Algeria

Ein umfassendes und spannendes Werk des britischen Historikers der Universität Sussex über Algerien seit der französischen Eroberung 1830. Der Schwerpunkt liegt, wie anders nicht zu erwarten, in der Auseinandersetzung zwischen der Front de Liberation Nationale (FLN) und Frankreich zwischen 1. November 1954 und der Unabhängigkeit am 25. September 1962.

Sehr informativ sind die Auseinandersetzungen mit der französischen Politik wie auch mit den internen Machtkämpfen der FLN.

Die französische Politik schwankte zwischen drei Optionen:

1. Algerien bleibt französisches Staatsgebiet
2. Algerien wird unabhängige Republik
3. Algerien wird unabhängig, aber mit Frankreich assoziiert

Die erste Option zog der sozialistische Premierminister Mollet, als er 1956 die Befriedung ("pacification") Algeriens und damit die Ausschaltung der FLN beauftragte, was ihm breite Zustimmung - inklusive der Kommunisten, die Angst vor den Wählerstimmen der französischen Arbeiter, die in die Armee eingezogen waren, hatten - brachte. Die Folge? Die französischen Spezialeinheiten übten brutalste Gewalt aus, womit die franzöischen Armee mit der terroristischen FLN in Punkto Gewalt "gleichzog".

Als 1958 die politische Situation in Frankreich aufgrund der immer gewalttätigeren Auseinandersetzungen immer mehr erodierte, kam de Gaulle zurück ins Spiel, doch dieser entsprach nicht den Hoffnungen der französischen Siedler und den Rechten in Frankreich: er bevorzugte ein unabhängiges Algerien, das mit Frankreich assoziiert ist, gegenüber einem Algerien, das bei Frankreich bleibt. Dies provozierte einen Putschversuch und die Bildung der militanten Siedlerorganisation Organisation de l'armée secrète (OAS).

De Gaulle setzte sich durch und in Évian wurde 1962 mit der FLN ein Waffenstillstand und ein Weg zur algerischen Unabhängigkeit ausgearbeitet sowie unterzeichnet.

Über die Hintergründe der Entscheidung de Gaulles wurde seitdem viel spekuliert, und das Hauptargument war immer der internationale Druck (USA, UNO, Sowjetunion, Großbritannien). Evans jedoch führt einen weiteren, bis jetzt unbekannten Aspekt ins Spiel: de Gaulle habe aufgrund des demographischen Wachstums der muslimischen Bevölkerung in Algerien die Vision gehabt, dass alleine aufgrund der höheren Geburten ein französisches Algerien dazu führen würde, dass Frankreich ein mehrheitlich muslimischer Staat werden würde.

Evans führt als Beleg ein Gespräch mit dem Parteifunktionär Alain Peyrefitte im Jahre 1959 an, dass Frankreich nicht mehr ein Land der griechischen, römischen und christlichen Kultur wäre. In hundert Jahren würde sein Heimartort nicht mehr Colombey-der-zwei-Kirchen, sondern Colombey-der-zwei-Moscheen heißen.

de Gaulle auf Französisch:
C'est très bien qu'il y ait des Français jaunes, des Français noirs, des Français bruns. Ils montrent que la France est ouverte à toutes les races et qu'elle a une vocation universelle. Mais à condition qu'ils restent une petite minorité. Sinon, la France ne serait plus la France.

Nous sommes quand même avant tout un peuple européen de race blanche, de culture grecque et latine et de religion chrétienne. Qu'on ne se raconte pas d'histoire! Les musulmans, vous êtes allés les voir? Vous les avez regardés avec leurs turbans et leurs djellabas? Vous voyez bien que ce ne sont pas des Français. Ceux qui prônent l'intégration ont une cervelle de colibri, même s'ils sont très savants.

Essayez d'intégrer de l'huile et du vinaigre. Agitez la bouteille. Au bout d'un moment, ils se sépareront de nouveau. Les Arabes sont des Arabes, les Français sont des Français. Vous croyez que le corps français peut absorber dix millions de musulmans, qui demain seront vingt millions et après-demain quarante? Si nous faisions l'intégration, si tous les Arabes et les Berbères d'Algérie étaient considérés comme Français, comment les empêcherez-vous de venir s'installer en métropole, alors que le niveau de vie y est tellement plus élevé? Mon village ne s'appellerait plus Colombey-les-Deux-Églises, mais Colombey-les-Deux-Mosquées.

https://lesobservateurs.ch/2015/09/28/charles-de-gaulle-colombey-les-deux-mosquees/
Die FLN selbst zersplitterte sich immer mehr in Fraktionen, die im Land kämpften, und einer im Exil befindlichen Exilregierung. Nach der Unabhängigkeit wurde bis 1965 ein blutigster Krieg zwischen diesen Fraktionen geführt, und Algerien wurde ein von Militärführern dominierter Einparteienstaat mit sozialistischer Ausrichtung.

Nach Aufständen Anfang der 90er Jahre wurde der Versuch einer Mehrparteiengesellschaft gewagt, der von der radikalislamischen Heilsfront, der Front islamique du Salut (FIS) zu ihrem Vorteil genutzt werden konnte. Aus den Wirren der 1990er Jahre ging das FLN-Urgestein Abdelaziz Bouteflika als Sieger hervor, der 1999 Präsident wurde und 2019 zurücktrat.

Top-Buch über ein Land, in dem die Bewohner seit über einem halben Jahrhundert die Arschkarte gezogen haben.