Turchin-End Times

Peter Turchin ist eine Besonderheit im akademischen Wesen. 1957 in der Sowjetunion geboren, musste er 1977 diese verlassen, da sein Vater, der Atomwissenschafter und Dissident Valentin Turchin, exiliert wurde, und kam in die USA, wo er seine Studien in Biologie abschloss. Als Biologe hat er bis 1997 Populationsentwicklungen von Tieren analysiert und dabei quantifizierende Methoden (also solche mit vielen Daten) angewendet. Als er der Ansicht war, nun alles Wesentliche in diesem Fach beigetragen zu haben, hat er sich mit denselben Methoden der Entwicklung von menschlichen Gesellschaften beschäftigt, vor allem mit der Fragestellung, warum diese oft auch sehr gewaltsam desintegrieren, welche Parameter beitragen und ob diese Desintegrationsprozesse vorhersehbar oder aufhaltbar sind. Bis 2022 leitete Turchin das Institut für Evolution an der Universität Connecticut und in Wien war er Projektleiter am Complexity Science Hub. Seine historische Forschungsrichtung bezeichnet er Kliodynamik (cliodynamics), benannt nach der griechischen Muse der Geschichte, Klio. Methodisch arbeitet er mit Big Data (Daten zu Wirtschaft, Soziologie und Bevölkerungsentwicklung), welche er mit historischen Ereignissen verknüpft.

Turchin baut immer noch auf dem Nimbus auf, dass er in einem Blogbeitrag 2010 erste Aufstände in den USA für etwa 2020 prognostiziert hat. Der Kapitol-Sturm scheint ihm ja recht zu geben. Nur: Zufallstreffer oder präzise Prognose? Mit diesem Buch prognostiziert er für die USA eine Ära der Aufstände für die 2020er Jahre (ähnlich der 1920er Jahre), danach eine fünzigjährige Beruhigungsphase, bei der die Ursachen jedoch nicht gelöst sind, sondern die Beruhigung eher durch den Schock der gewaltsamen 2020er Jahre hervorgerufen ist. Nach zwei Generationen tritt die nächste Phase der sozialen Unruhe ein. Im Augenblick ist er bei Journalisten sehr gefragt, auch die WELT hat ihn letzte Woche interviewt.

Für die Entwicklung von Krisen sieht Turchin vier Parameter:


  1. Relative Verelendung der Nicht-Eliten
  2. Vergrößerung der Kluft zwischen Reich und Arm
  3. Bereicherung und Vergrößerung der Eliten
  4. Verlust des Vertrauens in die Gesellschaft bzw. den Staat


1 und 2 sind dadurch verknüpft, dass zum Beispiel durch stagnierende oder sinkende Löhne mehr Reichtum zu den Besitzenden gespült wird. Turchin nennt dies Reichtumspumpe (wealth pump). Für die USA gilt dies seit den 1970er Jahren. Seit dieser Zeit wuchs die Zahl der Superreichen, während die Lohnabhängigen im Produktionsbereich von ihrem Geld immer weniger sich leisten konnten. Zuvor war seit dem New Deal eine Zeit gegeben, in der bis 1964 weiße männliche Arbeiter hohe Lohnzuwächse bekamen, Gewerkschaften einen hohen Einfluss ausübten, hohes Einkommen bis zu 90 Prozent besteuert war. Ab 1964 konnten auch Afro-Amerikaner für eine kurze Zeit profitieren.

Für die USA kommen nun zwei Stränge zusammen. Es gäbe eine Gegenelite, welche den Schritt in die Top-Jobs wegen zu großer Konkurrenz nicht schaffen und zum Teil sich radikalisieren (links wie rechts), eine verarmende arbeitende Schicht, deren weißer Teil populistischen und rassistischen Radikalisierungen zugänglich ist, darauf aufgesetzt ist ein Wahlsystem, das die bevölkerungsarmen und wirtschaftlich degradierten Gebiete bevorzuge: Sich in der Wahlpropaganda auf diese Wählerschicht zu konzentrieren, war das Erfolgsrezept von Trump 2016 und wird ohne Wahlreform weiterhin ein Erfolgsrezept sein, solange Deindustrialierung und Lohnabbau weitergehen, die Reichtumspumpe am Laufen gehalten werde.

Ein durchgängig zu beobachtender Marker für Krisen von Gesellschaften ist die relative (oder auch absolute) Verarmung der produktiven Masse der Bevölkerung bei gleichzeitiger Vergrößerung und Bereicherung der Eliten. Zu revolutionären Umstürzen tragen beide Aspekte bei. Die deklassierte Unter- und Mittelschicht ist in der Regel nicht zu Revolutionen fähig, jedoch zu gewaltsamen Aufständen. Zur revolutionären Tat braucht es Ideologien und Konzepte (egal ob religiös oder politisch). Diese liefert die Gegenelite, die ihren Platz an der Sonne anstrebt (sei es Hong Xiuquan beim Taiping-Aufstand in China ab 1851 oder sei es der Lehrersohn Lenin 1917 in Russland). Wenn diese toxische Mischung (Verelendung der Bevölkerung und Machtstreben einer ausgegrenzten Gegenelite) zusammentrifft, entsteht eine revolutionäre Situation.

Wie die revolutionären Situationen gelöst werden, lässt sich schwer prognostizieren. Turchin bringt Prozentzahlen, wie viele blutig gelöst wurden. Der Anteil ist sehr hoch. Die aufgezählten Möglichkeiten sind: die Elite lässt den Herrscher fallen (Nero 68 n. Chr., Batista in Kuba 1959, Janukowytsch in der Ukraine 2014), es entbrennt ein Bürgerkrieg zwischen rivalisierenden Gruppen der Gegenelite und zum Teil der aktuellen Elite (die blutigste Form), die Gegenelite wird in den Krieg geschickt (englische Adelssöhne nach Frankreich während des 100-jährigen Kriegs, französische Adelssöhne nach Palästina während der Kreuzzüge), Mischungen aus Kriegen und Bürgerkriegen (Dreißigjähriger Krieg im 17. Jahrhundert). Gegeneliten können auch intern reduziert werden (Stalin war ein Meister der blutigen Variante, aber auch Jobs im sehr unproduktiven Bereich wie Professuren zur Kategorisierung von Moosen gehören zu dieser Form der Elitenreduktion, da diese Forscher:innen aus dem Konkurrenzpool genommen werden). Das Spektrum in Bezug von Umgang mit Gegeneliten ist breit.

Mit eine Rolle spielt auch die Verbreitung der Ideologie (Propaganda). Die Echokammern der Facebook-Revolutionen im arabischen Raum 2011 oder der Twitter-Kampagne von Trump sind nichts Neues. Es waren die Echokammern der Presse, welche 1848 die Revolutionen in Europa befeuerten (ausgehend von einem kleinen Aufstand in Italien zu einer Revolution in Frankreich und dann nicht mehr zu stoppen). Es sei auch eine Frage, wie viele Menschen radikalisiert werden können, ob eine Krisensituation blutig wird oder nicht. Es seien vor allem junge Menschen, welche von Radikalen radikalisiert werden können. Erst die bittere Erfahrung von blutigen Auseinandersetzungen lasse aus Radikalen Moderate werden, die einfach schockiert sind und diese Ereignisse nicht wiederholt haben wollen. Wenn die Moderaten verstorben sind (nach etwa zwei Generationen), gehe die Krise weiter, wenn die Ursachen nicht gelöst wurden (Reichtumspumpe).

Das große Ziel von Turchin ist, nicht nur Prognosen, sondern auch Handlungsanleitungen zu entwickeln, sodass Krisen nicht gewaltsam werden. Als positive Beispiele bringt er den New Deal in den USA, aber auch die Abschaffung der Leibeigenschaft in Russland, welche für zwei Generationen eine explosive Situation verhindern konnte, nicht zuletzt, da Großgrundbesitzer, die dadurch wirtschaftlich zusammenbrachen, in den Administrationsapparat bzw. in die Armee integriert wurden (die Gegenelite wurde neutralisiert).

Für die USA empfiehlt er als ersten Schritt die Umkehr der Lohnstruktur. Löhne gehören angehoben und die Reichtumspumpe damit abgedreht. Eine sofortige Steuererhöhung für die Reichen empfiehlt er nicht, da dies die Unzufriedenheit der Gegenelite erhöhen könnte und somit ein populistisches Propaganda- wie Mobilisierungsfenster geöffnet werden könnte (rechts wie links).

Ob die USA die Herrschaftsform der Plutokratie (Umfragenanalysen zeigen, dass Mehrheitswünsche der nicht der Elite zugehörigen Bevölkerungsteile nie Gesetz werden, wenn die Top-Vermögenden anderer Meinung sind) ändern kann, ist Turchin nicht sicher. Gesellschaften tendieren zu angestammten Herrschaftsformen (Ägypten ist mit Sisi wieder eine Militokratie, die Sowjetunion wurde ein Bürokratiestaat wie es das Russische Reich war). Das Ziel müsse daher ökonomisch gelöst werden: Anhebung der Löhne und Stopp der Reichtumspumpe sofort, mittelfristig Anhebung der Steuern für Top-Vermögende.

Insgesamt ein sehr eigenwilliger Zugang zur Interpretation historischer Entwicklungen mit einigen durchaus nachdenkenswerten Aspekten. Eigenartig ist der sehr von sich selbst überzeugte Schreibstil. Etwas viel Eigenlob.