spinne blieb kurz verharren, vermutlich wusste diese nicht, was ihr gerade passiert war. Doch lange ließ sie sich nicht aufhalten – erneut tapste sie vor. Eleanor wartete einen Moment bis die Spinne kurz hinter dem zuvor erreichten Stück war – dann hauchte ein weiterer Windstoß die haarigen Beine an.

Diesmal hatte die Spinne weniger Glück und wurde auf ihren Rücken befördert. Leise flüsterte Eleanor schuldbewusst: „Ups…“ Es dauerte nicht lange, da halfen die hektisch zuckenden Beinchen dem Fliegenschreck wieder auf den Boden. Diesmal krabbelte sie panisch direkt weiter. Eleanor hatte mit sich zu kämpfen – die Spinne hatte offenbar Angst bekommen, aber das „Spiel“ hatte ihr richtig angefangen Spaß zu machen. Die Spinne war jedoch nur noch wenige Millimeter vom Tischrand entfernt und würde dann im Schatten verschwinden. Das Mädchen kämpfte ungeduldig mit sich selbst.

Im allerletzten Moment in dem das erste Beinchen gerade die Kante hinab fuhr, gab es ein Schnalzgeräusch und die Spinne wurde mit großer Wucht mitten über den Tisch und vor das Fenster geschleudert. Entsetzt über die eigene Grobheit, schlug Eleanor ihre Hand vor den Mund. Schmerzhaft durchzuckte es den ansonsten schlaffliegenden Spinnenkörper. Plötzlich drang eine Stimme durch das Fenster gedämpft in die Kabine: „Ey! Du spinnst wohl – was hast du mit meiner Isabel gemacht?!“ Erschrocken fuhr das Mädchen in ihrem Sitz hoch. Dann erkannte sie das Gesicht eines Mannes mit stechend-orangenen Augen kopfüber am oberen Fensterrand. Der Kopf zog sich mit wütender Miene zurück und es war Gepolter auf dem Wagendach zu hören. Die Dachluke wurde mit Gewalt aufgerissen und im nächsten Moment sprang ein Bündel aus Armen und Spinnweben in die Mitte des Raumes. Mit großen Augen drückte sich Eleanor so tief in ihre Rückenlehne wie nur möglich. Ein lautes Schmatzen war zu hören, während sich die Gestalt aufrichtete.

Es war der Spinnenmann, den sie bereits bei der Anmeldung vor sich gesehen hatte. Ein hasserfüllter Blick wanderte aus den starren Augen zu ihr herüber, dann wechselte seine volle Aufmerksamkeit zu der noch immer leblosen Spinne am Fensterrand. Behutsam nahm er sie in die Hand: „Was hat dir dieses Gör angetan, hm? War sie gemein zu dir?“ Liebevoll streichelte er ihr über den Körper. Mit einem Kloß im Hals entschuldigte Eleanor sich kleinlaut: „Ich wollte ihr nichts Böses tun, mir war bloß langweilig. Der letzte Schlag war etwas zu stark.“ Gebleckte Zähne zischten ihr vom Mann als Antwort entgegen: „Langweilig, hm? Aus Zeitvertreib quälst du meine arme Isabel. Fast zu Tode gequetscht hast du sie!“ Eleanor spürte, wie sie rot anlief. Peinlich berührt schaute sie zu hinunter zu ihren Füßen. Sie hörte den Mann murmeln: „Keinen Respekt vor den wahren Helden unserer Welt… Als Spielzeug missbrauchen, nein, nein, nein, meine arme Kleine.“

Eine weitere Stimme war oben an der offenstehenden Luke zu hören: „Jarvel?Jarvel! Wo steckst du schon wieder?“ Dann sah ein forsches Jungengesicht hinein und grinste: „Ah, da bist du ja!“ Prompt stieg der Junge geübten Sprunges ebenfalls in den Wagen und richtete sich zu dem Spinnenmann: „Was machst du hier? Die anderen Mitschüler belästigen?“ Mittellanges, dunkelblaues Haar, schwarze Augen – es war der Junge am Ende der Warteschlange. Nur heute trug er statt einem weißen T-Shirt ein blaues, heller als seine Haare. Der Gefragte jammerte: „Belästigen, belästigen! Die Hexe da hat meine Isabel mutwillig verletzt!“ Er hielt dem Jungen mit der einen Hand die Spinne hin und zeigte mit der anderen auf Eleanor. Verdutzt schaute der Junge zu ihr hinüber und stemmte seine Hände in die Hüfte: „Oh? Du schon wieder? – Verfolgst du mich etwa?“ Eleanor verteidigte sich: „DU bist doch bei MIR in den Wagen gesprungen!“ Da kratzte er sich überlegend am Kopf: „Stimmt auch wieder, na dann. Du darfst mich aber auch gerne verfolgen – ich steh auf Verehrerinnen.“ Er grinste sie mit scharf aufblitzenden Eckzähnen an. Eleanor kannte diese Zahnformation – er war ein manifestierter Dämon. Sie vermutete einen Mischling zwischen einem Menschen und einem Dämon der vermutlich dritten Ordnung. Er war bis auf die Zähne nicht als solcher äußerlich zuzuordnen, daher erschien ihr das am wahrscheinlichsten. Auf seine freche Bemerkung ging sie nicht ein, sondern entgegnete nach ihrem überwundenen Schreck: „Was hat die „Isabel“ überhaupt in UNSEREM Wagen zu suchen gehabt?“ Ehe der Mann antworten konnte, raunte es von ihr gegenüber: „Dieser Wagen gehört nicht uns, er ist Eigentum der Konvioführer und die anderen Fahrgäste dürfen sich innerhalb dessen frei bewegen.“ Ihr Onkel war etwa wach geworden oder hielt es nun für angemessen einzuschreiten.

Sauer über den unerwarteten Konter schaute sie eingeschnappt drein. Der Junge fasste sich beschämt an den Hinterkopf: „Na ja, aber die feine Art hier reinzuplatzen war es echt nicht. Kommt bestimmt nicht mehr vor.“ Jarvel schielte auf sie: „Ich werde Isabel sagen einen großen Bogen um diesen Wagen zu machen.“ Wirklich einsichtig wirkte das nicht, eher ziemlich schmollend. Wathras ergänzte: „Habt ihr zwei Morgenfrüh schon etwas vor?“ Alle drei sahen ihn verwirrt an. Die Männer schüttelten den Kopf. „Dann kommt doch zum Frühstück vorbei und wir freuen uns euch näher kennen zu lernen.“ Eleanor schluckte schwer, als sie das hörte. Während der Spinnenmann skeptisch dreinblickte, meinte der junge Dämon: „Eine kostenlose Mahlzeit – ja, klar sind wir dabei!“ Ihre Miene finsterte sich. Das ließ ihr Onkel nicht unquittiert: „Jetzt schau doch nicht so. Du musst dran denken – diese Leute werden deine neuen Mitschüler. Kann doch nicht schaden, sie schon vor dem Unterricht zu Freunden zu machen.“ Darauf feixte der Junge: „Ja, genau. So wie du drauf bist, brauchst du bestimmt ein paar Freunde.“ Eleanor riss sich zusammen, diesen kleinen Frechdachs würde sie noch dran kriegen. Wathras lachte: „Dann ist es beschlossen, wir sehen uns im Angesicht der ersten Sonnenstrahlen!“