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1500 Seiten furioser Zeitreise. Nicht nur wegen des Themas, sondern auch wegen des Entstehungszeitraums (Ende der 1920er Jahre).

Hochgelehrt wird in kurzweiliger Essay-Form der Zeitraum von 1348 bis 1914 bezüglich Politik, Gesellschaft, Alltagskultur, Philosophie, Wissenschaft, Kunst und Literatur abgeklopft.

Friedells Definition von Kultur:
Der Mensch handelnd denkend gestaltend in Wirtschaft und Gesellschaft, in Entdeckung undErfindung, in Kunst, Staat und Recht, Wissenschaft und Technik Philosophie, Kirche und Sitte Religion.
Friedell war promovierter Philosoph, aber zeitlebens neben seiner publizistischen Tätigkeit Kabarettist und Schauspieler, bevor er sich in späten Jahren entschied, eine umfassende Kulturgeschichte der Menschheit zu schreiben.

Die Grenzen der Epoche setzt Friedell mit 1348 (die Pest als Katastrophe) und 1914 (Relativitätstheorie als Abschied von der bekannten Wirklichkeit, Weltkrieg als politischer Paradigmenwechsel).

Interessant, dass er Ende der 20er Jahre die Bruchlinien nach dem 2. Weltkrieg bereits erahnt, indem er letztlich nur drei, sich ausschließende Möglichkeiten der Entwicklung sieht:

- Sieg des Amerikanismus durch "Übertechnik"
- Sieg des Weltbolschewismus
- Chaos

Dies wäre der "Untergang des Abendlands" (Friedell schätzt Spengler sehr hoch).

Überhaupt keine Erwähnung in diesem Buch findet interessanterweise die ideologische Strömung, die ihm schließlich sein Leben kosten wird: der Faschismus. Am 16. März 1938 stürzt sich Friedell aus dem Fenster seiner Wiener Wohnung, als eine Horde SA-Schläger das Haus betritt.

Für dieses Forum vielleicht auch interessant: paranormale Phänomene (Telepathie, Telekinese, Levitation, Hellsehen u.a.) waren für Friedell real existierende Tatsachen, die er gegen Skeptiker verteidigt.

Infos und Zitate im Spoiler

Der Text ist streckenweise sehr witzig oder auch sehr scharfzüngig geschrieben.

Über das antike Griechenland:
Das Leben im griechischen Staat muß für moderne Begriffe schlechtweg unerträglich gewesen sein; der Terror unter den Jakobinern oder im heutigen Rußland kann nur eine sehr abgeschwächte Vorstellung davon geben. Zunächst muß man bedenken, daß die Möglichkeit, durch Raub, Kriegsunglück oder Verschuldung Sklave zu werden, für jedermann bestand, wie es ja auch zwei so exzeptionellen Menschen wie Plato und Diogenes tatsächlich passiert ist. Aber auch der Freie war nichts weniger als frei, sondern befand sich unter der latenten Bedrohung eines launischen Pöbels und eines gierigen Sykophantentums sozusagen in einem andauernden Zustand der »Bewährungsfrist«.

... in Sparta der militaristische Kommunismus mit streng uniformer Lebensweise, rationierten Mahlzeiten, exklusiver Verstaatlichung der Erziehung, völliger Gleichstellung der Frau, Verbot des Alkohols und der Ausreise, eisernem »Notgeld« und Bedrohung des Silberbesitzes mit Todesstrafe; und schließlich die extreme Demokratie, die keinen Parlamentarismus, kein noch so gleiches und noch so allgemeines Wahlrecht kennt, sondern nur lärmende Massenabstimmungen der ganzen Bevölkerung, nicht bloß über die Gesetze, sondern auch über deren jeweilige Ausführung, die das Geschworenengericht, zumindest in der Theorie, aus der gesamten Volksversammlung bestehen läßt, die Beamten durchs Los bestimmt und die Kriegführung zehn jährlich gewählten, täglich im Oberkommando abwechselnden Strategen überläßt!
Über Marxismus/Kommunismus:
Der Trugschluß, daß es nur Proletarier gebe, läßt sich nur durch zügellose Gewalt aufrecht erhalten, indem man nämlich alle anderen Klassenangehörigen ausrottet oder zu Proletariern kastriert.
Über die Beschleunigung des Lebens (er kannte keine Smartphones!):
Eine der wesentlichsten Veränderungen im äußeren Gestus des Zeitalters ist das Heraufkommen eines neuen Tempos: eilfertige Kleinbahnen, Großomnibusse, Tramways, anfangs mit Pferden oder Dampf, bald auch elektrisch betrieben, beherrschen das Stadtbild; Blitzzüge, von Jahr zu Jahr verbesserte Telephone, täglich wachsende Telegraphenanlagen besorgen den Fernverkehr. Dieses ebenso komplizierte wie zentralisierte Kommunikationssystem verleiht dem Menschen nicht bloß eine erhöhte Beschleunigung, sondern auch Allgegenwart: seine Stimme, seine Schrift, sein Leib durchmißt jede Entfernung, sein Stenogramm, seine Kamera fixiert jeden kürzesten Eindruck. Er ist überall und infolgedessen nirgends, umspannt die ganze Wirklichkeit, aber in Form von totem Wirklichkeitsersatz.
Pessimismus bezüglich neuer Energiequellen (Atomkraft):
Immerhin besteht die theoretische Möglichkeit, daß man eines Tages, auf diesem Wege fortschreitend, imstande sein wird, die ungeheueren, aber für gewöhnlich gebundenen Energiemengen, deren Sitz das Atom bildet, freizumachen und zu verwerten. Es ist berechnet worden, daß durch die Dissoziation eines einzigen Pfennigstücks etwa dreizehneinhalb Milliarden Pferdekräfte aktiv werden würden. Die Entbindung der »intra- atomischen« Energie würde selbstverständlich eine vollkommene Umwälzung aller irdischen Verhältnisse zur Folge haben. Hingegen können nur sehr naive Personen glauben, daß dies auch die Lösung der sozialen Frage bedeuten würde. Da der »Normalmensch«, der freilich gar nicht der normale ist, aber unser Wirtschaftsleben beherrscht, als gedankenloser Schurke geboren wird und stirbt, so ist zu vermuten, daß derartige Errungenschaften der Technik, ganz ebenso wie die bisherigen, nur zu neuen Formen der allgemeinen Habsucht und Ungerechtigkeit führen würden. Man stelle sich vor, daß vor zweihundert Jahren jemand prophezeit hätte, in welchem Maße es der Menschheit gelingen würde, die magnetische Energie, die elektrische Energie, die Sonnenenergie, die in der schwarzen Kohle, und die Wasserenergie, die in der »weißen Kohle« aufgespeichert ist, nutzbar zu machen: welche ganz selbstverständlichen Schlüsse auf paradiesische soziale Zustände hätten die Philanthropen daraus gezogen! Statt dessen ist alles viel schlimmer geworden, und Europa zerfällt in kapitalistische Staaten, in denen die meisten Bettler sind, und in Sowjetstaaten, in denen alle Bettler sind. Nein: durch die »Aktivierung des Atoms« würden bloß die Oberen noch gieriger, die Unteren noch ärmer, also beide noch hungriger werden und die Kriege noch bestialischer; zur Lösung der sozialen Frage bedarf es einer moralischen Emanation, Strahlenerzeugung und Atomzertrümmerung.
Das Werk gibt es in verschiedenen Versionen auch online als kostenloses E-Book.

Wikipedia: Egon Friedell
Wikipedia: Kulturgeschichte der Neuzeit

Interessanter Artikel auf der Seite des Deutschlandfunk:
http://www.deutschlandfunk.de/ein-genialer-dilettant.700.de.html