Wer sich dem jüdischen Volk zugehörig macht durch den Akt des Übertritt, wählt einen Namen der innerhalb der jüdischen Gemeinschaft inskünftig der seinige sein wird und wird so xxx Tochter/Sohn unseres Vater Abraham. Ausser in Ausnahmefällen bleibt der frühere Name Ausdruck seiner zivilen Identität.
Können sich diese Personen nun als Nachkommen Abrahams betrachten und können sie auch als solche betrachtet werden? Bleiben ihre Eltern nun ihre Eltern? Diese Frage stellt sich denn auch tatsächlich, denn für gewisse Rabbiner entsteht bei dem Übertritt ein Brauch, und sie gehen gar so weit zu behaupten, dass in Olam Haba, der Welt jenseits des Lebens, diese Trennung weiter bestehe.
Man muss zuerst daran erinnern, dass sich diese Frage im biblischen Zeitalter nicht stellte. Beim Auszug aus Ägypten begleiteten zahlreiche Nichtjuden die Nachkommen der Patiarchen. Sie überquerten das Schilfmeer, sie hörten Gott die zehn Worte (Gebote) aussprechen, sie haben Manna gegessen und von der Wasserquelle getrunken, die dem Volk Israel überall auf seiner langen Reise gefolgt ist.

Zur Zeit des Talmud jedoch waren gewisse Rabbiner der Meinung, dass die Übergetretene den Gott Abrahams weder ansprechen noch sich auf das von Gott an Abraham abgegebene Versprechen beruhen dürften, ihm den Besitz des Landes Israel zu geben. Gemäss dieser Überzeugung dürfte also ein Übergetretener nicht Schaliach Zibbur sein (das Gemeindegebet leiten), das Birkat Hamason sprechen (Gebet nach der Mahlzeit), da sich diese Texte ja auf das Abraham zum Besitz gemachte Land Israel beziehen (Mischna bikkurim 1:4).
Andere vertreten dagegen die Meinung, dass diese Personen als die geistigen Nachkommen Abrahams betrachtet werden müssen, und dass sie dieselben Rechte und Verpflichtungen wie die jüdisch geborenen Juden haben. Letztere Ansicht gewann schliesslich die Oberhand (siehe Talmud von Jerusalem Bikkurim 1:4 (64a), Jad Bikkurim 4:3, Schulchan Aruch Orah Chajim 53:19).
Dies wird überigens durch Maimonides in seinem "Brief an Ovadiah" klar ausgedrückt, in welchem er dem übergetretenen Ovadiah schreibt: Ihr müsst die Gebete so sprechen wie sie vorgeschrieben sind.... wie jeder jüdische geborene Jude es auch tut... Ein jeder, der übertritt, ist Sohn Abrahams, unseres Vaters, Friede sei mit ihm, und der Sohn/Tochter seines Hauses..... Abraham, unser Stammvater... ist der Vater aller Nachfahren, wie er auch der Vater ist seiner Schüler und jeden Fremden, der übertritt....
Er ist daher Euer Stammvater... und Ihr habt die Pflicht zu sagen, dass Gott "uns dieses Land zum Erbe gegeben hat", wie auch dass er "uns aus Ägypten, dem Sklavenhaus, befreit hat" und dass er "für unsere Vorfahren Wunder vollbracht hat"... Abraham hat den Glauben an Gott und die Abkehr von der Götzenanbetung gelehrt, und hat so zahlreiche Menschen in den Schutz der göttlichen Präsenz gebracht.... Daher ist bis zum Ende der Zeit ein jeder, der sich zum Judentum bekehrt, ein Schüler Abrahams, unseres Vaters... der der Vater aller Proselyten ist... In dieser Beziehung besteht überhaupt kein Unterschied zwischen Euch und uns
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Maimonides fügt noch hinzu, dass Ihr (der Proselyt) Eure eigenen Vorfahren nicht als unwichtig betrachten sollt. Der Proselyt soll ihnen Ehre erweisen für die zu seiner Erziehung und Ausbildung erbrachte Mühe. Er soll sie daher weiterhin ehren, so wie er es bisher getan hat. Der Talmud bestimmt weiter, dass die moralische Pflicht des Übergetretenen gegenüber seinen Eltern nach dem Übertritt die gleiche bleiben müsse wie zuvor, damit man nicht sagen könne, dass sein moralisches Gewissen vor dem Übertritt höher gewesen sei als nachher (Talmud B., Jevamot 22a, Jad Mamrin 5:11, Jore Deah 241:9). Der Rabbiner P.M. Posner führt in seinem Kommentar des Briefes von Maimonides (CCAR Journal Sommer 2013 185-202) aus, dass Gott als Schöpfer aller Dinge auch der Ursprung des Lebens der Eltern Ovadiahs, des Übergetretenen sei, wie auch von diesem selbst. Sein Übertritt zum Judentum ist daher kein Grund, sich von seinen Eltern abzuwenden, denn seine neue Identität zerstört die bisherige Familienbindung nicht.
Der jüdisch gewordene Mensch besitzt daher zwei Abstammungen: eine Familienabstammung, die ihn mit seinen Eltern und seiner Familie verbindet und eine geistige Abstammung, die ihn mit Abraham, mit all unseren Vorfahren und dem jüdischen Volk verbindet.

Rabbiner F. Garai, Genf