Nach dem französischen Ethnologen und Anthropologen Claude Lévi-Strauss (geb. 1908 ), der sich mit den Mythologien vieler Kulturen befasste, neigen Menschen von Natur aus zum »Dichotomisieren«.
Komplexe Situationen reduzieren sie gern auf ein viel zu einfaches Gegensatzpaar – wie Freund und Feind, Himmel und Hölle, Gut und Böse.
Wie die Wissenschaftsgeschichte zeigt, sind auch Forscher davor nicht gefeit. Zum Beispiel stritten im 18.Jahrhundert die Neptunisten mit den Plutonisten. Die Neptunisten glaubten, die Gesteine seien aus dem Urmeer, durch Ablagerungen aus wässrigen Lösungen hervorgegangen. Die Plutonisten dagegen waren davon überzeugt, dass die Hitze aus dem Erdinneren wesentlich zur Gesteinsbildung beitrug. Im Grunde hatten beide in gewissem Maße recht.
Eine ebenfalls hitzige und letztlich irreführende Kontroverse zur geologischen Geschichte der Erde entspann sich damals zwischen den Anhängern der Katastrophen- oder Kataklysmentheorie und den Uniformitariern. Die einen hielten eine kurze, von Vernichtung und Neuschöpfung geprägte Erdgeschichte für wahr. Die anderen setzten auf immer noch anhaltende, graduelle, gleichförmig-langsame geologische Vorgänge.
Und ein modernes Beispiel: Die einst streng gezogenen Grenzen zwischen Pflanzen und Tieren oder zwischen Einzellern und mehrzelligen Organismen erweisen sich jetzt als unscharf. Jeder Versuch, Lebendiges und Unbelebtes ein für alle Mal per Definition klar zu unterscheiden, kann nur eine falsche Zweiteilung liefern. Die erste komplette Zelle erschien eben nicht plötzlich aus dem Nichts. Leben dürfte vielmehr aus einer Abfolge von aufeinander fußenden jeweils neuartigen Phänomenen hervorgegangen sein. Auf etliche Ereignisse organischer Synthese folgten: molekulare Selektion, Konzentration, Abgrenzung, Organisation in diverse molekulare Strukturen. Eine molekulare Evolution trat auf, als die sich selbst replizierenden Moleküle immer komplexer und veränderlicher wurden. Diese Evolution wirkte durch eine natürliche Selektion, die dem Wettbewerb um begrenzte Rohmaterialien entsprang.
Wegen der heute aufscheinenden mutmaßlich tiefen Kluft zwischen Unbelebtem und Lebendigem ist jene stufenweise chemische Evolution von immer komplexeren Stadien jetzt verschattet. Sobald die ersten Zellen aufkamen, haben sie rasch so gut wie alle Spuren der früheren Stadien dieser chemischen Evolution vertilgt. Gefräßig, wie es war, nutzte das zelluläre Leben jenes »Protoleben« als reiche Nahrungsressource und rottete es dabei aus.
Die Aufgabe lautet somit nicht, die ultimative Definition von Leben zu finden. Vielmehr sollten wir uns damit befassen, in welchen – zunehmend hierarchischen – Schritten es möglich wurde, dass schließlich zelluläres Leben auf der präbiotischen, mit organischen Molekülen angereicherten Erde auftrat. Art und Abfolge könnten je nach Umgebung verschieden gewesen sein. Vielleicht finden wir die wirkliche Reihenfolge ja nie heraus, die sich auf unserer Erde abspielte – oder die Reihenfolgen.
Allerdings vermuten viele Forscher, dass der Weg zu jeder Zeit zumindest chemisch stets ähnlich verläuft – verlaufen muss – und zudem nicht umkehrbar ist, egal, auf welchem bewohnbaren Himmelskörper sich das Phänomen abspielt.
Für eine Definition ist es zu früh Für Definitionsbemühungen ist solch ein mehrstufiges Szenario durchaus erhellend. Grundsätzlich ist nämlich jede Festlegung auf eine Komplexitätsstufe, von der an solch ein System »zum Leben erwacht«, völlig willkürlich.
Die Frage »Was ist Leben?« ist damit letztlich eine semantische.
Die Natur birgt eine große Vielfalt komplexer chemischer Systeme. Zunehmend gelingt es Wissenschaftlern, dergleichen auch im Labor herzustellen. Doch wie merkwürdig oder neuartig sich solche Systeme auch verhalten mögen, keines ließe sich eindeutig kennzeichnen als entweder »belebt« oder »unbelebt«.
Die Philosophin Carol Cleland von der Universität von Colorado in Boulder und der Planetenforscher Christopher Chyba von der Universität Princeton (New Jersey) verglichen die aktuellen Versuche einer Definition des Lebens mit den fruchtlosen Bestrebungen im 18.Jahrhundert, Wasser zu charakterisieren. Vor der Entdeckung von Molekülen und vor der Atomtheorie war Wasser nur mit einer Auflistung von nicht ausschließlichen, ihm allein zukommenden Merkmalen beschreibbar.
Wasser ist klar und flüssig, viele Öle aber auch – außerdem ist schmutziges Wasser nicht klar. Wasser unterhält Leben, viele Nährstoffe jedoch auch – aber verseuchtes Wasser kann tödlich sein, selbst wenn man die Keime nicht einmal sieht. Es gefriert bei Kälte, dringt in Holz ein, fließt abwärts, et cetera, et cetera. Keine dieser Eigenschaften ist zur Definition notwendig und hinreichend. Im 18. Jahrhundert ließ sich die wahre Natur von Wasser schlicht noch nicht fassen – weil man noch nicht verstand, dass es aus besonderen Molekülen besteht, die sich aus zwei Wasserstoffatomen und einem Sauerstoffatom zusammensetzen.
Analog bewerten Cleland und Chyba unseren Kenntnisstand von Leben. Sie meinen, im frühen 21. Jahrhundert seien Wissenschaftler noch gar nicht in der Lage, es zu definieren. Es sei daher besser, aufgeschlossen zu bleiben und sämtliches Vorgefundene einfach nur genau zu beschreiben. Sollte Leben tatsächlich in mehreren Schritten entstanden sein, würde jede Stufe vielleicht ein eigenes taxonomisches Stadium von maßgeblicher Bedeutung darstellen. Jedes Stadium verdiente dann auch eine gesonderte Bezeichnung.
Wie nun kommen wir einer Definition des Lebens näher?
Um die Stadien von unbelebter zu belebter Natur bestimmen zu können, brauchen wir letztlich beides zusammen: Experimente mit geeigneten chemischen Systemen unter plausiblen geochemischen Umweltbedingungen, und damit verbunden die gezielte Erforschung unserer Nachbarplaneten. Das Konzept des Auftritts neuartiger Stufen erleichtert die Arbeit im Labor. Denn damit lässt sich das unermesslich komplexe historische Geschehen im Experiment auf eine überschaubarere Abfolge von Schritten reduzieren: wie das Erscheinen von Stoffwechsel, von genetischen (informationstragenden) Polymeren oder von selbstreplizierenden molekularen Systemen.
Jede Stufe lohnt sich experimentell zu erforschen und für jede kann man theoretische Modelle entwickeln. Die unschärfere Umschreibung liefert auch bei der Suche nach außerirdischem Leben Anhaltspunkte. So ist nicht unwahrscheinlich, dass auf dem Mars, dem Jupitermond Europa oder anderen Himmelskörpern unseres Sonnensystems nicht alle, sondern lediglich einige Stufen des Weges zum zellulären Leben auftraten.
Sofern es sich wirklich so verhält, wäre dies für die Astrobiologen der Nasa eine entscheidende Information. Angenommen, jedes Stadium am Ursprung des Lebens hinterließ typische, identifizierbare Signaturen – etwa charakteristische Spuren von Molekülen, Isotopen oder von markanten Strukturen: In dem Fall könnten Weltraummissionen nach ihnen gezielt fahnden.
Vielleicht verschlingen Zellen – als fortschrittlicheres Stadium – ja tatsächlich sämtliche primitiveren präbiotischen Formen. Vielleicht konnten die primitiveren Erscheinungen, zumindest »fossil«, nur dort überdauern, wo niemals ein zelluläres Leben auftrat. Solche präbiotischen Phänomene könnten dann als extraterrestrische »Abiomarker« dienen – nämlich als Beweis, dass die molekulare Evolution an jenem Ort über präzelluläre Stadien nicht hinauskam. Solche Befunde würden den Forschern erlauben, die außerirdischen Gebiete danach einzuteilen, bis zu welchem präbiotischen Stadium die Entwicklung jeweils gelangte.
Spuren von Protoleben auf Titan?
Der umwölkte Saturnmond Titan bildet in dieser Hinsicht ein reizvolles Studienobjekt. Er besitzt eine methanreiche Atmosphäre, eineinhalbmal dicker als die der Erde. Organische Moleküle, die ihr die neblig-orangerote Färbung verleihen, regnen auf seine Oberfläche herab und bilden dort eine dicke Schicht aus organischem Schlamm.
Seen aus Methan und Ethan existieren auf diesem Mond neben steinhart gefrorenem Wassereis. Für flüssiges Wasser ist es dort normalerweise viel zu kalt, ebenso für eine nennenswerte molekulare Entwicklung in Richtung auf Lebensformen oder Vorstufen davon. Doch es könnte sein, dass auf dem Titan von Zeit zu Zeit ein großer Komet oder Asteroid einschlug und nun einige Seen auftauten, die erst langsam von der Oberfläche her wieder erstarrten.
Tief unter der Eisdecke blieb in manchen Phasen vielleicht über Jahrhunderte oder gar Jahrtausende Zeit dafür, dass sich erste Schritte auf dem Weg zum Leben vollzogen. Auf der Erde mögen entsprechende Spuren vertilgt sein – auf dem tiefgefrorenen Titan könnten sie sich erhalten haben.
Die Frage »Was ist Leben?« setzt besondere wissenschaftliche Maßstäbe.
Zumindest so viel begreifen wir schon: Jede starre Zweiteilung in belebte und unbelebte Natur wäre allzu simpel. Vielmehr erschien Leben nach heutigem Verständnis allmählich und stufenweise. Der Prozess fing mit relativ einfachen geochemischen Abläufen an, entwickelte sich aber schließlich hin zu biologischer Komplexität. Die Zwischenschritte würden wir gern im Labor nachvollziehen. Vielleicht haben wir sogar das Glück, manche Stadien eines Tages auf anderen Himmelskörpern eingefroren aufzuspüren. Dann würden wir endlich wissen, wonach wir suchen.
Quelle: http://www.wissenschaft-online.de/artikel/905108