Drei Nazguls flogen über Herberts Kopf hinweg. Noch heute bewegte ihn der Anblick dieser gewaltigen Tiere. In den Legenden der Menschen waren sie bekannt als blutrünstige Monster, die edle Prinzessinnen gefangen halten und nur durch den mutigen Ritter besiegt werden können. Doch all jene, die an böse Monster glaubten, wurden nun eines besseren belehrt. Natürlich waren auch die Nazguls höhere Wesen, deren Anwesenheit immer nur gespürt wurde. Sie trieben unser inneres Feuer an, wenn mir euphorisch an eine grosse Tat heran gingen.
Einige Kilometer den grünen Hügel hinunter trabten einige ehemalige Krieger von Guluk'Drai über einen schmalen Trampelpfad. Einer der Hünen blieb plötzlich unvermittelt stehen und erblickte Herbert. Mit langsamen, schweren Schritten stapfte er in seine Richtung. Einige Meter vor dem kleinen Mann, der sich da in der Sonne badete, hielt er inne und bewegte langsam seine Hand in Richtung des stahlblauen Himmels.
"Sei gegrüsst, Herbert."
"Ich grüsse dich, edler Krieger." antwortete Herbert mit lauter Stimme.
"Die Zeiten des Krieges sind vorbei und auch ein Edelmann bin ich nicht mehr. Nenn mich bei meinem Namen: Atar."
"Wie du wünschst, Atar. Wahrlich, es sind ruhige Zeiten...und doch geschah so unglaublich viel. Aber sag mir eines: Was weisst eigentlich DU über die sagenumwobenen Nazgul."
"Nazgul? Du meinst die Feuervögel? Sieh sie dir an: Einen gülden glänzenden Schweif ziehen sie hinter sich her, die Augen Feuerrot. Einst wurden sie von Königen geritten. Nun sind sie frei wie der Phoenix, der sich aus der Asche erhebt. Ihr Ursprung ist unbekannt. Man sagt, sie seien Abkömmlinge des Urvogels. Hast du schon vom Urvogel gehört, Herbert?"
Herbert zog erstaunt die Augen hoch. "Sprichst du von einem Dinosaurier?"
Atar brach in grollendes Gelächter aus. "Oh nein, der Urvogel ist kein Flugtier. Er ist die Kraft der grossen Sonne. Er ist das Licht der Welt. Seit dem Anfang des Universums gleitet er zwischen den verschiedenen Ebenen umher und hält die Waage zwischen dem Dunkel und dem Licht. Doch nun ist sein Kampf vorbei und seine Energie hat sich ins Alles verteilt. Er ist noch viel unergründlicher als die vereinten Lichtwesen. Kaum eine Zivilisation im Kosmos hat ihn je gesehen."
"Aber so wie du erzählst, scheint der Vogel also mehr ein Zeichen für das Licht zu sein. Er ist im Grunde gar kein Vogel, sondern ist das, was ich auf der Haut fühle und was mir so gut tut, wenn ich hier im Sonnenlicht bade. Er ist ein Symbol"
"Du magst recht haben." antwortete Atar. Aber laut einer Sage ist der Urvogel seit der Erfüllung seiner Bestimmung wieder in der Wesenswelt vertreten und zwar in der Gestalt eines einfach, kleinen Vogels. Genau so, wie es vor Beginn des Alls war."
"Aber vor Beginn des Alls war nichts. Wie kann etwas gewesen sein vor dem Beginn des Alles."
Atar zögerte lange. Sein Blick wurde plötzlich sehr ernst. "Mein lieber Herbert, darüber kann auch ich nichts berichten. Das Volk der Guluk'Drais existiert schon viel länger als jenes der Menschen. Aber auch wir können nicht sagen, was vor dem Beginn des Alls war. Einzig die vereinten Lichtwesen wissen darüber Bescheid. Denn sie wurden schon vor langer Zeit in die Mysterien des Universums eingeweiht. Nur so viel kann ich dir sagen: Noch glaubst du an Zeit und an Gesetz, an auf und ab, an dort und dort, hinten und vorne, lebendig und tot. Aber stell dir eine Welt ohne all das vor. Die Menschheit wird selbst sehr bald in jenen Stand erhoben. Der Mensch ist eine Perle der Schöpfung, das war schon immer so. Doch wie jede Perle, muss sie zuerst wachsen und während dieser Zeit wird sie sich bewusst, was sie kann und was sie nicht kann. Ihr seid aufgrund eurer angeborenen Unfähigkeit mit dem fragilen Gefüge der Welt umzugehen durch die Hölle gegangen. Der Mensch IST untergegangen, kann man sagen. Doch nun hat sich der Phoenix von Neuem erhoben. Er ist wieder da und er ist schöner als je zuvor. Behalte das Bild des Phoenix vor deinem inneren Auge. Sein Zyklus ist der Zyklus des Menschen.
So, ich hoffe du kannst mich entschuldigen. Ich muss meine Kollegen aufholen. Bis bald."
"Danke für die Geschichte, Atar. Und übernimm dich nicht zu fest. Die Zeiten des Krieges sind vorbei. Da kannst du auch mal wieder ausruhen."
"Ein Guluk'Drai ruht niemals!" brüllte der weise Erzähler und trabte davon.
Mit den schrillen Schreien der Nazgul in den Ohren, schlief Herbert langsam ein und träumte vom Urvogel und seinem universellen Licht.