Theoretisch liegt die Erklärung des Crookesschen Radiometers in der Tatsache. daß das Licht von den schwarzen Seiten der Flügel absorbiert und von den weißen reflektiert wird. Letztere sind einem stärkeren Strahlungsdruck ausgesetzt. werden also vom Licht "geschoben". Bei den handelsüblichen Radiometern sind es aber ganz im Gegenteil die schwarzen Seiten, die sich vom Licht entfemen. Da in dem Glaskolben kein vollkommenes Vakuum herrscht, sind die schwarzen Seiten wärmer als die weißen und stoßen die mit erhöhter Geschwindigkeit auf sie auftreffenden Moleküle wieder ab, was eine Rücklaufbewegung zur Folge hat. Das Crookessche Radiometer dreht sich also verkehrt herum, ein Grund mehr, daraus ein Symbol des wissenschaftlichen Mythos zu machen. - (archi)

Mythos (2) Von Prometheus berichten vier Sagen: Nach der ersten wurde er, weil er die Götter an die Menschen verraten hatte, am Kaukasus festgeschmiedet, und die Götter schickten Adler, die von seiner immer wachsenden Leber fraßen.

Nach der zweiten drückte sich Prometheus im Schmerz vor den zuhackenden Schnäbeln immer tiefer in den Felsen, bis er mit ihm eins wurde.

Nach der dritten wurde in den Jahrtausenden sein Verrat vergessen, die Götter vergaßen, die Adler, er selbst.

Nach der vierten wurde man des grundlos Gewordenen müde. Die Götter wurden müde, die Adler wurden müde, die Wunde schloß sich müde.

Blieb das unerklärliche Felsgebirge. — Die Sage versucht das Unerklärliche zu erklären. Da sie aus einem Wahrheitsgrund kommt, muß sie wieder im Unerklärlichen enden. - Franz Kafka

Mythos (3) Eine der großen alten Mythenerzählerinnen unter uns ist Anna Seghers, und es gibt eine Geschichte von ihr, die immer wieder zitiert und gelesen und vorgelesen wird, obwohl sie eigentlich doch gar keine sonderlich starke Geschichte zu sein scheint, und die zudem noch einen schrecklich anmutenden Lapsus enthält - das ist die Geschichte mit dem Schilfrohr. Ein ganz einfacher Zusammenhang: Ein verfolgter Antifaschist wird von einer Unbekannten in einem märkischen See verborgen, und zwar mit einem Schilfrohr im Mund, damit er während dieser Stunden auch Luft bekommt - nur: durch ein Schilfrohr bekommt man nicht Luft, das ist innen von Knoten zugewachsen - ein schrecklicher Fehler, nicht wahr? Aber seltsam - dennoch, und ich wage zu sagen: gerade deshalb blüht die Erzählung auf und wird groß. Denn statt des langweiligen und für die Dichtung hier gänzlich gleichgültigen botanisch Richtigen der Schilfhalmanatomie ist etwas unvergleichlich Anderes, Größeres, Unsterbliches in diese Prosa gekommen: die Natur selbst nimmt diesen Flüchtling auf, sie schließt ihn in ihrem mütterlichsten Reich ein, im See, im Wasser, im Uterus, das ist ein uraltes Mythenmotiv, in zahllosen Märchen kommt es vor, der Held, der sich am Grund des Sees versteckt - Mutter Erde selbst verbirgt ihn, so gerecht ist die Sache gegen die Nazis, so groß ist die Kraft der Schwachen -, es ist ein Unsterblichkeitszug.

Das botanisch Richtige ist etwas ganz Anderes - und das kann man in jedem Lehrbuch finden, und in diesem Zusammenhang darf an das Wort Goethes zur Literatur erinnert werden: «Das Richtige allein ist nicht sechs Pfennige wert, wenn es weiter nichts zu bringen hat!» - Aus: Franz Fühmann, Das mythische Element in der Literatur. 1975

Mythos (4) Ein perverses Huhn hatte die mythologische Geschichte von Kronos gelesen, der seine neugeborenen Kinder verschlang. Während seine Mithühner auf den Wiesen nach Körnern und Würmern suchten, nahm es das Ei, das es gerade gelegt hatte, kochte es weich und fraß es mit Genuß, mitsamt der Schale, zur großen Empörung des ganzen Hühnerhofs. - (ma)