Arnold Eisensee
Funkstudio Stalinallee

(Teil 1)
„Ist das Ihr Rad?" rief eine knorrige Stimme hinter mir. Ich richtete mich auf, die Luftpumpe in der Hand und wandte mich dem Frager zu. Der legte die rechte Hand lässig an den Mützenschirm: „Oberkommissar Krüger vom Revier Boxhagener Straße. Ist das Ihr Fahrrad? Man versteht ja nicht sein eigenes Wort!"

An beiden Ecken des etwa sechzig Meter langen, zwischen Koppen- und Andreasstraße gelegenen Areals vor dem Stalindenkmal ballerten zwei riesige RFT-Säulen Musik in den kühlen Aprilmittag. Im Moment brüllte das Cornel-Trio: „Über Stock und Stein und den Wagen voller Wein fährt Philipo mit dem Esel nach Sorrent..." Auf den Baustellen der Stalinallee, vom Strausberger Platz über und vorbei an Block 40 bis G Süd und G-Nord hörte man gerne „Frauen und Wein" und ähnliche Lieblichkeiten. Paul Lehmann hatte wieder mal 1 Nepa zu weit aufgezogen, wähnte er mich doch längst unterwegs zum Block 40, zur Maurerbrigade Hein Görlich, mit der ich mich zur Mittagspause unterhalten wollte
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(Teil 2)
Als wir in Berlin an Land gingen, war von der „Trumpf“ noch nichts zu sehen. Am nächsten Tag hörte ich zwar, daß sie erst eine Stunde nach der „Seid bereit" eingelaufen sei. Aber erst nach vier Jahrzehnten erfuhr ich beim Studium einschlägiger Vernehmungs- und Prozeßakten, daß Metzdorf die im Salon des Dampfers Anwesenden zum Streik aufgerufen und seine Rede danach am Tisch der außerhalb sitzenden Familien Joswich, Pischel, Zymak, Neumann und Schmiedecke wiederholt hatte. Bei diesen war er allerdings nicht auf Gegenliebe gestoßen. Brigadier Joswich hatte beim Verlassen des Schiffes sogar BGL-Mitglied Karl Foth, dem er offenbar vertraute, darüber informiert. Dieser war zuvor jedoch bereits von den Kollegen Suslik Zieblas, Böhm, Winter, Schacht, Dewitz aus seiner eigenen Brigade angesprochen worden und hatte Metzdorf trotzdem gewähren lassen.

Damals war ich Vorsitzender der aus zehn Familien bestehenden Hausgemeinschaft Schönlanker Straße 22. Als ich von der Dampferfahrt nach Hause kam, hatten die Genossen eine Hausversammlung einberufen. Sie wollten hören, wie ich die Situation einschätzte.
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(Teil 3)
Am Beginn des Rondells Strausberger Platz stand ein mittelgroßer Mann. Er schaute die Stalinallee hinunter, wie er vielleicht schon tausendmal geschaut hatte. Diesmal jedoch mit nachdenklichem Gesicht.

Es war Prof. Dr. Hermann Henselmann. Die SED-Kreisleitung Friedrichshain hatte angerufen und ihn gebeten, die marschierenden Bauarbeiter von den Baustellen Bettenhaus Krankenhaus Friedrichshain und Block 40, die zum Leipziger Platz wollten, zum Umkehren zu bewegen. Man wußte um seinen hervorragenden Kontakt zu den Bauarbeitern, schätzte sein Wort, das überall galt und versprach sich von der Achtungsperson, den blamablen Zug der Bauarbeiter zu verhindern.

Hermann Henselmann wohnte mit Frau Irene und seinen acht Kindern im 7. Stock des Hauses 9 am Strausberger Platz - dort, wo der Block A-Nord nahtlos in den Block B-Nord übergeht. Er war Projektant des Strausberger Platzes - in der Planung auch A-Nord und A-Süd genannt - mit dem die Stalinallee begann. Der umfangreiche Springbrunnen, wie ihn die Berliner heute noch kennen, wurde von Kunstschmied Fritz Kühn entworfen und gebaut.

Der achtundvierzigjährige dunkelblonde, Hermann Henselmann war auf den Berliner Baustellen bekannt wie „ein bunter Hund". Mehr noch - er war beliebt wie kaum ein anderer Berliner in jenen Jahren.

Nun stand er also an der Straße nahe seiner Wohnung und schaute den Marschierenden entgegen. Das blaue Transparent verwunderte und erheiterte ihn. „Wir fordern 40 % Normsenkung"! Er kannte die beiden nicht, die es trugen — stolz und irgendwie auch belustigt. Es hätte ein Gag sein können, aber dafür sahen die Nachfolgenden zu kämpferisch aus. Also eine ernsthafte Sache ... Und die Bautermine liefen auch so schon weg.
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(Teil 4)
Am 17. Juni 1953, 6 Uhr steckte ich den Kopf in den niesligen Morgen. Paule schlief noch. Nicht eine Mücke rührte sich. Die Allee lag wie ausgestorben.

Da verließ ein „Blauer" das Tannenwäldchen hinter dem Stalindenkmal und hastete fröstelnd davon. Er war von Karl Bärenstein, dem „Jungche aas Astpreißen" abgelöst worden. Da einer ausgefallen war, mußte Karl nach nur acht Stunden Ruhe schon wieder in das Häuschen. Voraussichtlich für zwölf Stunden, hatte sein Vorgesetzter angekündigt und Brot, Hartwurst, eine Dorschleber- sowie eine Schmalzfleischbüchse in den Brotbeutel packen lassen. Die Feldflasche war mit saccharingesüßtem Pfefferminztee gefüllt. Karls Bewaffnung bestand wie stets nur aus dem rohen Holzknüppel. Nachdem ich ihm abends meine Befürchtungen anvertraut hatte, wäre ihm eine von den 08 sicher lieber gewesen. Doch die blieben im Panzerschrank der Dienststelle verschlossen.

An diesem Morgen begannen wir unser Programm bereits um halb sieben; zumindest Paule und ich. Brigitte hatte ich das Erscheinen freigestellt. Helga und Burghard riefen von der Postdirektion an, sie würden dort gebraucht, und Horst Schäfer war vermutlich bei der Staatssicherheit eingesetzt.
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(Teil 5 und Schluss)
Nach dem Beschluß vom Vortag hatte sich die Belegschaft des VEB Goldpunkt am frühen Morgen des 17. Juni im Werkhof versammelt. Betriebsleitung, Partei und Gewerkschaft öffneten die Tore. Wer meinte, gehen zu müssen, sollte gehen. Dies schien immer noch besser, als wenn man den ohnehin schrottreifen Maschinenpark zertrümmert hätte. Danach zog mindestens die Hälfte der Beschäftigten hinaus und die Greifswalder Straße hinunter. Als dann aber aus Richtung Weißensee die erste lautstarke Kolonne heranrückte, schloß man im Werk die Tore zu, die Hydranten an und bereitete sich auf die Verteidigung des Betriebes vor.

An diesem Vormittag befand sich auch die sechsundvierzigjährige Anna Tempelhagen aus der Boxhagener Straße auf dem Wege an die Sektorengrenze. Sie wollte zum Potsdamer Platz. Ihre beiden Kinder, elf und acht Jahre alt, hatte sie in der Wohnung gelassen. Dem elfjährigen Reinhard hängte sie einen Schlüssel um den Hals.

Auch Anna Lehmann war ein Berliner Schlüsselkind gewesen, weil die Mutter stundenweise mal hier mal dort arbeiten mußte. Als sie flügge war, kamen erst Arbeitslosigkeit und dann schwere Transportarbeit in der Lichtenberger Porzellanfabrik. Dort arbeitete auch der Brenner Herbert Tempelhagen. Nach Geburt des Mädchens Inge heiratete ihn Anna.

Dann war Krieg. Anna lötete bei Siemens U-Bootteile und fühlte sich heimlich als Kommunistin. Vor den anglo-amerikanischen Bombern floh sie mit Inge und Reinhard nach Werenzhain bei Doberlug-Kirchhain, wo ihre unverheiratete Mutter hergekommen war. Sie wohnten sogar im Gesindehaus des Hofes Roatsch-Wülsnick in dessen Scheune seinerzeit Bauernknecht Emil der Magd Minna-Pauline ein Kind beigebracht hatte. Worauf er sich zur Schaffung von Heim und Reichtum für Mutter und Kind nach Amerika begab und nicht wieder meldete.
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