Hartmann-Gregorius

Ganz genau weiß man nicht, wann Hartmann dieses Kurzepos geschrieben hat. Entweder noch in den 1180ern vor seinem Kreuzzug oder danach (spätestens 1197). Die Geschichte selbst ist mehr als skurril und knüpft an die Ödipus-Thematik an. Vorlage ist vermutlich ein verschollenes französisches Epos.

In Aquitanien stirbt nach der Geburt des zweiten Kindes, einer Tochter, die Mutter und etwa zehn Jahre darauf der herzogliche Vater,. Die beiden (wie im mittelalterlichen Epos üblich vortrefflichen und wunderschönen) Kinder verbringen viel Zeit miteinander und schlafen im gleichen Zimmer, bis der Teufel sie dazu bringt, miteinander zu schlafen, was Hartmann beinahe mit Genuss schildert. Sie wird schwanger, und ein weiser Berater hilft, dass das Kind Gottes Willen überlassen wird: es wird in einem Boot auf dem Meer ausgesetzt. Der junge Vater geht auf Pilgerfahrt nach Jerusalem und stirbt, die junge Mutter übernimmt das Herzogtum.

Das Boot mit dem Baby wird von Fischern aufgegriffen, und das Kind wird auf den Namen Gregorius getauft und in einem Inselkloster erzogen. Dort erweist es sich als höchst intelligent und in körperlichen Übungen als höchst geschickt. Nach der Pubertät möchte der Junge aber keine Klosterkarriere einschlagen, sondern Ritter werden. Er zieht aufs Festland und befreit eine Dame von einem abgewiesenen Freier, der ihre Burg seit langen Jahren belagert und das Umland niederbrennt. Sie heiraten: es ist seine Mutter.

Eine Kammerzofe entdeckt, dass Gregorius immer eine Metalltafel liest, auf der eine Botschaft seiner Herkunft ihm mitgegeben worden ist. Als sie dies ihrer Herrin entdeckt, ist seine Herkunft aufgedeckt und das Verhältnis zwischen Mutter und Sohn beiden eröffnet. Die Mutter entsagt ihrer Besitztümer, Gregorius lässt sich von einem ruppigen Fischer mit Fußfesseln an einen Felsen am Meer schmieden, der Schlüssel wird ins Meer geworfen. Siebzehn Jahre verbringt er auf diesem Felsen, wo er täglich aus einer kleinen Kuhle gesammeltes Wasser trinken kann.

Nach diesen 17 Jahren gelingt es in Rom nicht, einen neuen Papst zu wählen, und Gott selbst eröffnet, dass es einen Büßer gibt, der am besten geeignet sei. Die hohen Geistlichen finden Gregorius, im Magen eines Fisches findet sich der Schlüssel zu den Fußfesseln. Gregorius wird nach Rom gebracht, auf dem Weg dorthin vollbringt er Heilungswunder. Als Papst regiert er weise und streng, und seine auf Bußfahrt in Rom ankommende Mutter wird ebenso ihrer Sünden enthoben.

Deutungen gibt es viele, auffällig ist, dass es nicht Reue (seitens der Mutter, die bewusst mit ihrem Bruder geschlafen hat und worüber Hartmann schreibt, dass es beiden Spaß gemacht hat) ist, welche von Sünden befreit, sondern harte Buße, die bei Gregorius an die Sage von Prometheus erinnert. Als Beispielerzählung federt Hartmann ab, indem er mehrfach betont, dass ein so hartes Schicksal wohl kaum jemanden ereilt, die Buße der üblichen Sünden nicht ganz so hart ausfallen muss, um von Gott begnadigt werden zu können.

Literarisch ist ein Weg eingeschlagen, den Hartmann später im Epos Der arme Heinrich zur Vollendung bringt. Interessant die Fernwirkung: Thomas Mann greift in seinem Roman Der Erwählte diese Erzählung im Jahr 1951 wieder auf.