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Mit diesem Roman bin ich ins linke politische Russland des 19. Jahrhunderts vorgestoßen. Tschernyschewski war eigentlich politischer Journalist, von Marx sehr geschätzt (wegen seiner soll er begonnen haben Russisch zu lernen).

1862 wurde er wegen seiner Schriften verhaftet und in der Peter-und-Paul-Festung interniert, 1864 zu Zwangsarbeit nach Sibirien verfrachtet und erst knapp vor seinem Tod in seine Heimatstadt Saratow zurückgelassen.

Während seiner Haft in St. Petersburg begann er Romane zu schreiben, um seine Texte durch die Zensur zu bekommen, und Was tun? war sein erster.

Dieser 600-Seiten-Schinken ist ein Ideenroman, in dem er vor allem Frauenrechte und Genossenschaftswesen zum Thema machte.

Ideenroman ist halt eine zähe Form von Literatur, in diesem Fall ist eine Wera Hauptfigur, sie wächst in einer sehr repressiven Hausmeisterfamilie auf und heiratet den Hauslehrer ihres kleinen Bruders.

Die beiden schätzen sich sehr, aber eine heiße Liebe ist das nicht (getrennte Schlafzimmer). Ihr Mann, der ein Familienvermögen als finanziellen Hintergrund besitzt, studiert Medizin, Wera eröffnet eine Nähereimanufaktur nach den Prinzipien von Proudhon und beteiligt die Näherinnen am Gewinn.

Wera verliebt sich schließlich leidenschaftlich in einen Freund ihres Mannes (auch Mediziner), ihr Ehemann fingiert einen Selbstmord, um Wera freizugeben. Sie heiratet ihren leidenschaftlichen Liebhaber und wird glücklich. Der Ex-Mann zieht in die USA, kehrt unter anderem Namen nach Russland zurück, heiratet auch, sie alle finden sich wieder und leben als sich schätzende Familien in Eintracht und Freundschaft weiter.

Der sich nervig einmischende und Leserinnen wie Leser beleidigende Erzähler schwafelt immer wieder von "edlen", "sittsamen" und "rechtschaffenen" Menschen.

Ja. Der Roman ist so langweilig, wie die Zusammenfassung klingt. Diskussionen in Latzhosen-WGs der 1980er Jahre waren noch spannender. Dennoch war er in der linken Szene Russlands ein Renner. Lenin hat eine politische Schrift im Jahre 1902 nach diesem Roman benannt.

Politische Abhandlungen werden in Weras Träume gesteckt, so gibt es einen Zukunftstraum eines unter kommunistischen Verhältnissen sich imperialistisch ausdehnenden Russlands, das in einem südlichen Wüstengebiet durch Bewässerung ein fruchtbares Land namens "Neu-Russland" entstehen lässt, in dem die Menschen Dank Maschinisierung in Überfluss leben. Vielleicht hat Chrustschow diesen Roman auch gekannt, als er in Usbekistan die Baumwoll-Plantagen einrichtete, was den Aral-See zum Tode verurteilte.

Zur Rehabilitierung: es gibt auch witzige Oblomowiaden. Weras Tagesablauf, der als "arbeitssam" charakterisiert ist, schaut so aus:

- Aufstehen zwischen 10 und 11 Uhr
- Besuch der Näherinnengenossenschaft
- Mittagessen
- Mittagsschlaf
- zweiter Besuch der Näherinnengenossenschaft
- abends feiern mit Freunden bis zwei Uhr früh

Wenn das arbeitssam ist, dann möchte ich bitte als stinknormaler Werktätiger sofort eine Urkunde als beeidigter Stachanowist ;)

Die TU-Berlin hat auch eine Fotokopie der Buchausgabe vom Aufbau-Verlag aus dem Jahre 1951 als PDF auf dem Server:
https://agiw.fak1.tu-berlin.de/Scriptorium/Texte_SO/Tschernyschewski,%20Was%20tun.pdf

Ein Zuckerl ist das Vorwort von Georg Lukács (dem Reich-Ranicki des Stalinismus). Neben viel Bullshit-Bingo stalinistischer Phraseologie ein typischer Lukács, der diesen Roman mit seiner geliebten bürgerlichen™ Literatur vergleicht (Shakespeare und Lessing). Lessing mit seinen überkandidelten und auch sehr gekünstelt gestalteten Figuren ist noch nachvollziehbar, aber Shakespeare?

Nichtsdestotrotz: wenigstens habe ich diesen, von der extremen Linken sehr lange hochgehaltenen Roman auch gelesen und kann mitreden (vermutlich nur mehr mit mir selbst ... wer liest denn sowas noch freiwillig ;) ).