Nettes Doppel-Editorial aus der FR:

Liebe Deutsche! Eine zärtliche Schimpfkanonade

Fünfzig Jahre nach dem Abschluss des Anwerbeabkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei: eine zärtliche Schimpfkanonade.
Viele der sogenannten türkischen Gastarbeiter blieben in Deutschland. Sie holten im Laufe der Jahre ihre Familien nach und wurden zur größten Bevölkerungsgruppe mit ausländischer Herkunft.
Viele der sogenannten türkischen "Gastarbeiter" blieben in Deutschland. Sie holten im Laufe der Jahre ihre Familien nach und wurden zur größten Bevölkerungsgruppe mit ausländischer Herkunft.

Wenn ich so anfange, muss ich natürlich erklären, wen ich damit meine. Das ist in Deutschland so. Mit „den Deutschen“ sind natürlich die gemeint, die von sich meinen, dass sie Deutsche sind. Das muss jeder für sich entscheiden. Es gibt keine „deutsche Jury“ die wie bei einer Casting-Show entscheidet: Du rein, Du raus.

Anlässlich des 50-jährigen Jubiläums des Abkommens zur Anwerbung türkischer Gastarbeiter hat es hier und da einige Sonderseiten in Zeitungen gegeben. Ich wundere mich grundsätzlich, warum es ein dringendes Bedürfnis nach Berichterstattung über Deutsch-Türken gibt, aber nicht jede Redaktion zum Zerbersten voll mit Kindern nicht nur türkischer sondern aller Einwanderer ist? Journalisten schreiben Artikel darüber, ob in „Türken“ menschliches Leben ist. Wären ein paar „Türken“ in der Redaktion, könnten sie mal anfassen und nachprüfen. Zum „Über-Türken-Urteilen“ klappern stattdessen halbtalentierte Schreiber irgendwelche Türkenalleen ab und berichten, ob die Affen schon in der Zivilisation angekommen sind.

He, ihr halbtalentierten Arschlöcher, ich bin ein solcher Affe und ja, ich kann schon mit Messer und Gabel essen.

In der Wochenzeitung Die Zeit regte sich Feridun Zaimoglu wahnsinnig darüber auf, dass sich manche nicht trauen, zu sagen: „Ich mag keine Türken“. Stattdessen Statistikschrott und abgestelztes Pseudo-Bescheidwissen auf allen Kanälen. Er versteht nicht, dass es so schwer fällt, türkischen und anderen Gastarbeiter mit Respekt zu begegnen, schließlich seien sie nicht zum „Daumenlutschen“ gekommen. Die nicht Achtung haben, sollen sich, Achtung Zitat, „ins Knie ficken.“ Ich würde solche Beschimpfungen nie in dieser Form aussprechen. Ich würde immer ergänzen: Vergesst nicht, in die anderen Gelenke mit reinzustecken!

Die abfällige Arroganz mit der sich Kollegen auf das sogenannte Türkenthema stürzen und einer ganzen Generation ihre Fieberthermometer hinten rein stecken, um den, ich muss mich fast übergeben, wenn ich das Wort aufschreibe: „Integrationsgrad“ zu messen, ist zum Gehirnherpes zu bekommen. Ich gebe nichts auf Integration. Niemand soll sich integrieren. Ich integrier mich auch nicht. Ich denke gar nicht dran.

Wenn sich jemand integrieren soll, dann jene Deutsche, die ernsthaft glauben, dass man in bestimmte Viertel des Landes gehen könne, um entsetzt festzustellen: Hier sind ja nur Türken! Es gibt eben Viertel, da wohnen Menschen, die dunkle Haare haben. Das sind aber nicht Türken. Das sind Deutsche mit dunklen Haaren. Ich selber wohne in einem Viertel, in dem fast nur Ossis wohnen, wie mancher sagen würde. Es gibt keine Ossis. Das sind Deutsche, die wie ehemalige Ossis reden und sich so kleiden. Diese Deutschen müssen ja auch irgendwo wohnen! Freiwillig will ja keiner von denen wegziehen, zum Beispiel dahin, wo die mit den dunklen Haaren wohnen. Müssen sie ja nicht. Es ist wie im Swinger-Club, jeder soll, wie er will! Ich bin schon eine Kulturstufe weiter. Ich mache es mir selbst. Beziehungsweise mit meinem Kollegen Arno Widmann.

Gemeinsam haben wir eine Beilage zum Thema „türkische Gastarbeiter“ gemacht. Über die Arbeit fing er an einen dunklen Schnurrbart zu bekommen - weiß der Himmel warum - schauen Sie selbst!

Ihre Mely Kiyak




Liebe Türken! Eine scheue Liebeserklärung

Fünfzig Jahre nach dem Abschluss des Anwerbeabkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei: eine scheue Liebeserklärung.
In Deutschland leben etwa 2,5 Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln. Die ersten kamen Anfang der 1960er Jahre als Gastarbeiter. Anders als geplant blieben viele.
In Deutschland leben etwa 2,5 Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln. Die ersten kamen Anfang der 1960er Jahre als "Gastarbeiter". Anders als geplant blieben viele.

Danke schön! Als die DDR die Mauer baute, suchte die BRD nach Arbeitskräften. Ihr kamt. Ihr habt unseren Boom gerettet. Ihr habt dafür gesorgt, dass die Kohlen gefördert wurden, dass die Hochöfen rauchten und nebenbei habt Ihr, als die Tante-Emma-Läden eingingen, dafür gesorgt, dass das Kleingewerbe in unseren Städten nicht ausstarb.

Für den Wohlstand Deutschlands und der Deutschen habt Ihr mehr getan als alle Bundesbanker zusammen - eingeschlossen jenen einen, der findet, dass Ihr nicht genug getan habt und tut. Der Reichtum, von dem herab manche Euch jetzt beschimpfen, ist zu einem Gutteil Euer Werk. Meine Rente zahlt auch ihr. Unsere Versicherungssysteme wären längst zusammengebrochen ohne Euch und ohne Eure Kollegen aus anderen Ländern. Die Deutschen allein wären längst bankrott. Auf jeden Fall aber ausgestorben.

Wir vergessen gerne, dass die großen Streiks der Bundesrepublik ohne Euch nicht möglich gewesen wären. Die wilden Streiks, die gar zu oft gar zu angepassten Gewerkschaften Beine machten ebenso wie die hochoffiziellen, wie jene zum Beispiel zur Durchsetzung der 35-Stunden-Woche.

Deutschlands langer Weg nach Westen, die langsame Wandlung eines paternalistischen Obrigkeitsstaates in eine moderne Demokratie - ohne Euch hätten wir das nicht geschafft. Auch dafür: Danke schön!


Wir tun heute gerne so, als wäret Ihr Hindernisse auf unserem Weg. Das ist Blödsinn. Schon darum, weil längst nicht mehr klar ist, wer dieses Ihr und wer dieses Wir sein soll. Wir fangen gerade erst an zu begreifen, dass wir alle zusammen das Wir sind. Der einzig vernünftige Weg, den wir gehen können, ist ein gemeinsamer Weg, einer, den wir - miteinander streitend und kämpfend - aber eben doch zusammen gehen.

Danke der Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin Emine Sevgi Özdamar, die unsere Fantasie unter anderem mit „Das Leben ist eine Karawanserei, hat zwei Türen, aus einer kam ich rein, aus der anderen ging ich raus“ beflügelt. Danke, Feridun Zaimoglu! Du hast uns erst „Kanak-Sprak“ beigebracht und hauchst jetzt dem deutschen Bildungsroman neues Leben ein. Danke, Shermin Langhoff! Dein Berliner Ballhaus Naunynstraße erinnert einen immer wieder daran, was Theater alles kann, wenn es kann. Danke, Fatih Akin! Danke für „Gegen die Wand“, für „Crossing The Bridge - The Sound of Istanbul“.

Liebe Türken, ich könnte hier noch viele Namen von Menschen aus der Türkei nennen, ohne die die deutsche Kultur ärmer und dümmer wäre. Es gibt türkische Sozialarbeiter, die sich um Alte und Jugendliche kümmern. Sie tun mehr für die Integration dieser Gesellschaft als wir Journalisten. Es gibt türkische Ärzte und Unternehmer. Sie alle helfen bei dem niemals enden wollenden Wettbewerb „Unser Land soll schöner werden“.

Womit wir beim Wichtigsten wären. Als kleiner Junge träumte ich von schwarzgelockten Prinzessinnen. Meine blassen, blonden Klassenkameradinnen konnten mit den Augen, den Haaren, den Lippen den zierlichen Taillen der Frauen meiner Fantasie nicht mithalten. Jetzt leben diese Prinzessinnen unter uns. Sie bringen ihre Schönheit in unser Land. Eine Schönheit, von der wir lange nur träumten. Auch sie sind Deutschland. Ein Traum ist wahr geworden. Danke auch dafür.

Ihr Arno Widmann