Der Regen begann auf meinen Helm zu trommeln. Er prasselte auf den steinernen Sarg meines vor kurzem verstorbenen Großvaters. Er prasselte auf die Rüstungen der Krieger, welche wie ich, je mit einer Schildmaid an ihrer Seite, in den leisen, langsamen Sprechgesang übergangen, den unser Stamm für Totenfeiern der Tradition nach benutzte. Niemand, der hier Versammelten wusste genau um was es in diesem Lied ging, da es in einer uralten Sprache verfasst wurde und keiner unseres Stammes dieser Sprache mächtig war. Gerüchte zufolge handelte es sich um ein altes Schlachtlied. Abrupt verstummten die Männer und Frauen. Das Lied endete hier. Das, hat es schon immer getan.
Der Sarg wurde mithilfe von einer Seilwinde aufrecht in das zirka 2 Meter tiefes Loch gestellt, sodass mein Ahne samt Sarg gleichermaßen in der eckigen Vertiefung stand. Der Begräbnisschacht war so exakt bemessen, sodass das glatte Kopfende mit der Wiese rundherum verschmolz. Der Stein fügte sich gut in das Landschaftsbild ein. Rund 200 solcher Steinsärge waren hier in der kleinen Talsenke eingelassen. Immer sorgfältig darauf bedacht, einen Abstand von mindestens einem Meter zwischen den Gräbern zu lassen. Dies galt als eine Geste des Respekts. Die alten Krieger sollten auch im Tod, größtmöglichen Respekt voreinander haben. Das wurde durch den Abstand symbolisiert.
Nacheinander verließen wir die Wiese und stapften den von Tau bedeckten Hügel hinauf. Vereinzelt sah man violett-orange Blüten aus dem kalten Tundraboden sprießen. Ein Ruf riss mich aus meinen Gedanken:“ Freki Nattfari’s Sohn! Dein Ahne hat uns viel gelehrt! Möge er in Frieden ruhen.“ Als ich mich umdrehte erblickte ich Lyria, eine Freundin im Geiste und Kriegerin im Blute, die auf mich zu hetzte. Sie war schon immer eine treue Gefährtin gewesen, und sowohl eine ausgezeichnete Strategin als auch eine tapfere Kämpferin. Ihre Waffe war ein Speer, welcher aus einem Schaft aus Graueiche und eine zweischneidige Klinge aus geeistem Stahl bestand und den Lyria so lautlos wie eine Eule auf Beuteflug führen konnte. Kaum keuchend blieb sie in ihrer blauen Ritualrüstung stehen. „Ab zum Endmahl. Lass uns unsere Bäuche füllen, mit Reh und Hirsch!“, appellierte sie an meinen ausgezehrten Organismus. „Natürlich.“, antwortete ich schnell. Bis zur riesigen Endmahl-Tafel waren es umgerechnet 5 km. Lyria sprintete in Richtung einer Anhöhe von der sie zum Sprung ansetzte und verwandelte sich im Flug zu einem Tiergeist, mit dem sie schnell aus meinem Blickfeld verschwand. Ich ging in meine lykane Gestalt über und stürzte mich kurz darauf ebenfalls von der Anhöhe und landete mitten im Tainaischen Wald. In Wolfsgestalt hetzte ich durch das Unterholz des ewigen Naturreichs. Binnen 2 Minuten hatte ich den Wald hinter mir und setzte über das verlassene Trainingsgelände hinweg, in dem normalerweise junge Rekruten trainierten. Ich überquerte die dahinterliegende Wiese und hechtete über den Eisschwarzen Fluss. Kurz vor dem Stadttor verwandelte ich mich zurück in meine Isländische Gestalt eines Menschen. Gemächlich holte ich mein Signalhorn heraus. Nachdem ich hineingeblasen hatte, öffnete sich das Tor, und ich trat hinein. Als ich nach zehn Schritten den hölzernen Torbogen passierte, erblickte ich die voluminöse Festtafel, die mit allerlei Speisen bedeckt war. Die Tafel selbst erstreckte sich über den gesamten Hauptplatz. Damit war sie an die 100 Meter lang und 15 Meter breit. Ihr bleiches Holz war von unzähligen Schrammen und Kratzern bedeckt, welche von früheren Festen und Endmähler zeugten.
Auf dem Tisch türmten sich neben gegrilltem Rentierfleisch auch geräucherter Fisch, würziges Gemüse, unzählige Desserts und Getränke in allen Variationen. Zudem glitzerte die Marinade einer Kegelrobbe im Schein der Wintersonne. Fischrogen verwandelten die Augen des Meeressäugers in rubinrote Edelsteine. Ihr Hinterteil war mit essbaren Blüten und Kräutern verziert. Gedeckt war für mehr als 200 Gäste. Und diese Tafel war nur eine von insgesamt drei. Die eine Stand am Eisschwarzen Fluss, dort wo er aufgrund seiner geringen Tiefe eine Furt bildete. Die Tafel war zwar kleiner, bat aber trotzdem mehr als 100 Personen Platz. Die andere wurde am Waldrand errichtet. Dort wurde auch das Fleisch vorbereitet, wie am Fluss der Fisch geangelt. Der Wald selbst galt als unerschöpflich. Er war ein Geschenk und eine unermessliche Quelle für Wild, Geflügel und Holz. Eine gewisse Magie war dafür verantwortlich. Die selbe Magie, welche eine Art Illusion erzeugte, um uns vor den Menschen Islands zu schützen. Diese konnten so durch den Wald spazieren ohne sich dabei vor den hiesigen Lykanern zu fürchten. Und umgekehrt. Selbiges galt für den Fluss. Es war unserem Clan nie möglich, den Fluss leer zu fischen. Im Gegenteil. Er füllte sich sozusagen sofort wieder auf. Und all das hatten wir meinem Vater zu verdanken. Ein lauter Knall löste mich kraftvoll aus meinen Gedanken. Wir alle wussten welchem Gegenstand dieser Laut zuzuordnen war. Einem Jagdgewehr. Keiner aus unseren Reihen verwendete eine solche Waffe. „Der Wall ist gebrochen!“