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Christa Nikusch:
Ein Panzer vor dem Zwinger

(Dresden)
Ich fuhr mit der Straßenbahn von Radebeul nach Dresden zu meinem Dienst als Krankenschwester. Es war ein kühler Tag, und so war ich mit der FDJ-Windjacke bekleidet. An ihr befand sich das „Abzeichen für gutes Wissen" in Silber. Es war noch neu und glänzend. Anfangs schien alles normal. Die Bahn war voll, und so stand ich auf der hinteren Plattform. Am Bahnhof Neustadt stieg eine Gruppe junger Männer zu, laut grölend und auf den „Scheiß Staat" schimpfend. Ich verhielt mich still, obwohl mich einer herausfordernd anstarrte. Dann begannen sie eine Unterhaltung, so in der Art: „Mensch, guck mal, die Kleine traut sich was, die hat noch gar nicht mitgekriegt was los ist, der werden wir es mal zeigen!" Den genauen Wortlaut habe ich nach den vielen Jahren nicht mehr im Gedächtnis. Eine Weile ging das Gerede hin und her. Als ich mich aber nicht provozieren ließ, fingen sie an zu schubsen und mich anzufassen. Im Nu waren die anderen Fahrgäste in drei Gruppen gespalten. Die kleinere meinte „Hört mit dem Blödsinn auf!", eine weitere verhielt sich ruhig, und einige wenige machten mit. Als die Jungen, ich schätze so zwischen 14 und 18 Jahren, merkten, daß einige zustimmten, wurden sie noch dreister.

Inzwischen waren wir in der Nähe des Postplatzes angekommen. Ich zeigte deutlich, daß ich aussteigen wollte. Dann ging alles ganz schnell. Einer machte die Tür auf. Einer stellte sich vor mich, so daß ich nicht vorbeikonnte. Einer schob von hinten, und so war ich eingeklemmt. Plötzlich trat der vor mir zur Seite, und von hinten bekam ich einen Schubs. Ich flog aus der noch fahrenden Bahn hinaus und prallte mit der rechten Hüfte auf das Pflaster. Die jungen Leute, es waren fünf, stiegen aus und umringten mich. Ich wollte aufstehen, konnte aber nicht, weil die Hüfte so schmerzte. Und plötzlich waren noch mehr da, auch Mädchen waren dabei. Alle hakten sich unter und tanzten um mich herum, der Kreis wurde immer enger. Ich glaubte schon, von ihnen getreten zu werden, da löste sich der Kreis plötzlich auf. Herangefahren kam ein sowjetischer Schützenradpanzer. Ein Soldat stieg aus und wollte mir beim Aufstehen helfen. Es ging nicht. Da fragte er mich in gutem Deutsch, ob ich Schmerzen hätte. Als ich bejahte, hob er mich auf und setzte mich behutsam in das Fahrzeug. Die sowjetischen Soldaten fuhren mich in das Friedrichstädter Krankenhaus. Unterwegs erzählten sie, daß sie den Vorgang beobachtet hatten. Ihr Standort war am Wassergraben des Zwinger gewesen. In der Klinik wurde ich sofort geröntgt, und man stellte eine schwere Prellung des Beckens sowie der rechten Hüfte fest. Ich hatte noch mehr als zwei Jahre unter dem absichtlich verursachten Unfall zu leiden.

Dieses Erlebnis hat zum großen Teil dazu beigetragen, daß ich Kommunistin geworden bin. Heute weiß ich, daß wir in der DDR sehr viel falsch gemacht haben. Ich weiß aber auch, daß der Kapitalismus, um seine Macht zu behaupten oder wiederzuerlangen, über Leichen geht. Das haben nicht zuletzt die Menschenopfer des 17. Juni 1953 gezeigt. Und jedem, der ehrlich die Geschichte betrachtet, ist klar, wer damals die eigentlichen Drahtzieher waren.
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