Die weiße Fahne

Angela Merkel hat Einheimischen wie Migranten den Glauben genommen, dass die Grenzen Deutschlands noch eine Bedeutung haben. Einen verhängnisvolleren Fehler hätte sie kaum begehen können.
01.11.2015, von Berthold Kohler


Im Ausland heißt es, die Deutschen hätten ihre Grenzen aufgegeben. Da kennt das Ausland die Deutschen aber schlecht. In jedem Amtsgericht würde es eines Besseren belehrt. Dort wird wegen vielem gestritten, um kaum etwas aber so erbittert wie um Grenzverletzungen, tatsächliche oder auch nur gefühlte. Wegen überhängender Äste, auf der falschen Seite des Zaunes herabfallender Äpfel und Rauchschwaden vom Grill, die sich partout nicht an die Vorgaben der Katasterämter halten, gehen sich selbst ansonsten friedliche Zeitgenossen an die Gurgel, nicht nur im übertragenen Sinne. My home is my castle, sagt der Engländer. Der Deutsche nickt und ergänzt: Mein Zaun ist meine Burgmauer.

Zäune verschaffen den Leuten gute Gefühle, sonst gäbe es nicht so viele, nicht nur in Deutschland: Jägerzäune, Lattenzäune, Maschendrahtzäune, Staketenzäune, Stacheldrahtzäune. Mit ihnen werden Grundstücke eingefriedet. Schon dieses Wort verrät, was Zaunbauer sich von ihren Zäunen, Hecken und Palisaden erhoffen: ein bisschen Frieden und Ruhe vor dem Chaos und den Gefahren der Welt. Zäune schaffen Sicherheit oder wenigstens ein Gefühl davon. Zäune zeigen, wo die Grenzen verlaufen: zwischen Mein und Dein, zwischen unseren Regeln und euren, zwischen privat und öffentlich. Zäune trennen nicht nur, sie stehen auch für Zusammengehörigkeit. Sie zeigen an, wer sich als Gemeinschaft begreift. Sie sind Symbole einer von allen akzeptierten Ordnung.

Menschen brauchen Grenzen und Abgrenzungen. Um die Welt verstehen und ihre Unordnung ertragen zu können. Zur sozialen und politischen Organisation. Zur Selbstvergewisserung. In jeder Schrebergartenkolonie, in jeder Vorstadt, in jedem Neubaugebiet kann man sehen, dass die Deutschen in Grenzfragen Hegelianer sind: Etwas ist nur in seiner Grenze und durch seine Grenze das, was es ist. Ihre Prozesshanselei hindert die Deutschen nicht daran, einer ordentlichen Grenze – einer mit einem Zaun – friedensstiftende Wirkungen zuzuschreiben. Auch mit dieser Ansicht sind sie nicht ganz allein, wie ein weiteres englisches Sprichwort beweist: Good fences make good neighbours.

Mauern in Deutschland als Mittel der Politik delegitimiert

In der Politik aber gilt das nicht (mehr). Dort machen Zäune inzwischen böses Blut. Im Verhältnis von Staaten wie Deutschland und Ungarn, aber auch in den innenpolitischen Debatten. Deutschland wird von einem besonders schweren Grenzkonflikt erschüttert: zwischen den politischen Eliten und einem wachsenden Teil der Bevölkerung. Politiker aus ganz unterschiedlichen Parteien und bis hinauf in die Staatsspitze behaupten, Zäune lösten die durch den Flüchtlingsansturm aufgeworfenen Probleme nicht. „Ich bin überzeugt, dass man ein Land wie Deutschland nicht abriegeln kann, auch ein Zaun würde verzweifelte Menschen nicht abhalten“, sagte Bundeskanzlerin Merkel im Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

Sie glaubt wie viele andere deutsche Politiker nicht an die Macht einer Mauer: Im 21. Jahrhundert könne sich niemand mehr vom Rest der Welt und ihren Konflikten abkoppeln. Mauern sind in Deutschland als Mittel der Politik ähnlich delegitimiert wie militärische Gewalt. Dass die in der DDR groß gewordene Merkel nicht als neue Mauerbauerin in die Geschichte eingehen will, ist verständlich. Aber auch Westdeutsche schwingen diese Keule, weil sie sich so schön schwingen lässt. „Ich will nicht, dass wir in Deutschland wieder eine Mauer bauen“, sagt EU-Parlamentspräsident Martin Schulz.

Hat das schon jemand gefordert? Die Bevölkerung erregt sich nicht darüber, dass noch kein Politiker die Errichtung eines neuen Todesstreifens vorschlug. Sie geht in wachsendem Maße auf die Barrikaden, weil sie zunehmend das Gefühl hat, die Politik habe die weiße Fahne gehisst, die Wachen von den Toren abgezogen und zu einem großen Burgfest eingeladen. Die Flüchtlingskrise offenbart, dass die politischen Eliten und viele Bürger erheblich unterschiedliche Ansichten darüber haben, wie weit die Souveränität eines Staates noch reicht.

Die Spitzenpolitiker reden über den Flüchtlingsansturm wie über eine Naturgewalt, dem aus humanitären, rechtlichen, politischen und schlicht sachlichen Gründen wenig entgegenzusetzen sei. Niemand, der noch bei Trost ist, wird den Vergleich zu einem Wirbelsturm ziehen. Doch so kommen die Äußerungen der Politiker im Volk an: Man könne ein solches Ereignis nicht aufhalten, sondern allenfalls dafür sorgen, dass der Schaden und die Kosten, die es verursacht, möglichst klein bleiben.

Deutschland hatte und hat immer noch eine Wahl

Bürger, die noch an den Sinn des Nationalstaats und damit an die Bedeutung des Dreiklangs von Staatsvolk, Staatsgebiet und Staatsgewalt glauben, können das nur als bedingungslose Kapitulation, als politischen Offenbarungseid verstehen. Der deutsche Staat bestimmt derzeit faktisch nicht mehr, wer sein Gebiet betreten darf. Er toleriert – und unterstützt – die massenhafte Missachtung seiner Gesetze. Die politische Auffanglinie, der zufolge die in Deutschland verbleibenden Migranten möglichst schnell und vollständig integriert werden sollen, wird mittelfristig zu einer Veränderung des Staatsvolkes führen.

Gefragt worden, ob es das alles will, ist das Staatsvolk nicht. Es gibt Politiker und Parteien, denen die Antwort schlicht nicht gefallen würde. Und andere, die sich vor ihr fürchten, weil sie glauben, dass sie den politischen Auftrag nicht ausführen könnten, der sich daraus ergäbe.

Doch dass die Politik diese Frage nicht gestellt hat, verhindert nicht, dass das Volk sie sich stellt, ganz im Gegenteil: Sie wird, wenn die mittel- und langfristigen Folgen und Kosten der Masseneinwanderung spürbar werden, immer schärfer wiederholt werden. Dann wird es nicht mehr reichen, zu sagen, Deutschland habe keine Wahl gehabt. Deutschland hatte und hat immer noch eine Wahl: was die Signale angeht, die es aussendet, bei der Behauptung seiner Grenzen, generell im Umgang mit den Migranten.

Es wird wegen seines auch von der Vergangenheit geformten Selbstverständnisses und der in Europa geltenden Rechtsordnung nie so hart mit ihnen umgehen wollen und können wie etwa die Australier oder die Amerikaner. Aber so grenzenlos offen und großherzig wie jetzt kann die Republik nicht bleiben. Sonst wird es auch im bislang politisch stabilen Deutschland zu einer weiteren Entfremdung von „oben“ und „unten“, zur Ausbreitung der Parallelwelten und zu einer politischen Radikalisierung kommen. Auch Solidarität, Loyalität und Toleranz haben Grenzen.

Inhuman will in Deutschland niemand sein

Die Kluft zwischen einer Politik, die sagt „Wir können nicht anders“, und einer Bevölkerung, die dem entgegnet „Wir wollen es so aber nicht!“, ist schon jetzt unübersehbar. Besonders deutsche Politiker macht es fassungslos, dass im vereinten Europa wieder Zäune errichtet werden. Sie sehen das politische Werk von Generationen in Gefahr. Und das sollen die Deutschen wollen, die doch wenigstens so gerne grenzenlos reisen? Die Politik übersieht, dass sie ein weiteres Versprechen nicht einhalten konnte, das sie in Verbindung mit der europäischen Einigung gab – das der sicheren Außengrenzen. Jeder, der jetzt ruft, Europa dürfe nicht zu einer Festung werden, vergisst, dass genau das der Plan von Schengen war: keine Kontrollen mehr an den Grenzen zu Frankreich, Polen oder Österreich, dafür aber umso striktere an den Außengrenzen dieser Gemeinschaft. Die Grenzen sind nicht abgeschafft, sondern nur verschoben worden.

Die Schengen-Einfriedung aber wurde schon beim ersten Ansturm überrannt. Deutschland öffnete danach auf Geheiß der Kanzlerin und unter Verweis auf die Gebote der Humanität auch noch die Tore zu seinem Burghof. Inhuman will in Deutschland niemand sein. Wie lange könnten die Deutschen wohl Bilder von Flüchtlingsmassen ertragen, die sich im Winter vor seiner Grenze stauen? Doch gegenwärtig kommen in den Wohnzimmern andere Botschaften an: dass es keine Grenzen mehr gibt, dass Deutschland den wandernden Völkern so offen steht wie ein Scheunentor bei der Heuernte. Eine Nation wird von dem Gefühl beschlichen, nicht mehr Herr im eigenen Haus zu sein.

Gravierende Folgen für das Innenleben Deutschlands

Der Einwand der politischen und wirtschaftlichen Eliten, das sei unter den Bedingungen der Globalisierung und Digitalisierung ohnehin nur eine Illusion, trägt nicht wirklich zur Beruhigung bei. Er wird als weiterer Beleg für eine politische Selbstaufgabe gesehen. Andere halten die angebliche Machtlosigkeit nur für Propaganda. Sie wollen eine gesellschaftspolitische Agenda erkennen, deren Ziel das möglichst umfassende Einreißen von Grenzen ist, von der Grenze zwischen den Geschlechtern bis zu der zwischen den Völkern. In beiden Fällen wird der Verzicht auf die Kontrolle der Grenzen nicht als Befreiung verstanden, sondern als Bedrohung.

Es liegt, auch wenn das gegenwärtig so scheint, nicht nur im Interesse der Einheimischen, dass Deutschland seine Grenzen zu schützen weiß. Das müssen sich auch die Migranten wünschen – jedenfalls jene unter ihnen, die tatsächlich vor Krieg und Terror flüchten. Sie wählen Deutschland als Fluchtpunkt, weil sie es für einen friedlichen und starken Staat halten, der im Inneren wie nach außen seinen Schutzpflichten nachkommt. Dazu muss er auch die Inkorporierung von Konflikten und von Gefahren für die Bürger und für sich selbst verhindern. Das kann er nur, wenn er Herr über seine Grenzen bleibt. Er darf sie nicht aufgeben.

Die Grenzen von Ländern sind meistens nicht viel mehr als Linien auf Karten – und Linien in den Köpfen der Menschen. Grenzen funktionieren nur dann in der gewünschten Weise, wenn die Leute vor und hinter ihnen glauben, dass diese Linien Sinn, Grund und Bedeutung haben und deswegen auch aufrechterhalten werden. Die Kanzlerin hat vielen Menschen, ob sie schon in Deutschland leben oder erst noch kommen wollen, diesen Glauben genommen, mit gravierenden Folgen für das Innenleben und die Außenbeziehungen Deutschlands. Einen verhängnisvolleren Fehler hätte sie kaum begehen können.
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