Der Mitinsker Friedhof
Weit entfernt von Tschernobyl, auf einem kleinen Friedhofaußerhalb von Moskau, liegt ein Teil der Geschichte dieser Tragödie begraben. Wenn esjemals eine Pilgerstätte für die Opfer der Katastrophe gab, dann ist sie dort, denn aufdem Friedhof von Mitinsk liegen die Leichen der Menschen begraben, die in den Wochen nachder Katastrophe in der Moskauer Klinik Nr. 6 ihren schweren Verstrahlungen erlagen. Esist ein unauffälliger Ort. Keine Gedenkstätte, keine Inschrift erinnert an das, was dieMenschen verband, die hier ihre letzte Ruhe gefunden haben. Seite an Seite, wie sie injener Nacht gegen die Atomkatastrophe gekämpft hatten, liegen sie nun an diesem traurigenOrt.
Unweit vom Eingang, von der Hauptallee aus links, stehen mehrere Reihengleicher Gräber, weiße Marmortafeln mit goldenen Aufschriften. Die Geburtsdaten sindverschieden, die Todesdaten liegen fast ausnahmslos im Mai 1986. Hier liegen die Heldenund die Opfer von Tschernobyl, möglich, dass unter ihnen auch die Schuldigen vonTschernobyl sind. Aber wer vermag diese schwierige, quälende Frage schon zu beantwortenim Angesicht ihrer Grabsteine? Der Tod hat sie alle gleichgemacht und uns Lebenden dasRecht auf nur ein einziges Gefühl gegeben: auf Trauer um den Verlust dieser jungenMenschenleben.
Der Friedhof, heute ein Ort des ewigen Friedens, war damalsSchmelztiegel des Schmerzes und der Trauer, Sinnbild für die Unbeherrschbarkeit desfriedlichen Atoms und den Mut, der in manchen von uns steckt, oft tief verborgen, bis manschließlich im Angesicht der Gefahr über sich hinauswächst. Der russische LiedermacherWladimir Wissotzki hat in einem seiner gefühlvollen Lieder gefragt: "Wie kann ein Menschsich bewähren, da ruht des Krieges Geschrei?"
Die Menschen von Mitinsk habendiese Frage eindrucksvoll beantwortet.
Ihre Särge wurden innen mit bleihaltigerPlastikfolie abgedeckt, über dem Sarg anderthalb Meter Betonplatten, mit Bleiverkleidung.Aber ihre letzte Ruhe wurde gestört. Leonid Toptunows Vater stand in diesen Wochen oft amGrab seines einzigen Sohnes und weinte. Viele Leute gingen an ihm vorbei, manche riefen:"Dein Hundesohn hat das Kraftwerk in die Luft gesprengt."
Wie schwer müssen jeneWochen für diesen Mann gewesen sein, der zuerst seinen Sohn einen qualvollen Tod sterbensah und danach an dessen Grab miterleben mußte, wie Leonids Andenken beschmutzt wurde?
Grigori Medwedew besuchte den Friedhof am ersten Jahrestag der Katastrophe. Erbeschreibt, wie er von der Metrostation Planernaja aus noch zwanzig Minuten mit dem Buszum Dorf Mitinsk fuhr und dort die Totenstätte aufsuchte: "Die Gräber der Feuerwehrleute,es sind sechs, versanken in Blumen und Kränzen mit Aufschriften von Verwandten undKollegen. Die Feuerwehrleute des Landes gedachten ihrer Helden. Die Gräber der Operatorentrugen weniger Blumen und überhaupt keine Kränze. Dennoch sind auch sie Helden, denn sietaten alles, was in ihren Kräften stand. Sie zeigten Mut und Tapferkeit und gaben ihrLeben.
Auf den Stelen der Feuerwehrleute waren goldene Sterne graviert. Überden Gräbern der Operatoren gab es keine Unterscheidungsmerkmale. Auch ihre Fotografienwaren verschwunden. Nur das Grab von Leonid Toptunow trug noch ein Bild. Er war noch einJunge gewesen, mit rundem Gesicht und vollen Wangen. Sein Vater hatte an seinem Grab einehübsche, kleine Bank aufgestellt. Sein Grab schien mir das Gepflegteste von allen zusein.
Ich dachte an die Toten, wie sie in ihren Zinksärgen liegen. Auf diese Weisekann nicht einmal die Erde ihr notwendiges Werk tun- die sterblichen Überreste der Totenin Staub zu verwandeln.
Selbst den Tod hat der nukleare Teufel entstellt.
Quelle:
http://www.benoroe.de/tschernobyl/tsch_06.htm#05 (Archiv-Version vom 20.04.2006)Credendo Vides --- E nomine patre et fili et spiritu sancti Amen