Versuch einer Bestandsaufnahme
1. Ab ca 16:30 Uhr kommt es auf einem Zwischenstück zwischen dem Zugangstunnel und dem eigentlichen Eingang des Festgeländes zu einer Enge, die von den Beteiligten als zunehmend bedrohlich empfunden wird. Videos dokumentieren diese Enge.
Ein Ablauf der Menge findet zu diesem Zeitpunkt nicht statt, weder auf das Festgelände noch zurück durch den Tunnel. Die Menge steht. Zumindest aus dem Tunnel drängen weitere Besucher nach.
Warum diese Enge entstehen konnte, ist noch nicht klar. Mögliche Gründe sind:
a) Unkontrollierter Zustrom neuer Besucher. Nachrichtenagenturen berichten bereits um 16:30 von einem "Besucherstau" vor dem Gelände. Dass zu diesem Zeitpunkt - kurz vor Beginn der Hauptveranstaltung mit den Live-Auftritten - hoher Andrang herrschte, ist unbestritten. Veranstalter Schaller behauptet, die Polizei habe alle 16 Zugangsschleusen vor dem Tunnel geöffnet (statt einem vereinbarten Maximum von 6) und dadurch den Tunnel überfüllt. Diese Aussage wurde bisher weder belegt noch widerlegt, kein Augenzeugenbericht erwähnt dieses Detail bisher.
b) Unerwartet hohe Anzahl von gleichzeitig abwandernden Besuchern. "Lukas", der kurz vor der Katastrophe auf dem Weg vom Festgelände zurück zur Rampe war, zitiert einen Polizisten mit den Worten: "In der Unterführung geht nichts mehr. Die Leute die rein und raus möchten, haben sich verkeilt. Ihr könnt hier nicht weiter" (
http://dontworrybaby.blogsport.de/2010/07/25/katastrophal/ (Archiv-Version vom 27.07.2010)). Zu- und abströmende Besucher mussten denselben Weg benutzen, die Ströme wurden nicht geteilt.
c) Desorientierung der neuen Besucher. Mehrere Blogger berichten, dass nach dem Verlassen des Tunnels nicht klar war, wie man denn nun aufs Festgelände gelangen sollte, bzw. dass sie den Zugang nur durch Zufall fanden. Wer aus dem dunklen Tunnel trat, sah sich umgeben von Betonmauern, Absperrungen, und einer weiteren dunkel gähnenden Tunnelöffnung gegenüber. Eine klärende Beschilderung war nicht zu erkennen. Klärende Lautsprecher-Durchsagen gab es entweder nicht, oder sie wurden nicht wahrgenommen.
d) Sperrung des Zugangs zum Festgelände. Mehrere Augenzeugen berichten, dass der Hauptzugang in den Minuten vor der Panik durch Polizisten abgesperrt gewesen sei. Die Polizei bestreitet, den Zugang gesperrt zu haben. Es berichten auch alle Quellen, dass auf dem Festgelände noch genügend Platz gewesen, es hätte also auch gar kein Grund für eine solche Absperrung vorgelegen. Es stellt sich dann allerdings die Frage, warum die Menge dann nicht abgeflossen ist - können "Verkeilung" und Desorientierung der Menge das völlige Übersehen eines ungesperrten offiziellen Auswegs erklären? Und was haben dann die Augenzeugen gesehen, die von einer Absperrung berichten?
Welche dieser Gründe zutreffen und zur Katastrophe beigetragen haben, werden die bereits angelaufenen Untersuchungen zu klären haben.
2. Die Menschen in der sich immer weiter verdichtenden Menge bekommen Angst und suchen nach Auswegen - was völlig verständlich ist, wenn man sich die Situation vergegenwärtigt, in der sie stecken: Eingezwängt zwischen Betonmauern, hinter sich der Tunnel, durch den weiter Leute einströmen und von hinten drücken; und kein sichtbarer Ausgang, auf den man sich zubewegt, stattdessen wird man von der Menge in Richtung einer Mauer gedrückt. Die einzig sichtbaren Auswege sind ein Container, eine schmale Nottreppe, und ein Metallmast, die alle jeweils erklettert werden und die - sichtbar - zu einem höher gelegenen Gelände führen, auf dem noch Platz ist. Viele Berichte beschreiben die Gefühle der Menschen in der Menge eindrucksvoll.
Was bringt einen Menschen dazu, sich in einer solchen Situation auf einen meterhohen Mast oder eine schmale und unsichere Treppe zu begeben? Dafür gibt es mehrere Gründe:
- schlichte Panik ("Nur raus hier, die erdrücken mich!")
- rationale Überlegung ("Da hochzuklettern ist zwar unsicher, aber hier unten ist es noch gefährlicher")
- Commitment zum vorherigen Ziel ("Ich will zur Love-Parade, ich bin fast da - nur noch da hoch, und ich hab es geschafft!")
- Fehleinschätzung der Situation ("Über die Treppe da sollen wir zur Parade?")
Keiner der Kletterer wird alle diese Überzeugungen gehabt haben, aber - und das ist wichtig - man kann auf den Videos eindeutig sehen, dass fast jeder, der in der Nähe des Containers, der Treppe oder des Metallmasts stand, es in dieser Situation tatsächlich für eine gute Idee hielt, hochzuklettern.
Die Aussagen der Organisatoren während der Pressekonferenz erscheinen angesichts der Videos sehr fragwürdig. Die Organisatoren versuchten, die Kletterer als Ungeduldige hinzustellen, die eine unerlaubte Abkürzung zum Festgelände gesucht haben. Sie haben verschwiegen, dass zu diesem Zeitpunkt im fraglichen Bereich bereits eine solche Enge herrschte, dass die Betroffenen guten Grund hatten, um ihre Gesundheit zu fürchten.
Die Videos zeigen eindeutig, dass es sich bei den Kletterern nicht um ein paar Halbstarke handelt, die sich und andere in unverantwortlicher Weise gefährdet haben. Natürlich gibt es solche Charaktere, und auf den einen oder anderen Kletterer wird dieses Klischee vielleicht sogar zutreffen. Aber wenn das Klettern nur eine unverantwortliche Schnapsidee ist, dann machen das nicht alle, die die Gelegenheit dazu haben. Dann gibt es auch ein paar Vernünftige, die sich nicht in Gefahr begeben und die vielleicht sogar ihre Freunde davon abhalten ("He, mach keinen Scheiß - kuck, da vorne gehts doch weiter"). Die Videos zeigen aber eindeutig, dass man nicht unverantwortlich und unvernünftig sein musste, um das Gequetsche am Boden verlassen zu wollen. Selbst für völlig vernünftige, verantwortungsbewusste, rationale Menschen gab es einen guten Grund, den Weg nach oben zu suchen, nämlich die sehr reale Gefahr, ansonsten zwischen den Betonwänden und den immer weiter nachströmenden Massen zerquetscht zu werden.
Ebenfalls kann ich keine Belege dafür entdecken, dass ein hoher Alkohol- oder Drogenpegel hier eine wesentliche Rolle gespielt hat. Wer von einer Menschenmenge, die dicht genug ist, um einem den Atem zu nehmen, auf eine Betonwand zugeschoben wird, der kann auch im nüchternen Zustand mit Panik oder Flucht reagieren.
3. Die Polizisten oberhalb der "Kletterwege" haben laut einer Aussage zunächst versucht, die Kletterer zurückzuhalten. Das klingt brutal, ist aber verständlich. Es konnte zunächst keine Lösung sein, der panischen Masse eine schmale und unsichere Treppe als Fluchtweg anzubieten, das Resultat wäre eine vorhersehbare Bewegung der viel zu großen Masse auf die viel zu kleine Treppe hin gewesen. Andererseits konnte man die Kletterer aber auch nicht wirklich in die sich immer weiter zusammenquetschende Masse zurückschieben. Die Polizisten und Ordner sind daher offenbar recht schnell dazu übergegangen, den Kletterern zu helfen statt sie zu behindern. Dadurch haben sie vermutlich Leben gerettet, allerdings zeigt sich darin auch das völlige Scheitern der Einsatzplanung für diesen Bereich. Wenn ein Container, eine unsichere Treppe und ein Metallmast zu legitimen Fluchtwegen werden für eine Veranstaltung, bei der ordentliche Fluchtwege von Rechts wegen vorgesehen sind, dann hat etwas gründlich nicht funktioniert - insbesondere wenn man bedenkt, dass die Masse nach gegenwärtigem Kenntnisstand über den Haupteingang aufs Festgelände hätte geleitet werden können.
4. Ein oder mehrere Kletterer stürzen ab. In der Pressekonferenz wurde dies als Haupt-Todesursache und als Auslöser der Panik dargestellt. Die Berichte der Augenzeugen stützen keine der beiden Thesen.
Die Panik ist durch die Enge, Unsicherheit und Orientierungslosigkeit entstanden. Viele Augenzeugen berichten über Panikgefühle bevor irgendwelche Kletterer angestürzt sind, teilweise sogar schon im Tunnel. Abstürzende Kletterer dürften sie allerdings verstärkt haben und könnten der Katalysator gewesen sein, der eine vorher noch halbwegs kontrollierte Flucht in eine blinde Stampede hat umschlagen lassen.
Dass Sturzverletzungen die Haupt-Todesursache seien, erscheint seltsam angesichts der Tatsache, dass fast alle Todesopfer vor der Treppe ums Leben kamen. Sie könnten dort zwar hingestürzt sein - entweder von oben über das Treppengeländer, oder von unten bei einem erfolglosen Versuch, sich hochzuziehen -, und das würde auch erklären, warum die Opfer so stark ineinander verkeilt waren, dass die Helfer Schwierigkeiten hatten, Einzelne herauszuziehen. Aber das Treppengeländer ist an dieser Stelle einfach noch nicht so hoch, dass ich dort mit massiven Sturzverletzungen rechnen würde. Außerdem frage ich mich, wie von einem kurzen Stück einer Treppe, auf der keine zwei Menschen nebeneinander gehen können, so viele Menschen abgestürzt sein können.
5. Die Panik verstärkt sich, die Menschen drängen nun durch den Tunnel nach draußen, was jetzt auch gelingt. Die wenigen Polizisten bei der Treppe und dem Container helfen vielen in Sicherheit. Ordner, Polizisten und Besucher arbeiten jetzt gut zusammen, was womöglich viele Opfer verhindert hat. Vor der Treppe versuchen Polizisten, die Menschentraube zu entzerren, in der man später die Opfer findet; dies gestaltet sich schwierig. Der Ort der Katastrophe ist für Helfer schwer zu erreichen, Fahrzeuge können erst in Stellung gebracht werden, nachdem der Tunnel sich geleert hat. Spezielle Rettungswege scheinen nicht zu existieren.