Nachts im Wald

Es war später geworden, als sie gedacht hatte, zu spät jedenfalls,
um über den Weg durch die Stadt rechtzeitig zu Hause zu sein. So blieb
ihr
nur die Abkürzung durch den Wald. Wegen des seit Tagen anhaltenden Regens
ging sie, so schnell sie konnte. Dunkel türmten sich am Rande des
schmalen
Pfades die Bäume hoch und ließen das Mondlicht nur schemenhaft den
Weg erhellen. Trotzdem fand sie ihren Weg ohne Schwierigkeiten, der am Tage
von
Joggern, Spaziergängern und Familien belebte Wald war ihr gut bekannt, an
Sonnentagen war er ein beliebtes Ausflugsziel für die kleine Stadt. Jetzt
jedoch, in diesem verregneten April, war er verwaist und nachts kam man sich
vor
wie der letzte Mensch auf Erden. Ihre halb durchnässten Sachen hingen ihr
auf der Haut und das Wasser rauschte leise die Äste hinab. Die einzigen
Geräusche, die sie vernahm, waren ihre eigenen Schritte, das leise
Knacken
der Äste unter ihren Füßen und die Geräusche der wenigen,
nachtaktiven Tiere, welche sich hinter den Bäumen verbargen. Eigentlich
kein ängstlicher Mensch, beeilte sie sich dennoch, den Wald zu
durchqueren,
zu ungemütlich war ihr das Wetter, zu unheimlich die Atmosphäre.
Dann aber geriet ein Stein in ihren Schuh, zuerst war sie willens,
weiterzulaufen, nach einer Weile jedoch wurde der Druck zu schmerzhaft und sie
blieb stehen, um sich den Schuh auszuschütteln. Nachdem die
Geräusche
ihrer Schritte so verstummt waren, umfing sie plötzlich die Stille des
Waldes. Sie war nahezu spürbar, nur untermalt von dem Tröpfeln des
Regens, dem Knacken der Äste und dem Wimmern. Dem Wimmern? Noch in der
Hocke, die Schnürsenkel in der Hand, horchte sie auf. Das Geräusch
durchdrang leise die anderen nächtlichen Geräusche, kein Schrei, nur
ein hoher Laut, kurz verstummend, dann aber wieder einsetzend. Der Schrecken
durchfuhr sie, rieselte leise ihren Rücken hinab und ließ sie starr
in ihrer Position verharren. Was war das gewesen? Immer noch horchend starrte
sie in die dunkle Wand aus Bäumen hinein, das Geräusch war wieder
verschwunden. Sie blieb noch eine Weile dort hocken, zu ängstlich war
sie,
um aufzustehen, und weiter zu gehen. Zu hören war nur noch der Wind, der
durch die Schneise des Weges wehte und die Bäume zum Rauschen brachte.
Aber
irgendwas war doch dort im Wald, irgendwas hatte doch diesen Ton erzeugt und
es
war ihr nicht bekannt, es war kein Tier, das in dem kleinen Wald lebte, kein
ihr
bekanntes. Und es klang auch nicht menschlich! Plötzlich fühlte sie
sich beobachtet, fühlte sich schutzlos, mit ihrem Rücken dem Wald
ausgeliefert, ihre Angst setzte sich spürbar in ihrem Nacken fest und sie
kauerte sich, so gut es ging, zusammen. Verstandesgemäß schalt sie
sich ein dummes Ding, versuchte sich selbst davon zu überzeugen, dass in
diesem Walde nichts war, nichts sein konnte, dass nur einen Kilometer weiter
der
Vorort mit seinen erleuchteten Straßen wieder anfing, aber sie konnte
nicht aufstehen. Zu groß war die Angst vor dem Unbekannten, zu
gelähmt war sie von ihrer Furcht. Nach einer kurzen Zeit, die ihr wie
eine
Ewigkeit vorkam, zwang sie sich, den Kopf zu drehen, hinterrücks in den
Wald zu starren. Nichts, da war nichts, da waren nur die Bäume, im
Mondlicht schwarz und bedrohlich, ab er dennoch nur Bäume! Wieder etwas
beruhigt schaute sie sich noch mal aus ihrer Position am Boden um, es war
nichts
ungewöhnliches zu erkennen, es war nichts anders, als sonst auch. Dann
hörte sie es wieder! Dieses feine, hohe, aber dennoch alles andere
übertönende Wimmern, dieses nicht zu identifizierende Geräusch.
Panisch schaute sie sich um, sah nur noch die Schatten der Bäume, durch
ihre schnellen Kopfbewegungen schien es so, als würden sie sich bewegen,
aus ihren Augenwinkeln sah sie die leicht wehenden Äste und das Wimmern
hörte nicht auf. Sie sprang auf und rannte los, rannte den Weg entlang,
rannte, als ginge es um ihr Leben, ohne sich noch einmal umzuschauen, lief, so
schnell sie konnte, dem sicheren Vorort entgegen.
Im Wald, direkt hinter den ersten Bäumen am Wegesrand, lag der
Säugling in seiner Tragetasche, vor Entkräftung nicht mehr
fähig
zu schreien, vor Kälte kaum noch lebendig. Und während die Schrift
auf
dem Deckchen liegenden Brief langsam vom Regen verwischt wurde, hörte das
Wimmern endgültig auf.