Mit einem neuen Frauensender kämpfen Journalistinnen in Kabul gegen die Vormacht der Männer in ihrer Heimat. Und werden dafür von jungen Afghaninnen gefeiert.
Es war in einer Nacht im März 2015, als sich Nasrin Nawa entschied, ihr Leben radikal zu ändern. In jenen Tagen versetzte ein besonders brutaler Fall Afghanistan in Aufruhr: In Kabul hatten Hunderte Männer die 27-jährige Farkunda erst zu Tode geprügelt, dann ihre Leiche angezündet und in den Kabul-Fluss geworfen. Sie hatten die Frau beschuldigt, einen Koran verbrannt zu haben, auch wenn sie das nicht belegen konnten. Handyvideos und Fotos der grölenden Männer vor dem Leichnam kursierten bald im Internet. Nawa, zu der Zeit Psychologiestudentin an der Universität Kabul, sah sich die Bilder immer wieder an. Nachts konnte sie nicht schlafen. "Was passiert in diesem Land?", fragte sie sich, "was läuft hier falsch?" Ihr wurde klar, dass sie der Gewalt gegen Frauen in ihrem Land etwas entgegensetzen wollte.

Die 23-jährige Nawa klingt kämpferisch, wenn sie am Telefon jetzt von dieser Zeit erzählt. Der Vorfall mit Farkunda habe sie nie losgelassen, sagt sie. Die Männer, die das taten, kamen aus der Stadt, sie trugen moderne Kleidung, Jeans, Turnschuhe. "Aber in ihrem Kopf sind sie rückständig und traditionell." Es war diese alltägliche Gewalt gegen Frauen, die sie nicht mehr akzeptieren wollte. Noch an der Uni veranstaltete sie Lesegruppen, Treffen für Kommilitoninnen, nach ihrem Abschluss arbeitete sie bei einem lokalen Fernsehsender. Aber als sie vor einigen Monaten von einem Sender hörte, der sich nur mit Frauenthemen beschäftigte, wusste sie: Jetzt ist ihre Zeit gekommen.
Jetzt ist Nawa Produzentin bei Afghanistans erstem Frauensender. Bei Zan TV (übersetzt: Frauen TV) konzipieren ausschließlich Frauen den Inhalt und die Gestaltung der Sendungen, sie moderieren und produzieren Talkshows und Dokumentationen für ein weibliches Publikum. Männliche Kollegen helfen ihnen mit der Technik, dem Schnitt und der Kameraführung, denn sie haben darin selbst keine Ausbildung und Erfahrung. Seit Mitte Juni ist Zan TV auf Sendung – und hat das Potenzial, der radikalste Fernsehsender Afghanistans zu werden.
Kein sicherer Ort in Afghanistan

Im Team arbeiten 50 Frauen, die meisten von ihnen sind Studentinnen. Sie berichten über Gesundheits- und Erziehungsthemen, aber auch über Politik, Wirtschaft und Religion. Sie senden jeden Tag von sechs Uhr früh bis Mitternacht aus einem Studio im Zentrum der afghanischen Hauptstadt Kabul nahe der Ministerien, großen Hotels und Einkaufsstraßen. Auch deswegen ist ihre Arbeit riskant, die Frauen fürchten Anschläge. Aber Nawa sagt: "Es gibt keinen sicheren Ort in Afghanistan."

Vor allem nicht für Journalisten. Afghanistan gehört weltweit zu den gefährlichsten Ländern für Journalisten, schreibt die Organisation Reporter ohne Grenzen. Seit dem Fall der Taliban habe sich in Afghanistan zwar eine überraschend vielfältige Medienlandschaft entwickelt, doch seien Reporter, die über Politik, Religionsgesetze oder Korruption berichten wollen, nach wie vor der Gewalt der Taliban und Warlords ausgesetzt. Vor allem Journalistinnen würden eingeschüchtert und attackiert. Übergriffe würden nur selten verfolgt und blieben meist straffrei.

Dass mit Zan TV nun ein Sender für Frauen an den Start geht, ist deshalb eine Sensation. Denn in Afghanistan sind vor allem Frauen in Medienberufen viel Kritik und Druck ausgesetzt. "Die afghanische Gesellschaft ist männerdominiert", sagt Nawa. "Mit Zan TV werden die Frauen endlich sichtbar." Mit einem Fernsehsender könnten sie großen Einfluss haben. "Viele Afghaninnen können nicht lesen und schreiben. Aber Fernsehen schauen sie alle, auch weil viele Frauen viel Zeit zu Hause verbringen." Die Journalistinnen bei Zan TV wollen anderen Frauen zeigen, dass sie Rechte haben und zum Beispiel auch arbeiten könnten.

Das ist wichtig, ist doch in kaum einem Land das Leben für Frauen so hart wie in Afghanistan. Schon lange werden Frauen in Afghanistan diskriminiert, auch wenn es immer wieder Emanzipationsbewegungen gab. Während der sowjetischen Besatzungszeit in den 1980er Jahren konnten Frauen studieren und selbst entscheiden, wen sie heiraten wollten, auch wenn sich die Öffnung eher in den Städten und weniger auf dem Land vollzog. Diese von außen angetragene Modernisierung endete abrupt mit dem Abzug der Sowjettruppen. Während der Taliban-Herrschaft von 1996 bis 2001 durften Afghaninnen nur mit Burka das Haus verlassen, Mädchen durften nicht zur Schule gehen. Wer dennoch lernen wollte, musste Schulen im Untergrund besuchen und riskierte die Todesstrafe.
Männer entscheiden, was als moralisch gilt

Seit dem Ende der Taliban-Herrschaft gehen zwar Millionen Mädchen wieder zur Schule, einige Frauen arbeiten. Doch in Afghanistan entscheiden die Männer, was als moralisch gilt und was nicht. Das liegt auch daran, dass die islamistischen Kräfte Teil des Staatsapparates sind. Beobachter monieren, dass die einstigen Kriegsherren und religiösen Führer, mit denen sich der Westen 2001 zusammengeschlossen hat, genauso wenig von Gleichberechtigung halten wie die Taliban.

So kritisieren afghanische Frauenrechtlerinnen, dass es für Frauen in ihrer Heimat unmöglich sei, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Alltäglich sei die Gewalt gegen sie, häufig würden sie auch von normalen Männern belästigt und attackiert. Etwa wenn das Kopftuch nicht fest genug anliegt, wenn Frauen arbeiten, wenn sie ausgelassen lachen.

Nawa erzählt von Mitstudentinnen, die nach dem Studium keine Arbeit annehmen durften, weil die männlichen Familienmitglieder dagegen waren – obwohl die jungen Frauen hochqualifiziert waren. Und davon, dass viele Frauen noch immer wirtschaftlich und sozial von den Männern abhängen und vor allem deswegen gehorchen. "Sie trauen sich nicht, aufzubegehren, weil sie sonst ihre Existenz verlieren", sagt Nawa.
Die Gesellschaft öffnet sich langsam

Bei Nawa war das anders. Ihr Vater hat sie ermutigt, zu studieren und zu lernen, auch wenn er als Bauarbeiter selbst nicht besonders gebildet war. Er habe sie dazu angehalten, sich alles zuzutrauen, unabhängig zu sein. Deshalb ist Nawa vor fünf Jahren zum Studium aus ihrer Heimatstadt Herat nach Kabul gezogen, ohne Freunde und Familie, ganz auf sich allein gestellt. Sie musste arbeiten, um sich ihren Lebensunterhalt zu finanzieren. Der Anfang sei sehr hart gewesen, sagt sie. Frauen bekommen selten eine Arbeit angeboten, auch gibt es nur wenige Vermieter, die einer unverheirateten Frau eine Wohnung geben wollten. Heute teilt sich Nawa die Wohnung mit ihrer Schwester und Mutter, der Vater ist in Herat geblieben. Dass drei Frauen ganz ohne Mann leben können, verstehen ihre Nachbarn nicht. Einige schauten sie komisch an, wenn sie sie auf der Straße treffe, sagt Nawa, aber das sei ihr egal.
Nawa sagt: Für selbstbewusste Frauen ist es sehr schwierig in Afghanistan. Aber sie sagt auch: Die Gesellschaft öffnet sich langsam. "Die sozialen Netzwerke erweitern den Horizont", sagt sie: "Facebook öffnet den Blick in die Welt." Vor allem in Städten wie Kabul trauen sich viele junge Frauen, unkonventionelle Wege zu gehen. Das zeigt sich in der kleinen, aber wachsenden Frauenbewegung, die sich Räume erkämpft.
Ein Mann hat den Frauensender gegründet

Es sind Frauen wie Nawa, die neben ihrer Arbeit bei Zan TV jede Woche bei einer Frauenradrenngruppe trainieren. Es sind die Bergsteigerinnen der Gruppe Ascend, die bei Schnee, Regen und Hitze auf die Berge rund um Kabul klettern, um zu zeigen, dass sie es auch ohne Männer auf den Gipfel schaffen. Es sind die Redakteurinnen von Gellarah, dem ersten Frauenmagazin Afghanistans, die über Yoga, die Pille oder Tinder schreiben oder debattieren, warum man als Muslimin auf ein Kopftuch verzichten könnte.

Das Bewusstsein für Gleichberechtigung sei gewachsen, sagt Nawa, bei den Frauen, aber auch bei den Männern. Deswegen ist es vielleicht ein gutes Zeichen, dass es ein Mann war, der Zan TV gegründet hat. Der Unternehmer Hamid Samar suchte eigentlich einen Moderator für einen Sender in der konservativen Provinz Nangarhar. Doch die Bewerber für diese Stelle waren fast ausschließlich weiblich. Da sei ihm klar geworden, dass man Frauen die Gelegenheit geben müsse, zu arbeiten und sich zu beweisen, sagte Samar in einem Interview. Samar finanziert alles selbst, was bedeutet, dass er nicht immer alle Honorare zahlen kann oder nur sehr geringe. Doch er sei sehr motiviert, sagt Nawa. Und das motiviere auch die Frauen.

Die Resonanz ist überwältigend. Jeden Tag gehen Dutzende Bewerbungen bei ihnen ein, immer wieder stehen Frauen vor dem Studio in Kabul, um zu fragen, ob es freie Stellen gebe. "Für Frauen ist es sehr schwierig, aus dem Haus zu gehen und zu arbeiten", sagt Nawa. "Aber wenn die Familien wissen, dass sie dort mit Frauen zusammenarbeiten, sind sie beruhigt." Auch wollten viele Afghaninnen für Frauenrechte kämpfen. "Wir bieten ihnen die Möglichkeit dazu."
"Ihr werdet Afghanistan verändern"

In ihren Sendungen sprechen die Journalistinnen über Erste Hilfe oder Schwangerschaftsgymnastik, vor allem aber über Tabuthemen. Sie berichten über Frauen, die in Frauenhäuser geflüchtet sind, weil sie den Wutattacken ihrer Männer entgehen wollten. Oder über Frauen, die ohne Verfahren wegen sogenannter Sittenverbrechen im Gefängnis sitzen, weil sie vor häuslicher Gewalt oder einer Zwangsheirat weggelaufen sind. Anderen wird nach einer Vergewaltigung der Vorwurf gemacht, dass sie "außerehelichen Geschlechtsverkehr" gehabt hätten. So würden Opfer zu Verbrechern gemacht, kritisiert die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW). Laut HRW wurden in Afghanistan in den vergangenen Jahren Hunderte Frauen und Mädchen wegen dieser vermeintlichen Verbrechen inhaftiert.

Mit ihren Berichten üben die Frauen von Zan TV auch Kritik an den afghanischen Behörden. Wenn eine Frau vergewaltigt werde, sei das ein Verbrechen, sagt Nawa. "Aber die Behörden tun nichts oder bestrafen die Frau, weil sie angeblich selbst schuld sei an dem Übergriff." Ein Problem sei auch, dass viele Gewaltverbrechen gegen Frauen durch traditionelle Streitschlichtungsmechanismen vermittelt werden, anstatt sie strafrechtlich zu verfolgen, wie es das Gesetz vorsieht.

Widerstände gegen diese Form von Systemkritik erleben die Redakteurinnen von Zan TV viele. Wenn Nawa etwa versucht, als Journalistin in Frauenhäuser zu gehen, verweigern ihr die Behörden oft die Erlaubnis. Die Behörden hätten Angst vor den vielen düsteren Geschichten der Frauen, die dort aus der Gesellschaft verbannt seien, sagt Nawa.
Weitermachen, trotz der Drohungen

Dass diese Themen einen Nerv treffen, zeigen die vielen positiven Reaktionen. In den sozialen Netzwerken werden die Frauen von Zan TV gefeiert. Auf Facebook schreiben Dutzende junge Frauen Kommentare wie: "Ihr seid so mutig" oder: "Ihr werdet Afghanistan verändern".

Doch es gibt auch Kritik bis hin zu Drohungen, vor allem von Männern aus der ländlichen Umgebung von Kabul. "Wie könnt ihr es wagen, Frauen einzustellen", schreiben einige. "Wir werden euch aus dem Weg räumen", schreiben andere. Oder auch: "Macht nur weiter so, wir kriegen euch schon." Nawa bekommt Dutzende solcher Nachrichten. "Sie versuchen uns zu stoppen", sagt Nawa und lacht, "aber wir machen weiter".

Dann muss Nawa auflegen. Sie muss jetzt zum Training. In wenigen Tagen steht ein wichtiges Radrennen an, da treffen sich Frauen aus dem ganzen Land, um gegeneinander zu fahren. Und da muss Nawa fit sein. "Wir wollen, dass die Stimmen der Afghaninnen endlich gehört werden", sagt Nawa noch. Das sei eine große Aufgabe. "Aber wir sind auf einem guten Weg".
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