y
Ursula Münch:
Wo auch immer wir wohnen ...


Mein eigentlicher Weg in die neue Zeit begann an einem wunderschönen Vorfrühlingstag des Jahres 1946. Den Koffer hatte ich in eine Ecke des „Perrons“ der Dresdner Straßenbahnlinie 19 gewuchtet und beobachtete mißtrauisch jeden, der sich ihm näherte. Denn er enthielt außer meiner gesamten „Garderobe“ auch etwas Bettwäsche und vor allem eine ebenso kunstvoll wie dick gestrickte Schlafdecke - ein unermeßlicher Schatz am Ausgang jenes furchtbaren Nachkriegswinters 1945/1946! Ich mußte unterwegs nicht umsteigen, sondern fuhr direkt nach Gohlis. Aber unter den damaligen Bedingungen war das schon fast eine Weltreise. Sie dauerte nicht nur mehr als zweieinhalb Stunden, sondern führte der Länge nach durch die verödeten Ruinenviertel, bevor endlich jenseits der Stadtgrenze die nicht völlig vernichteten Gebäude häufiger wurden. Obwohl ich den Anblick riesiger Trümmerfelder seit mehr als einem Jahr gewohnt war, ließ diese schier endlose Magistrale der Vernichtung die Trauer um meine untergegangene Stadt erneut aufleben.

Ich war 16 Jahre alt und von unserer kurz zuvor aus der Antifajugend hervorgegangenen FDJ-Wohngruppe zum 1. Lehrgang der Kreisjugendschule Gohliser Windmühle delegiert worden. Aber nun hatte ich nicht nur die quälenden Reste der jüngsten Vergangenheit vor Augen, sondern außerdem Sorge, den Anforderungen der unmittelbaren Zukunft nicht zu genügen. Nach dem Verlassen der Straßenbahn stimmten mich das fast unversehrte Gohliser Städtchen und die Sonne des ersten Nachkriegsfrühlings allerdings optimistischer. Trotzdem hätte ich auf meinem recht beschwerlichen Gepäckmarsch zur Mühle nie geglaubt, was die nächsten drei Wochen für mich bereithalten sollten.

Es war, als ob ein Zauberschlüssel die Tür öffnete, hinter der sich das geheime Räderwerk der Geschichte bisher meinem Blick entzogen hatte. In diesen Tagen begriff ich nicht nur mehr von Vergangenheit und Gegenwart als alle Zeit vorher, sondern gewann auch eine verläßliche Orientierung für die Zukunft. Am Ende des Lehrgangs hatten ich und sicher auch die anderen Jugendfreunde das Gefühl, in mehr als einer Hinsicht gewachsen zu sein. Zu danken war dies mehreren Umständen.

Zu dem in jener Notzeit besonders starken Zusammengehörigkeitsgefühl kam unsere drängende Wißbegier. Fast alle waren wir den nationalsozialistischen Rattenfängern auf den Leim gegangen, hatten im Krieg Schlimmes erlebt, suchten nach den Ursachen der vergangenen Schrecken und wollten eine bessere Zukunft aufbauen.

Unsere ersten Lebenserfahrungen ließen uns vor allem den bewährten antifaschistischen Kämpfern vertrauen. Da die politischen Parteien und Organisationen der Aufklärungsarbeit unter der Jugend große Bedeutung beimaßen, lernten wir an der Schule einige Politiker des Landes und der Stadt kennen. Vor allem die ehemaligen KPD- und SPD-Funktionäre litten oft an Gesundheitsschäden, die sie sich in Zuchthäusern und Konzentrationslagern zugezogen hatten, manchem schien der Tod im Gesicht zu stehen. Dessen ungeachtet versuchten sie nicht nur, ihre unmittelbaren Aufgaben voller Hingabe und Enthusiasmus zu erfüllen, sondern nahmen sich Zeit für unsere Fragen. Sie verzichteten auf Schuldzuweisungen gegenüber der Jugend und vermittelten uns sogar das Gefühl, ihnen selbst neue Hoffnung, neuen Mut zu geben.

Das traf nicht nur auf Funktionäre der Arbeiterpartei, sondern beispielsweise auch auf den damaligen LDPD-Landesvorsitzenden, Professor Kastner, zu. Er wünschte sich das Lied „Wir sind jung, die Welt steht offen ...“ und hatte Freudentränen in den Augen, als wir es ihm zu Ehren sangen. Kastner war uns sympathisch, während wir im LDPD-Landesjugendreferenten Wolfgang Mischnick einen arrogant-aggressiven Politiker kennenlernten. Ähnlich erging es uns mit dem CDU-Landesvorsitzenden, Professor Hickmann. Er wirkte verknöchert, und die deutsche Geschichte schien für ihn bei Bismarck aufzuhören. Deshalb bewunderten wir unseren ungekrönten „Lehrgangsbesten“ Rudi Wießner (später DDR-Staatssekretär für Berufsausbildung), der dem Herrn Professor einiges nicht unwidersprochen durchgehen ließ und ihn dadurch in ziemliche Verlegenheit brachte.

Den größten Verdienst an unserem „Entwicklungsschub“ hatten aber zweifellos unsere Lehrer Herbert Kühne, Willi Arlt und Helmut Tulatz, die sich buchstäblich Tag und Nacht um die niveauvolle, interessante und vielseitige Gestaltung des Lehrgangs bemühten. Dank ihrer Hilfe fanden nach uns noch viele Hundert Jugendliche einen verläßlichen Weg in die Zukunft. Die drei „Müllerburschen“ hatten unterschiedliche politische Entwicklungen durchlaufen und waren keine ausgebildeten Pädagogen. Ihre ungleichen Charaktere und Lehrmethoden ließen manche interne Auseinandersetzung vermuten. Trotzdem ergänzten sie sich in geradezu idealer Weise und wurden unsere väterlichen Freunde.

Es ist schwer, das Gefühl der Geborgenheit zu beschreiben, das allein von ihrer abendlichen „Gutenacht-Zeremonie“ ausging. Die meisten von uns waren noch halbe Kinder, aber ausnahmslos alle schon gebeutelt durch schlimme Kriegs- und Nachkriegserlebnisse, den Verlust von Familienangehörigen, Hunger und Mangel jeglicher Art. Und da gab es unweit der trostlosen Dresdner Trümmerwüste nun diese Oase, in der zwar auch schlimmer Hunger herrschte, aber vor allem Frohsinn, Optimismus und Begeisterung. Spätestens am ersten Abend, als die drei „Müllerburschen“ von Schlafsaal zu Schlafsaal zogen, um jedem einzelnen „Gute Nacht“ zu wünschen und mit allen gemeinsam die schönsten alten und neuen Lieder zu singen, entstand ein anheimelndes Gefühl, das sich mit jedem Tag verstärkte.

Mein Seminarlehrer war Helmut Tulatz, ein wunderbarer Mensch und Genosse. Als KZ-Häftling in Sachsenhausen hatte er Schreckliches erlebt und noch immer keine Nachricht von seiner Frau. Helmuts Warmherzigkeit und Hilfsbereitschaft machten ihn zum guten Geist der Schule, und bald meldete sich in unserer Gesellschaft auch seine Frohnatur zurück.

Helmut Kühne, der Schulleiter, verfügte über eine imponierende Intelligenz und Allgemeinbildung. Vor allem er vermittelte uns auch die erste Bekanntschaft mit Werken der Kunst und Literatur, die uns während der Nazizeit vorenthalten worden waren: Er bevorzugte Voltaire, aber auch über bzw. von Heine, Büchner, Chopin, Meyerbeer, Mendelssohn-Bartholdy u. a. hörten wir Erstaunliches.

Willi Arlts Lieblingsschriftsteller waren dagegen B. Traven und E. A. Poe. Er übernahm neben seiner Lehrtätigkeit den Part, unserer jugendlichen Phantasie und Abenteurerlust Spielraum zu verschaffen. Dazu ließ er sich u. a. „Gruselabende“ mit Kerzenlicht und Lesungen aus den Werken von E. A. Poe einfallen. Bei Mondschein fanden wir uns auch auf der alten Elbfähre zusammen, um nach Herzenslust zu singen und zu plaudern.

Es waren drei Wochen, die wie im Fluge vergingen und nach denen der Abschied jedem sehr schwer fiel. Dagegen hatte ich das unfaßbare Glück, eine Arbeitsstelle als Schulsekretärin zu erhalten und durfte das unvergleichliche Fluidum der Jugendschule noch länger genießen. Es war eine schöne und vielseitige, wenn auch anstrengende Tätigkeit. Feierabend und persönliche Interessen hatten hinter den schulischen Erfordernissen, d. h. der reibungslosen Abwicklung der Lehrgänge, zurückzustehen. Und es gab stets übergenug Probleme, die dieses Ziel gefährdeten.

Da ich nun selbst „hinter den Kulissen“ wirkte, konnte ich erst ermessen, welche Anstrengungen allein zur Sicherung der täglichen Versorgung notwendig waren. Unser Wirtschaftsleiter, Walther Bode, war deshalb ständig unterwegs und auf vielerlei Art um wenigstens etwas „Zusatznahrung“ bemüht. Jeder Schüler und Lehrer mußte zwar seine Lebensmittelkarte mitbringen, aber darauf gab es nur die üblichen Hungerrationen, die kaum zum Überleben ausreichten. Ich erinnere mich, daß es in manchem Lehrgang wegen der sogenannten „Lehrerschnitte“ fast zum Aufstand kam. Denn während Personal und Schüler den schmerzenden Magen acht oder mehr Stunden mit Schlaf betäuben konnten, mußten die drei Lehrer zur Vorbereitung des Unterrichts in der Regel noch bis in die späte Nacht arbeiten und erhielten dafür vom Wirtschaftsleiter gerechterweise jeder eine Scheibe Brot mehr zugebilligt. Schlimm war auch, daß jeglicher Vorrat ständig von Ratten bedroht wurde, die sich offenbar schon vor langer Zeit in dem alten, vernachlässigten Mühlengebäude eingenistet hatten. In unserer Not organisierten wir sogar eine nächtliche Rattenjagd. Allerdings zeigte sie kaum Wirkung und wurde deshalb nicht wiederholt.

Auch Walther Bode gehört zu den Menschen, die ich nie vergessen werde. Er war kein Theoretiker, sondern ein Praktiker und wirkte trotzdem oft wie ein allzu penibler Buchhalter, dessen ständig erhobener Zeigefinger lästig wird. Doch ohne Walthers eiserne Prinzipien wäre der Schulbetrieb infolge mangelnder Versorgung, fehlender Brennstoffe und nicht realisierter Reparaturen zusammengebrochen. Wegen seiner Magerkeit nannten wir ihn „Gandhi“. Einmal wurde er unterwegs ohnmächtig - vor Hunger, wie der Arzt feststellte. Ein Wirtschaftsleiter und Hunger! Aber Walther verordnete mehr als allen anderen sich selbst die strengsten Regeln. Beim Bombenangriff vom 13. Februar 1945 hatte er seine Frau und sechs Kinder verloren.Quelle: Privatarchiv U. Münch

In einer der kritischsten Versorgungsphasen erstritt Walther Bode vom zuständigen Landrat ein paar Dutzend Blutwurstkonserven aus überlagerten Wehrmachtsbeständen. Doch wir standen kurz vor den Gemeindewahlen 1946, und der allgemeine Jubel wurde rasch gedämpft. Denn Wolfgang Mischnick, der liberale Landesjugendreferent, versuchte aus dieser Hilfsaktion des SED-Landrates politisches Kapital zu schlagen und machte daraus den Versuch „massiver Wahlbeeinflussung“. Nachdem meines Wissens kein Schüler das damalige Wahlalter von 21 Jahren überhaupt erreicht hatte, war das eine sehr plumpe Unterstellung. Aber in der ebenfalls hungernden Öffentlichkeit konnte sie natürlich trotzdem Wirkung erzielen. Da diese Provokation eine gebührende Antwort erforderte, fanden wir uns - d. h. ein vollständiger Lehrgang nebst Personal und ehemaligen Schülern - in einer ansonsten nur mäßig besuchten Wahlversammlung des Herrn Mischnick ein. Voller Genugtuung erlebte auch ich die Protestreden meiner Freunde und den Rückzug des liberalen „Landesjugendreferenten“ vor unseren Unmutsäußerungen. Das war für die Lehrgangsteilnehmer ein sehr befriedigendes Erlebnis! Um so befriedigender übrigens, als die SED und ihr hilfsbereiter Landrat bei den nachfolgenden Wahlen ein hervorragendes Ergebnis erzielten.
Monate zuvor hatte in Sachsen bereits der Volksentscheid über die Enteignung der Kriegsverbrecher und aktiven Nazis stattgefunden. Da waren die Jungen eines früheren Lehrgangs zu nächtlicher Stunde über die Elbe gezogen und hatten ein weithin leuchtendes weißes „JA“ an den Radebeuler Bismarckturm gepinselt. Es war danach noch jahrelang zu sehen.

Ein anderer Lehrgang rückte dem Bismarckdenkmal zu Leibe, das einsam auf die Trümmer der Prager Straße blickte. Für uns war der „Eiserne Kanzler“ damals vor allem ein Junker und Vertreter des reaktionären Preußentums, der Erfinder des Sozialistengesetzes.

Während des eisigen Winters 1946/1947 saß ich dick vermummt an meiner Schreibmaschine. Die Menschen in der Stadt, besonders die Älteren, waren ausgezehrt und starben noch schneller als zuvor. Außerdem häuften sich Unglücksfälle und Verbrechen, die auch unter Jüngeren Opfer fanden. Bei uns rief der Tod zweier ehemaliger Schülerinnen Fassungslosigkeit hervor. Die eine war im Stadtzentrum unter eine Straßenbahn geraten, während man die zweite erwürgt an einer Friedhofsmauer aufgefunden hatte.

Die Elbe fror in diesem Winter fest zu. Erst wenige Tage vor meinem 18. Geburtstag begann das Eis aufzubrechen. Das Knirschen und Krachen drang bis in unsere Räume. Am nächsten Tag drohte der Eisgang die Fähre zu zerquetschen. Wir versuchten die Schollen um sie herum zu dirigieren und sprangen von einer zur anderen. Außer mir fiel niemand in die Elbe, und auch ich stieg unter allgemeinem Gelächter unversehrt an Land.

Mit dem Eisgang kam das Hochwasser und gab dem eigenartigen Bodenrelief Sinn, über das ich mir nie Gedanken gemacht hatte. Die landwärts gelegene Siedlung wurde durch Deiche geschützt, während das Mühlengelände bald wie eine Insel in den Fluten lag. Sicherheitshalber war der Lehrgang zuvor nach Hause geschickt worden. Aber auch wir mußten zuletzt das uns liebgewordene Domizil verlassen und bei Eisgang zum Festland rudern. Es war sogar ein Abschied für immer, denn noch am gleichen Abend trafen wir im Mohrenhaus Radebeul ein, das fortan unsere Jugendschule beherbergen sollte.

Wir legten uns im Dunkeln erschöpft auf dem Stroh schlafen, das Walther Bode vorsorglich in einen Raum geschüttet hatte. Als wir früh aufwachten, trauten wir unseren Augen nicht. Denn nach der Flucht aus unserer ärmlichen „Rattenmühle“ befanden wir uns nun in einem mit Wand- und Deckentäfelungen sowie anderen Kostbarkeiten ausgestatteten Schlößchen, das von einem alten Park umgeben war und in Nähe der herrlichen Weinberge des „Jakobsteins“ lag. In dieser paradiesischen Umgebung verlebte ich meinen Geburtstag und - trotz angestrengter Arbeit - einen zauberhaften, optimistischen Frühling. Ich erinnere mich, daß damals ein Lied unsere Herzen höher schlagen ließ, das kurze Zeit zuvor, wenige Kilometer stromab, in Meißen entstanden war:

„Heut’ ist ein wunderschöner Tag,

die Sonne lacht uns so hell.

Und wie ein heller Glockenschlag

grüßt uns die lockende Ferne ...“

Es entsprach unserem neu erwachten, übermächtigen Lebensgefühl. Und so oft ich es später hörte, standen mir die unvergeßlichen Tage der Gohliser Windmühle und des Radebeuler „Mohrenhauses“ vor Augen.

Nachdem ich knapp eineinhalb Jahre in der Bezirksjugendschule Dresden gearbeitet hatte, wurde ich Mitte 1947 vom Landesvorstand der FDJ eingestellt.

Das Kadergespräch hatte Robert Bialek geführt, der damals einer der leitenden sächsischen Jugendfunktionäre war. Ich lernte ihn allerdings bereits am ersten Tag als recht unsensibel kennen. Denn um meine „Objektivität“ zu prüfen, äußerte er grobe Anschuldigungen gegen meinen Bruder und nannte ihn schließlich kurzerhand einen „großen Lumpen“. Da ich dies ernst nahm und - trotz meines grenzenlosen Respekts vor dem „bewährten Antifaschisten“ - zurückwies, taugte ich nicht als Sekretärin der Kaderabteilung, für die man mich eigentlich bestimmt hatte. Erst auf dem Heimweg begriff ich, daß gegen meinen Bruder gar nichts vorlag und alles nur ein Trick gewesen war. Aber Bialek hielt es nicht einmal für nötig, seine Anwürfe zurückzunehmen. Immerhin hatte er mich für würdig befunden, als Sekretärin der Org.-Abteilung zu arbeiten.1 Diese Tätigkeit gefiel mir ohnehin besser. Sie war zwar mit beträchtlichem Streß verbunden, dafür aber auch ungeheuer interessant.

Meine Erinnerungen an die darauf folgende Zeit gehören zu den schönsten. Die Mitarbeiter der Landesleitung bildeten ein verschworenes Kollektiv, in dem Sekretärin, Telefonistin, Küchenfrau und Kraftfahrer ebenso anerkannt waren wie die leitenden Funktionäre. Einige von diesen - beispielsweise die inzwischen leider verstorbenen Genossen Helmut Hartwig, Heinz Wenzel und Hans Gossens - hatten bereits Erfahrungen im antifaschistischen Kampf, obwohl sie sich dessen nie rühmten und die jüngeren - darunter Rudi Wießner, Rolf Schnabel und Konrad Naumann - als vollkommen gleichwertig behandelten. Übrigens gab es damals auch einen hauptamtlichen Funktionär für Kirchenfragen, Waldemar Pilaczek, der - obwohl er sich als Vertreter kirchlicher Kreise verstand - voll in unserer Gemeinschaft integriert war.

In meinem Sekretariat liefen die wichtigsten Fäden des FDJ-Landesverbandes zusammen, und ich konnte in vielfacher Hinsicht an seiner stürmischen Entwicklung Anteil nehmen. Allerdings wuchsen meine Aufgaben ständig mit. Da sie in der normalen Arbeitszeit kaum zu bewältigen waren, saß ich nun oft noch des Nachts einsam hinter der Maschine oder versuchte die widerspenstige Statistik in Ordnung zu bringen. Wahrscheinlich hätten es manchmal auch einige Überstunden getan. Aber die Landesleitung war in einer auf dem „Weißen Hirsch“ gelegenen Villa untergebracht, und es schien besser, den Heimweg nicht nach Einbruch der Dunkelheit anzutreten. Tat ich es dennoch, dann nur mit Grausen und ständig fluchtbereit. Denn er führte von den menschenleeren Straßen des Villenviertels durch die ebenso steile wie einsame Plattleite hinunter zum Körner- und über das „Blaue Wunder“ zum Schillerplatz - den in diesem Bereich manchmal anzutreffenden Passanten wich ich vorsichtshalber aus - um danach in ein riesiges und größtenteils unbeleuchtetes Trümmerfeld einzumünden. So schlief ich oft lieber gleich ein paar Stunden mit dem Kopf auf der Maschine oder manchmal auch der Länge nach auf dem Schreibtisch, wenn sich Buchstaben und Zahlen zu verwirren begannen. War wirklich keine Zeit zum Ausruhen, marschierte ich zum Munterwerden eine Runde singend durch die Räume und erhielt dann jedesmal ein vielstimmiges Echo aus dem im Soutterain gelegenen privaten Hundezwinger. Natürlich verstärkte der anhaltende Hunger die Wirkung dieser Strapazen. Nicht nur einmal führten sie dazu, daß ich während einer Sitzung trotz aller inneren Gegenwehr im Halbschlaf allerhand sinnlose Schnörkel „mitstenografierte“ oder sogar für Sekunden ganz einnickte und das Protokoll danach anhand von Bruchstücken „nachempfinden“ mußte. Straßenbahn fahrend - im engen Menschenfutteral und mit einem Haltegriff über dem Kopf - verfiel ich unweigerlich in Tiefschlaf, bevor die Beine wegknickten. Und bereits die Anfangstakte meines ersten, langersehnten Nachkriegskonzertes im Saal des Hygienemuseums brachten mich dem physischen Zusammenbruch derart nahe, daß ich es fluchtartig verlassen mußte.

Besonders schlimm war dann der Winter 1947/1948. Geheizt wurde nicht, und in den eisigen Räumen verweigerten sogar unsere Schreibmaschinen den Dienst. Es kostete Kraft, die Tasten anzuschlagen, der Wagen rückte nur stockend voran. Da das Glatteis meinen ohnedies unsicheren Heimweg noch gefährlicher machte, blieb ich abends nun noch öfter am Arbeitsplatz. Decken standen nicht zur Verfügung. Wer eine besaß, hatte sie längst zu einem wärmenden Kleidungsstück verarbeitet. Meine Rettung war ein feuerroter, glockiger, pelzbesetzter Flauschmantel aus den USA, der im grausig zerstörten Dresden mit seinen trauerfarben gekleideten Menschen allerdings völlig deplaziert wirkte. Geschickt hatte ihn ein entfernter Bekannter der Familie, der es danach auch dabei beließ. Mir brachte dieses Stück aus einer anderen Welt den Spitznamen „Gräfin Maritza“ ein.

Manchmal erschien mir der Nutzen meiner Schriftstücke, Protokolle und Statistiken gegenüber der praktischen Tätigkeit im Betrieb oder bei der Enttrümmerung gering. Aber die Mitglieder der Jugendorganisation leisteten überall Vorbildliches, rissen manchen Älteren mit und entwickelten sich vielerorts zur bestimmenden Kraft des Wiederaufbaus. Daran hatte zweifellos auch die Arbeit des Landesvorstandes Anteil. Etwas amüsiert verfolgte ich die im Parteiapparat der SED geführte Diskussion über unerwünschte Tendenzen des Avantgardismus in der FDJ. So leid es mir tat - aber diese Kritik empfand ich eher als Anerkennung. Am liebsten half ich, die Jugendeinsätze für entscheidende Vorhaben zu organisieren: im Erzbergbau, in der Kohle, zur Wasserversorgung oder beim Aufbau des Dorfes der Jugend. Unvergeßlich bleibt mir auch die Begleitung eines Versorgungstransports weit über die Landesgrenzen hinaus in das schwer von Hochwasser betroffene Oderbruch. Als der Fahrer und ich nach abenteuerlicher Fahrt mit unserem pannenanfälligen LKW vor Ort eintrafen, wurden wir voller Enthusiasmus begrüßt. Unsere sächsischen Jungen lebten und arbeiteten unter den schwersten Bedingungen. Aber nicht einer beschwerte sich oder wollte den Einsatz vorfristig beenden. Sie vollbrachten unglaubliche Leistungen, und wir waren gemeinsam stolz darauf.

Schwieriger als die Organisierung der begeisternden Aufbauarbeit war natürlich die Erläuterung entgegenwirkender Faktoren. Wir FDJ-Funktionäre mußten damals selbst erst über vieles Klarheit gewinnen, uns aber gleichzeitig der politischen Auseinandersetzung stellen, beispielsweise über die Umsiedlung aus den Ostgebieten, die notwendige Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze und die Berechtigung der Reparationslieferungen.

Einen großen Einfluß übte der ehemalige SPD-Vorsitzende von Sachsen, Otto Buchwitz, auf die Jugend aus. Er war damals bereits schwer krank. Aber wer ihn während seiner Reden und Vorträge erleben durfte, wurde von der Lauterkeit und Überzeugungskraft dieses bewährten Antifaschisten tief beeindruckt.

Als wirksame Hilfe erwies sich auch die Arbeit der Politoffiziere der SMAD, insbesondere der Kultur- und Jugendfunktionäre. Außerdem fanden - wie in vielen anderen Städten der sowjetischen Besatzungszone - zahlreiche Vortrags- und Diskussionsveranstaltungen mit profilierten sowjetischen und anderen Wissenschaftlern oder Politikern statt. Ich erinnere mich, daß beispielsweise die riesige Dresdner Nordhalle dann stets brechend voll war. Mich beeindruckten die intellektuellen und rhetorischen Meisterleistungen des schmächtigen Ungarn Ludwig Fürth am meisten.

Die Entlarvung des Faschismus war lange Zeit das zentrale Thema jeder politischen Arbeit. Wer davon unberührt bleiben wollte, mußte schon Augen, Ohren, Herz und Gewissen fest verschließen. Aber das waren meist Ältere, und sie taten dies gewiß nicht aus ehrenhaften Gründen.

Für den größten Teil der Jugendlichen bedeuteten die Enthüllungen über die Verbrechen des Faschismus einen ungeheuren Schock. Die meisten hatten im Krieg oder in der ersten Nachkriegszeit jedoch selbst Schlimmes erlebt. Sie gingen oft einen steinigen Weg, bis sie zu Ursache und Wirkung vordrangen und das eigene Leid an den unvorstellbaren Leiden der zuvor von Deutschen gequälten und getöteten Abermillionen Menschen messen konnten. Diese Erkenntnisse wirkten danach allerdings jahrzehntelang und wirken bei den meisten noch heute. Wer dies ignoriert, dem bleiben natürlich nur Vokabeln wie „Zwang“ oder „Manipulation“ zur Erklärung eines ostdeutschen Phänomens: der ehrlichen Begeisterung vieler Tausend Jugendlicher, sich unter dem blauen Banner der FDJ nicht nur für den raschen Wiederaufbau im eigenen Lande, sondern auch für bestmögliche Wiedergutmachung als Voraussetzung für dauerhaften Frieden und Völkerverständigung einzusetzen.

Da bereits lange vor Kriegsbeginn wichtige Lebensmittel rationiert worden waren, hatte ich 1947/1948 zehn Jahre Mangelernährung mit stetig ansteigender oder bestenfalls zeitweise gleichbleibender Hungerkurve hinter mir. Was und wieviel wir zu essen hatten, will ich hier nicht beschreiben. Trotzdem bestimmte damals nicht nur der allgegenwärtige körperliche Hunger meine Sehnsüchte und Hoffnungen, sondern auch der übermächtige Wunsch, durch friedliche Arbeit dazu beizutragen, daß die geschundenen Nationen Europas dem deutschen Volk irgendwann wieder Achtung und Vertrauen entgegenbringen könnten. Unsere internationale Isolierung war in jenen ersten Nachkriegsjahren fast absolut. Wir empfanden sie schmerzlichst, und jeder Schritt zu ihrer Überwindung machte uns glücklich.

Noch heute zähle ich deshalb jenen Tag zu den schönsten meines Lebens, an dem Mitte 1948 die Nachricht von der Aufnahme der FDJ in den Weltbund der Demokratischen Jugend eintraf. Ich befand mich damals bereits seit einigen Wochen in der Landesparteischule der SED, Ottendorf bei Sebnitz. Im gesamten Lehrgang herrschte einhelliger Jubel. Wir umarmten uns, und vielen standen die Freudentränen in den Augen. Der erste Schritt war geschafft. Für ihn hatten sich all unsere Anstrengungen gelohnt. Ich schreibe „unsere“, denn zumindest in meinem Umfeld fühlten alle wie ich. Aber es gab natürlich Jugendliche, denen diese Freudenbotschaft inmitten der drängenden Alltagssorgen wenig oder nichts bedeutete, und sie bildeten in dieser Zeit sogar noch die große Mehrheit.

Inzwischen war ich mit einem Mitarbeiter des Landesvorstandes verlobt. Da er noch während meines Schulbesuchs als FDJ-Funktionär nach Leipzig ging, bat ich bei Lehrgangsabschluß, mir dort ebenfalls eine Aufgabe zu übertragen. Zunächst fand ich sie als Redaktionsvolontärin im Jugendfunk des Senders Leipzig, kehrte diesem aber nach einigen Monaten den Rücken. Bisher hatte ich meine Aufgaben in freundschaftlicher Arbeitsatmosphäre nach besten Kräften erledigt und auch anerkannt gesehen. Diese Bedingungen waren im Sender nicht gegeben. Vor allem die Arroganz einiger Künstler ließ mich schnell die Segel streichen.

Im Landesvorstand freute man sich über meine Rückkehr zur FDJ und schickte mich als Org.-Leiterin nach Borna - dem Nachbarkreis von Leipzig. Ich kann nicht behaupten, daß ich trotz allen guten Willens dort Welten bewegt hätte. Aber es war eine äußerst lehrreiche, wenn auch schwierige Zeit. Schwierig vor allem in persönlicher Hinsicht: Meine Unterkunft in einem winzigen, nicht heizbaren Durchgangszimmer eines fast ebenso winzigen Bergarbeiterhäuschens, in dem es durchdringend nach Kloake roch, war derart deprimierend (und die Sehnsucht nach meinem Verlobten so groß), daß ich im Winter 1948/1949 trotz aller damit verbundenen Risiken und Strapazen abends oft noch einen Zug nach Leipzig zu erreichen versuchte. Meist kam ich erst beim letzten „Treff der Straßenbahnen“ an, und einige Male mußte ich auch vom Bayrischen Bahnhof bis nach Sellerhausen laufen. Wenige Stunden danach ging ich schon wieder unausgeschlafen auf Achse, um pünktlich zum Arbeitsbeginn in Borna zu sein. Das war natürlich ein unsinniger Kräfteverschleiß.

Allerdings blieben trotzdem genug Tage und Abende, an denen ich - per Bahn oder mit dem Fahrrad - im Kreisgebiet unterwegs war, um an Gruppenversammlungen teilzunehmen oder beispielsweise in Espenhain, Groitzsch, Pegau und Bad Lausick - wo ich in Betrieben und Schulen „Patenschaftsverpflichtungen“ hatte - nach dem Rechten zu sehen. Dabei gewann ich den Kreis Borna - der mir wegen seiner vorwiegend von Braunkohlentagebauen und Brikettfabriken bestimmten Landschaft anfangs als der häßlichste im ganzen Lande erschienen war - allmählich lieb und verteidigte deshalb „mein Zwiebelborne“ auch gegen die Lästerreden des Verlobten oder anderer Leipziger Funktionäre. Denn da waren nicht nur solche Kleinode wie Geithain und Bad Lausick oder die Gegend um Kohren-Sahlis und Frohburg, deren man sich am besten bei Tageslicht freute. Sooft ich nachts im Anschluß an eine Versammlung der Dorfjugend in die Kreisstadt zurückradelte, verschwammen ringsum die tagsüber so öde erscheinenden Bergbaugebiete zu einem unübersehbaren Meer bunter, lebendiger Lichter, und das Dröhnen der schweren Geräte drang wie Brandung zu mir herauf. Aber das Allerschönste war, daß ich dort unten Freunde wußte, die jeden Tag und jede Nacht scheinbar Unmögliches vollbrachten. Notfalls flickten unsere Jungs hundertmal die angeschlagene Technik samt der uralten Gleise zusammen. Sie fuhren Sonderschichten und warfen sich mit Elan in jede Bresche. Es waren trotzige und derbe Kerls darunter, anderen sah man die Titanenleistung nicht einmal an.

Die unter kirchlichem Einfluß stehende Landwirtschaftsschule für Mädchen in Bad Lausick besuchte ich anfangs nicht gern. Sie vermittelte den künftigen Bäuerinnen ausschließlich traditionelle hauswirtschaftliche Erfahrungen. Auch die Erziehungsziele der weiblichen Lehrkräfte orientierten sich am Althergebrachten. Deshalb sahen sie mich lieber gehen als kommen. Aber die lebenslustigen Mädchen hatten es satt, „brav“ zu sein und eine FDJ-Gruppe gegründet. Ich fand sie von Mal zu Mal selbstbewußter und politisch interessierter vor. Danach war mir klar, daß die neue Zeit auch um diese konservative Einrichtung keinen Bogen machen würde.

Sehr gern erläuterte ich in den Jugendgruppen eine kleine Broschüre des sowjetischen Autoren Leonow, der darin die Notwendigkeit von Kritik und Selbstkritik als „Entwicklungsgesetz“ der künftigen Gesellschaft begründete. Seine Gedanken faszinierten mich. Ja, nur so konnte unsere antifaschistisch-demokratische (und irgendwann vielleicht auch eine sozialistische) Ordnung auf Dauer funktionieren! Der Motor von Kritik und Selbstkritik würde sie in Bewegung halten und keinen Sand im Getriebe dulden. (Inzwischen weiß ich, daß Leonow in seinem Beitrag bereits wesentliche Elemente der sozialistischen Demokratie skizzierte). Der Zentralrat der FDJ hatte dieses Thema allen Jugendgruppen dringend zur Diskussion empfohlen. Aber auch innerhalb der SED herrschte damals eine sehr kritische Atmosphäre. Erfolge oder Mißerfolge wurden beim Namen genannt, Fehler öffentlich ausgewertet. „Kritik von unten“ mußten selbst leitende Funktionäre schon deshalb ernst nehmen, weil sie sonst bei passender Gelegenheit öffentlich auf deren Mißachtung hingewiesen und in schwerwiegenden Fällen sogar abgelöst wurden. Natürlich nutzten sie ebenfalls jede Möglichkeit, die an der Basis notwendigen Entwicklungen durch offene Worte anzukurbeln. Auch ich bemühte mich, Leonows Theorie in meine persönliche Praxis umzusetzen. Mit aktiver Kritik konnte ich bereits recht gut umgehen, während mir die Selbstkritik Probleme bereitete. Aber ich arbeitete an mir.

Eine meiner Pflichten bestand in der Teilnahme an den Sitzungen des Demokratischen Blocks, in dem sämtliche Parteien und Massenorganisationen des Kreises Borna zusammenarbeiteten. Das schien mir allerdings wenig ersprießlich, denn die örtlichen Vertreter von CDU und LDPD gehörten nach meinem Eindruck keineswegs zu den Geistesriesen und legten es oft vor allem auf kleinliche Zänkereien oder unqualifizierte Seitenhiebe in Richtung „Russen“ bzw. SED an. Offenbar hatten diese Parteien im Kreisgebiet keine Auswahl an befähigten Funktionären, die trotz aller Meinungsunterschiede wenigstens ernstzunehmen und an konstruktiver Zusammenarbeit interessiert waren: so, wie beispielsweise Dr. Wolfgang Ullrich, der Dresdner Zoodirektor, oder Manfred Gerlach, mit dem es mein Verlobter in Leipzig zu tun hatte. Andererseits schien der Mangel verständlich, denn ich konnte keinen vernünftigen Grund erkennen, weshalb ein normaler junger Mensch einer der bürgerlichen Parteien beitrete sollte. Wo es solche Mitglieder gab, wurden sie allerdings auch in unserer überparteilichen Jugendorganisation „gehegt und gepflegt“ und bis in die höchsten Leitungen gewählt. Leider stand ihre Mitarbeit dann oft nur auf dem Papier.

In einer von mir besuchten Versammlung empörten sich die Jungen einer kleinen Dorfgruppe über diesen „Schmus“ und nannten Beispiele, wem die „richtige“ Parteimitgliedschaft zum raschen beruflichen und gesellschaftlichen Aufstieg verholfen hatte. Wer als Junge Karriere machen wolle, dürfe nicht Mitglied der SED werden denn dort sei die „Konkurrenz“ zu groß. Am besten käme man sowieso als Mädchen auf die Welt. Und wenn nicht, dann wenigstens gleich mit dem Parteibuch von CDU oder LDPD.

An dieser Argumentation war „was dran“ - auch hinsichtlich der Mädchen. Das mußte ich mir eingestehen, wenn ich meine eigenen Leistungen mit denen einiger Jungen verglich. Ich gab mir Mühe und fühlte mich trotzdem manchmal „bevorzugt“, beispielsweise bei der Aufstellung der Delegiertenliste für das III. Parlament der FDJ Pfingsten 1949 in Leipzig. Dort teilnehmen zu dürfen, war eine große Auszeichnung, um die mich viele beneideten. Denn zum ersten Mal wurden auch Vertreter ausländischer Jugendorganisationen erwartet - allen voran eine offizielle Delegation des sowjetischen Komsomol.

Mit beispielloser Freude hatte ich längst das Abzeichen des Weltbundes der demokratischen Jugend an meine erste blaue Bluse gesteckt und in mehreren Jugendgruppen das Weltjugendlied eingeübt. Ich sang es immer wieder mit der gleichen Begeisterung und dem gleichen heiligen Ernst wie Hunderttausende, und es ist für mich bis heute das schönste und wichtigste aller Lieder geblieben:

„Jugend aller Nationen,

uns vereint gleicher Sinn, gleicher Mut.

Wo auch immer wir wohnen:

Unser Glück auf dem Frieden beruht.

In den düsteren Jahren

haben wir es erfahren:

Arm war das Leben,

wir aber geben

Hoffnung der müden Welt.

Unser Lied die Ländergrenzen überfliegt:

Freundschaft siegt! Freundschaft siegt!

Über Klüfte, die des Krieges Hader schuf

klingt der Ruf, klingt der Ruf:

Freund, reih' dich ein,

daß vom Grauen wir die Welt befrei’n!

Unser Lied die Ozeane überfliegt:

Freundschaft siegt! Freundschaft siegt!“

Es war ein herrliches Gefühl, daß dieses in der Sowjetunion entstandene Lied in vielen Sprachen und an vielen Orten der Welt gesungen wurde - darunter in den westlichen Besatzungszonen Deutschlands, wo sich ebenfalls zahlreiche FDJ-Gruppen gegründet hatten. Da ihre Schlußfolgerungen aus der jüngsten Vergangenheit mit den unseren übereinstimmten, fühlten wir uns diesen Freunden herzlich verbunden. Allerdings sahen wir sie mit großer Sorge zunehmend in ihrer Arbeit und im Gedankenaustausch mit uns behindert. Verwundern konnte das zwar niemanden, der den politischen Kurs der Westmächte, vor allem aber den von Adenauer und seinesgleichen in den vorangegangenen Jahren verfolgt hatte. Doch inzwischen bereiteten diese Politiker gegen den Willen der Deutschen in Ost und West offen die Spaltung unseres Landes vor, und am Horizont erhob sich sogar das Gespenst neuer Kriegsgefahr. Es ist keineswegs eine Floskel, daß jeder von uns davon im Innersten tief betroffen war und sich schon allein deshalb mit ganzer Kraft für die demokratische Einheit Deutschlands einsetzte. Damals kehrten mir die nächtlichen Bilder von Tod und Zerstörung wieder, die ich längst überwunden glaubte. Nun flüchtete ich in meinen Alpträumen allerdings nicht mehr allein, sondern mit Kindern an der Hand vor den Bomben.

Denn mein Verlobter und ich wollten - nach mehrfachem arbeitsbedingten Aufschub - endlich heiraten. Wir hatten sehr wenig Zeit füreinander. Aber manchmal nahm ich auch in Leipzig an Jugendveranstaltungen teil, und zum Jahreswechsel 1948/1949 waren wir mit anderen Eingeweihten zum riesigen Schornstein des Leipziger Kraftwerkes gepilgert. Dort erstrahlten dann genau 24 Uhr riesige weiße Buchstaben im Scheinwerferlicht: „Zweijahrplan“. Das war für uns ein schöneres Erlebnis als jede Feier und glich manche persönliche Entbehrung aus. Einer der Leipziger Klampfenchöre kreierte damals ein Lied, das unter der Jugend rasch populär wurde: „Wir haben einen Plan gemacht...“.

Hochzeitstermin sollte „Pfingstdienstag“ sein - der erste Werktag nach dem III. Parlament der FDJ in Leipzig. Bis dahin hatte mein Bräutigam - als FDJ-Kreisvorsitzender von Leipzig der eigentliche „Gastgeber“ - keine Minute Zeit. Ich machte mir große Sorgen. Die chronische Unterernährung in Verbindung mit einer äußerst aufreibenden Arbeit zehrten sichtbar an ihm, zumal letztere wegen seiner früheren „Westgefangenschaft“ besonders kritisch bewertet wurde. Er war erschreckend abgemagert, seine Schläfen wurden bereits weiß, und der Arzt fand ihn sogar „völlig abgewrackt“ - eine wenig verheißungsvolle Diagnose für meinen einundzwanzigjährigen Fast-Ehemann! Aber er dachte nicht an Kürzertreten und fand nicht einmal Zeit, in Vorbereitung der Eheschließung mit mir gemeinsam die notwendigen standesamtlichen Formalitäten zu erledigen. Tatsächlich gelang es mir mittels seiner Vollmacht und meiner Überredungskunst, den zunächst zur Totalblockade entschlossenen Standesbeamten zum Einlenken zu bewegen. Für eine Feier hatten wir weder das Geld noch die entsprechenden kulinarischen Zutaten. Zwar erhielten wir auf unsere Lebensmittelkarten inzwischen mehr Nahrungsmittel als die Jahre zuvor, aber zum Sattwerden reichte das noch nicht. Und an irgendwelche Leckerbissen - etwa durch Einkauf in einem „freien“ HO-Laden - konnten wir gleich gar nicht denken. Deshalb versuchten wir den Hochzeitstermin vor unseren Freunden geheimzuhalten. Einzig gegen das öffentliche Aufgebot in den Standesämtern Leipzig-Sellerhausen und Borna ließ sich nichts unternehmen. Doch welcher normale Mensch las so etwas schon.

Eigentlich hätte ich bereits aufmerksam werden müssen, als ich unerwartet zur sowjetischen Stadtkommandantur Borna gerufen wurde, um dort einen graublau melierten Kostümstoff als „Prämie“ in Empfang zu nehmen, die erste in meinem Leben! Sie kam mir sehr gelegen. Ein Schneider wurde gefunden, der auch den „guten“ Anzug vom verstorbenen Großvater des Bräutigams in ein einigermaßen passendes Kleidungsstück verwandelte.

Vor diesem privaten Großereignis lag allerdings immer noch das FDJ-Großereignis des Jahres - das III. Parlament in der Leipziger Kongreßhalle am Zoo. Ich hatte einen Platz auf der Empore - und meinen im Präsidium plazierten Fast-Ehemann ungewohnterweise fast zwei Tage im Blickfeld. Allerdings verblaßte dieses erfreuliche Novum vor dem beispiellosen Erlebnis des Jugendparlaments. Es wurden zwar beeindruckende Rechenschaftsberichte vorgelegt und neue Aufgaben gestellt, aber das Größte war die grenzenlose Begeisterung der Delegierten im Saal und der FDJler draußen auf den Straßen: die überwältigende Stimmung, mit der viele Tausende junger Menschen ihre ersten großen Aufbauerfolge und den optimistischen Weg in die Zukunft feierten. Das meistgesungene Lied lautete: „Du hast ja ein Ziel vor den Augen ...“

Als der Leiter der sowjetischen Jugenddelegation ans Rednerpult trat, wurde es still im Saal. Voll gespannter Aufmerksamkeit verfolgten wir seine anerkennenden und aufmunternden Worte, mit denen er uns die Grüße der sowjetischen Jugend überbrachte. Am Ende erhob sich dankbarer, stürmischer Jubel. Auch ich war glücklich wie selten zuvor. Denn schon allzulange hatte ich auf diese Stunde gewartet.

Ein weiterer unvergeßlicher Höhepunkt war das Eintreffen des bekannten Journalisten und Friedenskämpfers Professor Gerhart Eisler, der, direkt vom Flugplatz kommend, auf den Schultern junger Arbeiter im Triumphzug durch den Saal getragen wurde. Zuvor war ihm von der US-Regierung monatelang die Ausreise nach Ostdeutschland verweigert worden, und vor allem die FDJ hatte sich mit einer großen Unterschriftensammlung für ihn eingesetzt.

Mit Spannung erwartete jeder von uns die vorläufige Auswertung des Wettbewerbs um die hart umkämpften blauen Sturmfahnen der FDJ, welche die Namen ermordeter Antifaschisten trugen. Schließlich bejubelten wir sächsischen Delegierten drinnen und die Jugendgruppen draußen eine Mitteilung, wonach unser Landesverband die Führung übernommen hatte. Aber das Endergebnis würde erst in Budapest feststehen. (Dort hatten dann leider die Thüringer die Nase vorn).

Budapest August 1949 - II. Weltfestspiele der Jugend und Studenten! Von dieser Ankündigung ging für jeden von uns eine unerhörte Faszination aus. Noch schien es schwer vorstellbar, daß es 750 jungen Deutschen aus Ost und West in Kürze vergönnt sein sollte, erstmalig nach dem Krieg Grenzen zu überqueren, die quälende Isolierung zu überwinden und den direkten Kontakt zu Jugendlichen aus aller Welt zu suchen.

Mein Hochzeitstag begann aufregend, da der Bräutigam bis unmittelbar vor dem Standesamtstermin in aller Freundschaft auf der sowjetischen Stadtkommandantur festgehalten wurde. Aber dann kamen wir doch noch rechtzeitig und erhielten trotz fehlender Eheringe ohne viel Drumherum den staatlichen Segen. Dafür erwartete uns allerdings bei der Rückkehr ein gewaltiges Spektakel. Vor und in dem alten Mietshaus hatte sich neben allerhand Gratulanten auch einer der berühmten Leipziger Klampfenchöre versammelt - es sollte an diesem Tag nicht der letzte sein - und sogar meine Freunde vom Kreisvorstand Borna waren vertreten. Glücklicherweise hatten Stadtkommandantur und FDJ-Zentralrat inzwischen für einiges Essen und Trinken gesorgt, so daß wir bei der Bewirtung unserer mehrfach wechselnden Gästeschar nicht ernstlich in Verlegenheit kamen. Es waren vor allem Reste der „Parlamentsverpflegung“, die den zuvor über Gebühr gestreßten Leipziger Jugendfunktionären nun eine interne „Nach- und Siegesfeier“ ermöglichten. Wir Neuvermählten hätten uns nichts Schöneres wünschen können. Hein Walpert aus Böhlen - ein „alter“ Seemann und begnadeter Akkordeonspieler - gab außer unseren herrlichen Jugendliedern auch manche seiner alten Shantys zum besten. Wir sangen mit, erzählten, aßen, tranken - die Stimmung war prächtig.

Dann trat allerdings ein Ereignis ein, mit dem keiner von uns gerechnet hatte und das uns zunächst verstummen ließ: In der Tür standen plötzlich der Jugendoffizier der Leipziger Stadtkommandantur sowie der Leiter und einige Mitglieder der Komsomoldelegation zum III. Parlament. Das war ein Paukenschlag. Denn jeder wußte, daß die sowjetischen Dienststellen in Deutschland allenfalls „offizielle“ Kontakte zuließen. Es wurde eine unvergeßliche Stunde, an deren Ende ich mein wundervollstes Hochzeitsgeschenk erhielt. Denn der auf dem Ehrenplatz neben mir sitzende sowjetische Delegationsleiter wandte sich mit leisen deutschen Worten an mich, während er bisher und auch auf dem III. Parlament nur Russisch gesprochen und die Hilfe des Dolmetschers in Anspruch genommen hatte:

Er benutze zum ersten Mal seit dem faschistischen Überfall wieder die deutsche Sprache, obwohl er sie eigentlich für immer hatte vergessen wollen. Er sei sehr beeindruckt von der neuen deutschen Jugend, die er während des Kongresses kennengelernt habe. Doch diese herrliche Feier sei ein noch schöneres Erlebnis. Er wolle deshalb der jungen Braut auch in ihrer Muttersprache alles Glück im Leben wünschen und werde daheim von großen und guten Eindrücken berichten. Dabei sah er mich freundlich an und drückte meine Hand, während ich ihm nur dankbar zunicken konnte und einmal mehr tief bedauerte, daß das Reden - noch dazu in derart bewegenden Situationen - nicht zu meinen Stärken gehörte.

Nachdem die sowjetischen Freunde sich verabschiedet hatten, feierten alle übrigen bis zum Morgengrauen weiter. Mit den Gästen ging auch mein frischgebackener Ehemann von mir, denn nun hatte er einen mehrmonatigen Lehrgang an der Landesparteischule Ottendorf vor sich. So bestand meine Hochzeitsreise darin, daß ich etwas nachdenklich als „Fahrtenleiterin“ einer Jugendgruppe aus dem Bornaer Braunkohlenrevier für zwei Wochen auf den Darß fuhr.

Es war kalt und regnerisch, das Heim nicht geheizt, die Verpflegung erbärmlich und ein Gelddiebstahl auch nicht das, was mir die Strohwitwenschaft; versüßen konnte. Als dann noch ein Telegramm eintraf, war ich auf das Schlimmste gefaßt. Ich überflog es und verstand erst überhaupt nichts. Wozu brauchten die Bornaer zwei Paßbilder von mir, und auch noch sofort?! Aber beim nochmaligen Lesen stockte mir der Atem. Denn da stand es: „... zwecks Teilnahme an Festival...“ Für uns gab es nur ein Festival - und das waren die im August stattfindenden Weltfestspiele der Jugend und Studenten in BUDAPEST! Durch dieses Zauberwort ließ sich selbst der Zingster Strandfotograf zu einer Sofortleistung hinreißen.

Trotzdem durchlebte ich nach Rückkehr aus dem Urlaub noch tausend Ängste. Denn von denen, die mich da beglückwünschten - und zu Hause bleiben mußten - hatten die meisten eine derartige Auszeichnung jedenfalls mehr als ich verdient.

Ich war der ganzen Sache nicht einmal während der Busfahrt nach Berlin sicher und begann meinem Glück erst zu trauen, als ich inmitten der deutschen Festivaldelegation zum Vorbereitungslager „Hölzerner See“ dampfte. Es ist kaum vorstellbar, daß die Berliner Gewässer jemals wieder zwei Schiffe mit derart hochgestimmten jungen Leuten trugen oder tragen werden. Die Stimmung war unbeschreiblich. An unterschiedlichen Plätzen intonierte Lieder verwoben sich mit- oder kämpften gegeneinander, bis der angehängte Refrain des einen alle anderen zum Verstummen brachte, zwischen den Schiffen übersprang und als Jubelgesang durch den Abend schallte: „Hei Jungs, wir fahren an die Donau, hei Jungs, wir fahr’n nach Budapest! Zwei Wochen sind ja viel zu wenig. Es müßt’ ein ganzer Sommer sein!“

Dieses und andere bekannte Lieder begleiteten auch unseren weiteren Weg nach Budapest. Aber vom „Hölzernen See“ nahmen wir nicht nur neue Erkenntnisse über das Gastland Ungarn und die internationale Jugendbewegung, sondern auch neue Melodien und Texte mit. Das ungarische Volkslied vom „Schweinehirten“ war danach jahrelang ein beliebter „FDJ-Hit“ und das zündende „Bau auf, Bau auf...“ beherrscht jeder frühere DDR-Bürger sicher noch heute. Einer seiner Urheber war nach meiner Erinnerung ein kleiner Mecklenburger Blondschopf, der uns lächelnd auf dem Akkordeon begleitete.

Am 12. August 1949 startete unser funkelnder „Blauer Expreß“ in Richtung Budapest. Junge und alte Eisenbahner aus Dresden-Friedrichstadt hatten ihn in vielen Stunden freiwilliger Arbeit aus kriegsbeschädigten Waggons erstehen lassen.

Zuvor waren wir in einer kurzen Kundgebung von Wilhelm Pieck verabschiedet worden, und auf dem Bahnsteig des Schlesischen Bahnhofs drängte sich eine unübersehbare Menge begeisterter Berliner, die uns Blumen, Süßigkeiten und kleine Geschenke sowie vielfältige Grüße mit auf den Weg gaben. Selbst unsere mehrstündige Fahrt nach Dresden gestaltete sich zu einem unerwartet festlichen Erlebnis. Von den Gebäuden grüßten Transparente und Fahnen, vielerorts erwarteten uns freudig erregte, winkende, lachende, rufende Menschen - auch sehr viele Ältere darunter. Kurz, wir fuhren eigentlich in einem wahrhaften „Triumph-Zug“ dahin und kamen bis Dresden kaum von den Fenstern weg. Die Bahnhofshalle dort zum Bersten gefüllt; kein Durchkommen, um nach Verwandten und Bekannten zu suchen. Dafür Umarmungen und Glückwünsche von Fremden, deren jubelnde Anteilnahme sie zu Freunden machte. Keiner sagte es ausdrücklich, aber sie gaben uns durch ihr Verhalten den gleichen Auftrag mit, wie die Transparente längs der Strecke. Trotz unterschiedlicher Wortwahl lautete dieser einhellig: Berichtet in Budapest von unserem friedlichen Wiederaufbau und davon, daß wir nie wieder Krieg und Faschismus zulassen werden!

Danach, während der Fahrt zur Grenze, auf der Elbe ein weißes Dampfschiff: Der Kapitän legte die Hand an die Mütze, und von den Decks winkten die Menschen zu uns herüber. Als wir wenig später das Weltjugendlied anstimmten, klang es weit über den Fluß hinüber und kam als Echo aus den Bergen zurück. Und dann rollte - am 12. August 1949, zwei Minuten nach 20 Uhr - unser Zug über die tschechoslowakische Grenze, um bald darauf in Decin herzlich begrüßt zu werden. Auch hier und weiter im Land Fahnen, Transparente, winkende Menschen, Freude ...

Aber als wir am nächsten Mittag zum ersten Mal die Donau sahen, vermochte selbst unser vielerprobter Jubelgesang die überschäumende Begeisterung nicht annähernd auszudrücken. Über den beispiellosen Empfang an der ungarischen Grenze schrieb ich in mein kleines Festival-Tagebuch: „... eine unendliche, unbeschreibbare Demonstration der Freundschaft und Liebe ...“ und, während unser Expreß endgültig auf Budapest zurollte: „Das ganze Volk winkt, viele mit beiden Händen. Uns stehen die Tränen in den Augen vor Glück. Es gibt keine Steigerung mehr.“ Doch es gab sie. Bereits auf dem Bahnsteig des Budapester Hauptbahnhofs spielten sich unglaubliche Szenen ab. Und dann der Vorplatz. Im dichten Pulk wurde ich aus der halbdunklen Halle ins Freie hinausgeschoben und sofort vom unvergleichlichen Fluidum des Festivals gefangengenommen. Kopf an Kopf erwartete eine unübersehbare Menschenmenge das Eintreffen der Jugenddelegationen aus aller Welt. Herrlich geschmückte Gebäude, Musik, farbige Tücher, Fähnchen und Luftballons in unaufhörlicher Bewegung; bunte Trachten vieler Nationen; überspringende Tänze und Lieder, Freude und Ausgelassenheit aus wechselnden Richtungen heranwogend. Endlich, als unser Delegationsleiter zu einigen Dankesworten ans Mikrofon trat, vieltausendstimmig aufbrausender Jubel. Unsere schwarz-rot-goldene Fahne wehte inmitten der Fahnen anderer Nationen, und auch die nicht abreißenden Hochrufe ließen keinen Zweifel daran, daß wirklich wir gemeint waren: „Eljen Wilhelm Pieck ...Es lebe die Freundschaft der deutschen und ungarischen Jugend!“

Nach der Heimkehr sollte mir die Beschreibung der Festivaltage schwerfallen. Wir hatten uns von Budapest einen Brückenschlag zur Weltjugend erhofft und uns davon auch ein Bild zu machen versucht. Doch nun übertraf das reale Geschehen unsere kühnsten Erwartungen. Denn nach meiner Überzeugung geschah damals in Budapest Entscheidendes: Nach der ein Jahr zuvor formal vollzogenen Aufnahme der FDJ in den Weltbund der Demokratischen Jugend wurden wir in diesen Augusttagen während ungezählter Begegnungen erstmals tatsächlich in die nach Abermillionen zählende Gemeinschaft der durch ihn repräsentierten Weltjugend integriert.

Zunächst wußten wir vor allem: Die größten Delegationen, oft mit tausend oder mehr Jugendlichen, kamen aus den vom deutschen Faschismus am grausamsten gequälten Ländern Ost- und Südosteuropas. Und auch die ungarischen Menschen hatten die deutsche Besatzungsmacht in ebenso frischer wie schrecklicher Erinnerung. Deshalb verstanden und verinnerlichten wir die Forderung unserer Delegationsleitung, während des gesamten Festivals betont bescheiden und zurückhaltend aufzutreten. Bezogen auf den Einmarsch in das Stadion am Eröffnungstag hieß das: unter gar keinen Umständen leichtfertiger Jubel oder unbeschwertes Winken, sondern ernstes Ausschreiten ohne den gewohnten Gleichschritt (denn dieser konnte leicht als preußischdeutsch-militaristisches Überbleibsel verstanden werden). Aber dann kam alles ganz anders.

Auf der riesigen Wiese vor dem Stadion wimmelte es von festlich gekleideten jungen Leuten aller Hautfarben, die sich das Warten mit Singen, Lachen, Tanzen und unzähligen kleinen Freundschaftstreffen verkürzten. Auch ich wurde kurzerhand in einen wirbelnden bulgarischen Reigentanz einbezogen und hatte anschließend ebenso wie andere deutsche Freunde großen Spaß daran, die flinkfüßigen bulgarischen Jungen in das „knieerweichende“ Geheimnis der deutschen „Laurentia“ einzuweihen. Endlich begannen sich die Delegationen für den Einmarsch in das Stadion zu ordnen. Nun warteten wir neben der starken polnischen Festivaldelegation. Ich spürte prüfende Blicke und sah, daß mancher sich abwandte. Aber dann kamen einige junge Polen herüber, versuchten sich zu verständigen und tauschten Abzeichen aus. Ich wurde von einem blonden Mädchen herzlich umarmt.

Als der Einmarsch in das Stadion begann, erreichte unsere Aufregung den Höhepunkt. Ich war Mitglied des vorläufig besten Landesverbandes und hatte meinen Platz im Marschblock weit vorn. In der ersten Reihe sah ich außer unserem Vorsitzenden Erich Honecker sowie seinem Stellvertreter Heinz Keßler - beides antifaschistische Widerstandskämpfer - auch Helmut Hartwig, meinen ehemaligen Chef, und andere bewährte Genossen. Es war ein gutes Gefühl, an diesem entscheidenden Tag solche Menschen an der Spitze zu wissen, denn sie galten den Antifaschisten anderer Länder als Bürgen für das Heranwachsen einer friedliebenden Jugend im Osten Deutschlands und den Kampf gegen die Überbleibsel bzw. das Wiedererstehen von Faschismus und Militarismus in den Westzonen.

Unsere Delegation betrat das Stadion mit etwas Abstand zur vorangegangenen Nationalgruppe in verhaltenem Schritt. Es war schwer, sich von der mitreißenden Musik nicht zum Marschieren verleiten zu lassen. Doch nachdem die ersten Meter zurückgelegt waren, kündigte der ungarische Stadionsprecher die Delegierten der demokratischen deutschen Jugend an, und die Wiederholung in englischer sowie in russischer Sprache ging in einem ungeheuren Jubelsturm unter. Das Präsidium erhob sich, Tausende sprangen von den Plätzen auf. Ich lief zwischen Ungläubigkeit und Begreifen noch drei Schritte in gemessener Haltung, bevor mir die Begeisterung des Publikums die Arme hochriß. Auch durch alle anderen war ein Ruck gegangen. Jeder jubelte und winkte, und die Füße fügten sich nun auch dem Takt der Musik.

In diesen Minuten nahm die deutsche Jugend symbolisch wieder ihren Platz im Kreis der Nationen ein, und als danach Hunderte Tauben in den Sommerhimmel über Budapest stiegen, kannte mein Glück keine Grenzen.

In den Folgetagen bewegten wir uns als Gleiche unter Gleichen in dem bunten Völkerreigen, der Tag und Nacht durch das festliche Budapest wogte. Die Anteilnahme und Gastfreundschaft der ungarischen Bevölkerung waren unbeschreiblich und bewegte uns zutiefst. Allerdings tauchten in einigen Augenblicken doch wieder die Schatten der Vergangenheit auf.

Am Rande einer Großkundgebung auf dem Heldenplatz interessierten sich zwei Ungarn mittleren Alters für meine Haltung zur Vergangenheit. Ihren Familien war durch die faschistische Besatzungsmacht schwerstes Leid zugefügt worden.

Dann war da dieses Mütterchen im schwarzen Kopftuch, das inmitten des üblichen Gedränges freudig die Hände zu unserem Busfenster hinaufreckte. Ihre Frage verstanden wir inzwischen auch ohne ungarische Sprachkenntnisse und hatten schon oft ungezwungen darauf geantwortet: „Deutsche!“ riefen wir fröhlich und haschten nach den ausgestreckten Händen der alten Frau. Doch die wich fassungslos zurück: „Deutsche?!“ Ihre angstvollen Augen sah ich noch lange vor mir.

Während einer beschwingten Donauflußfahrt inmitten buntgemischter Nationalitäten sprach mich ein älterer Mann an, dessen Deutsch englisch gefärbt schien. Vorher hatte er eine Zeitlang den Liedern unserer Gruppe zugehört und fragte nun nach einem, das in der FDJ damals noch nicht allgemein bekannt war. Als er uns danach das „Lied der Moorsoldaten“ vorsang, wußten wir, daß er einer von ihnen gewesen war.

Auch Begegnungen mit der sowjetischen Delegation verliefen ohne die sonst vorherrschende Unbeschwertheit. Denn in ihren Reihen stand neben den jungen Aktivisten des sozialistischen Aufbaus mancher Held des großen Befreiungskrieges gegen das faschistische Deutschland. Das Auftreten dieser Delegation rief bei Einheimischen und Gästen jedesmal spontane Beifallsstürme hervor.

Es ist unmöglich, an dieser Stelle auch nur einen Teil der vielen wundervollen Freundschaftstreffen, Ausflüge, nationalen wie internationalen Kultur- und Sportveranstaltungen oder auch unsere Freizeitgestaltung zu beschreiben. Denn dann bildeten sich allerorten spontane Tanzketten, man fand für ein Weilchen zusammen oder tauschte mit Vorübergehenden neben herzlichen Worten und Gesten auch Abzeichen, Erinnerungstücher oder Adressen aus, aalte sich in einer der warmen Budapester Quellen, besuchte den Zoo, leistete sich für das knappe Taschengeld wenigstens einmal einen Kaffeehausbesuch oder kaufte lieber täglich eine Tüte der ebenso preiswerten wie köstlichen Zwetschgen. Jedenfalls führte diese einzigartige Atmosphäre bald dazu, daß sich unsere Delegation nur noch im Quartier, beim Essen sowie zu wichtigen Veranstaltungen vollzählig versammelte.
Das Budapest dieser Tage erschien mir wie eine Insel der Seligen, von der man sich niemals wieder trennen möchte. Aber wenn ich im Dunkeln vom Gellertberg auf die lichterfunkelnde Metropole mit ihren stolzen Brücken und dem Abglanz Tausender Lichter im Fluß herabschaute, waren meine Gedanken dennoch dort, wo vier Jahre zuvor für mich alles neu begonnen hatte. Würde sich mein Dresden eines fernen Sommerabends vielleicht doch wieder wie ein kostbarer Edelstein in den Fluten spiegeln dürfen? Und würden sich dann auf seinen festlichen Straßen ebenso fröhliche und friedliche Menschen tummeln - vielleicht sogar mit ihren Gästen aus aller Welt?

Allein dafür hätten sich lebenslange Anstrengungen und Entbehrungen gelohnt. Aber es schien unvorstellbar.

Am Morgen des 28. August 1949 versammelten sich die Abgesandten der Weltjugend zu ihrer mächtigen Abschlußkundgebung. Hand in Hand leisteten die Hunderttausende ein bewegendes Friedensgelöbnis, und zum letzten Mal erklang in allen Sprachen des Festivals das beste aller Lieder:

„Jugend aller Nationen,

uns vereint gleicher Sinn, gleicher Mut.

Wo auch immer wir wohnen:

Unser Glück auf dem Frieden beruht...“

----------------------

1 Einige Monate später setzte R. B. einiges in Bewegung, um mich als seine eigene Sekretärin nach Berlin zu lotsen (er übernahm eine Leitungsfunktion in der Zentralbehörde der Deutschen Volkspolizei), aber ich lehnte die Übersiedlung ab. - Er beeindruckte mich und viele andere Jugendliche durch sein großes Engagement für den Aufbau der FDJ und die Interessen der jungen Generation. Allerdings hafteten ihm auch stark Abenteuerlich-Revoluzzerhaftes und vor allem ein ausgeprägter Hang zur Selbstdarstellung an. Im Gegensatz zu anderen Widerstandskämpfern machte er beispielsweise aus seinen (vorgeblichen oder wirklichen?) Aktionen gegen die Nazis regelrechte Krimis und sich selbst zu deren Hauptdarsteller. In Funktionen, die Einfühlungsvermögen, Besonnenheit und Selbstdisziplin erforderten, war er dagegen schwer vorstellbar. Deshalb verwunderte mich sein späterer Abstieg relativ wenig, und selbst sein Frontwechsel (R. B. war später u. a. als Leiter des Westberliner Ostbüros der SPD gegen die DDR aktiv) paßte für mich letztlich mit seinen Charaktereigenschaften zusammen.