(...)

Wir, die wir so etwas erlebt haben, sind anders als andere Menschen. Aliens. Und es tut gut, als Alien mit Aliens Kontakt zu haben.

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass man schnell als „abartig“ oder etwas milder ausgedrückt: als absonderlich gilt, wenn man über das Geschehene spricht. Wie Gesichter versteinern, wenn ich sage, dass ihr Sterben ein ganz heiliger Moment war, ähnlich, wie die Geburt eines Kindes. Dass sie so wunderschön war...

Da habe ich das erste Mal bemerkt, dass ich mich aus der Welt der anderen entferne. Die Menschen wunderten sich, warum man so frank und frei über alles redete, was passiert ist, sie nannten uns „stark“ und „tapfer“. Dabei waren wir Zombies, die vor ihnen standen. Die Leere ganz tief drinnen hat keiner bemerkt. Die konnten wir auch nicht aussprechen oder beschreiben. Mutterseelenallein auf der Welt zu sein benutzen die meisten Menschen als Redewendung, um auszudrücken, dass sie sich einsam fühlen. Mutterseelenallein zu sein auf der Welt ist für uns jede einzelne Stunde des Tages unsere Realität. Einsamkeit ist ein Witz.

Ich würde gern aller Welt von dieser Zeit erzählen, von dem Grauen. Ich möchte jeden Menschen damit konfrontieren und möchte deren Betroffenheit erleben, ihr Entsetzen, weil ich es selbst nicht fühlen kann. Stellvertreter-Reaktionen. An den Reaktionen anderer kann ich besser begreifen, was in mir los ist. Es wird greifbarer, was passiert ist.

Aliens erkennen Aliens. Man erkennt sich an der Stille, die uns umgibt. Aliens wirken stabil und stark. Wirken geordnet, aber sehr schweigsam. Sie lachen über alles, machen Witze, aber nur mit Tiefgang, sie können über alles reden, aber nicht darüber, was wirklich los ist. Diese Stille bemerken wir Aliens. Es umgibt uns wie eine Aura. Und es tut gut, einen Alien an seiner Seite zu haben, ohne, dass man darüber reden oder bitten muss. Die Luft nach oben wird sehr dünn, wenn man so etwas erlebt hat. Die Auswahl an potenziellen Partnern, Freunden und Gesprächspartnern verringert sich sehr drastisch. Es geht nicht darum, dass andere ähnliches erlebt haben müssen, sondern es geht darum, dass es kaum Menschen gibt, die uns aushalten können. Die Nachsicht, die wir brauchen können meist nur Menschen geben, die das Leben und sich selbst „überlebt“ haben. Und das können meist nur jene, die einen Kampf bestanden haben gegen einen Gegner, der stärker war als sie.
Leid ist ein Lehrer, der dich verändert und Türen zu einem Leben schließt, das die meisten Menschen leben. Ipods, Klamotten, die berufliche Karriereleiter… alles völlig ohne Bedeutung.

Wir lernen im Laufe unseres Lebens Millionen von Bedienungsanleitungen für alle entsprechenden Situationen. Unser Fahrplan zur Orientierung und Organisierung unseres Alltags. Ich habe keine dieser Anleitungen mehr. Ich spreche keine Sprache mehr. Und ich verstehe die Sprachen der anderen nicht mehr. Meine Sprache heißt Schweigen, Leere. Nichts.

(...)