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Hieronymus Bosch: Die sieben Todsünden (via kunstdirekt.net). Jedem Kapitel ist dieses Bild vorangestellt.


Über neunhundert Seiten "Privatroman" veröffentlichte die 2004 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnete österreichische Autorin auf ihrer Homepage zur freien Lektüre und zum freien Download, wo der Roman immer noch zu lesen oder als PDF zur Verfügung steht.

Was soll ich sagen? Es sind über neunhundert Seiten Monolog, es ist ein Brabbeln, eine "Blogwurst", wie Jelinek es nennt, keinerlei Reflexionen, sondern Sätze, die nie aufhören, aneinandergereihte Assoziationen, ohne je einem Gedanken strukturell nachzuhängen. Nabelschau nicht im Sinne von Peter Handke, sondern im Sinne von Shoegazing, dem Musikstil, der alles zu einem Brei formt. Und so ist auch dieser Text wie ein Brei, der einem durch die Hände rinnt, ein paar Klumpen bleiben hängen.

Um mal eine dieser nicht immer "politisch korrekten" Assoziationsketten zu illustrieren:

Einkauf im Supermarkt -> geringere Warendiversifikation, da nur eine Sorte Weintrauben -> aber wenigstens Weintrauben und keine Jungfrauen -> für Jungfrauen würde sich "der Araber" jederzeit ins Paradies sprengen -> Jungfrauen findet der Leser im Puff gleich an der Hauptstraße

Nachzulesen in diesem Kapitel, Seite 41 (Jelinek wünscht keine direkten Zitate außerhalb ihrer Homepage):
https://www.elfriedejelinek.com/fneid4c.htm (Archiv-Version vom 07.04.2022)


Diese Art von Text spannt sich über 900 Seiten, es ändert sich nicht, und außerdem ist eigentlich nie eindeutig, wer da jetzt überhaupt monologisiert. Verschiedene Perspektiven laufen in den Monolog ein, Frauenstimmen und Männerstimmen scheinen ineinander verwoben zu sein, sogar ein Toter, der als Geist die sterbende Stadt beobachtet, erhält eine Stimme. Und da dieser (beileibe sehr gut geschriebene) Text eher an Shoegazing gemahnt, fällt man in den Text hinein und überliest so manche Bröckchen.

So wird irgendwo plötzlich in einen Monolog über irgendwas der Todesmarsch der Juden vom steirischen Erzberg nach Mauthausen und die KZ-Wächterin Erna Wallisch eingebaut. In einen Monolog über Fellatio zwischen einer alten Frau und ihrem jugendlichen Gespielen wird der Massenmord an gut 200 Juden im burgenländischen Rechnitz montiert.

Hat dieser Text überhaupt einen roten Faden? Ja, er findet sich und lässt sich auch umreißen:

Es geht um eine Stadt am steiermärkischen Erzberg, die nach dem Verkauf des Verkauf des staatlichen Bergbaus aufgrund Personalabbaus innerhalb von 10 Jahren von 13.000 auf 7.000 Einwohner geschrumpft ist und verzweifelt versucht, sich als Touristengemeinde zu etablieren. Es handelt sich eindeutig um die Stadt Eisenerz, die heute - elf Jahre später - nur mehr 3.500 Einwohner hat.

Und da ist die Geigenlehrerin Brigitte K. Ihr Mann verlässt sie wegen einer jüngeren Geliebten und sie erhält als "Ausgleich" das Reihenhaus. Sie beginnt, den jungen, knackigen Sohn der Nachbarin zu verführen, indem sie ihm einen Gebrauchtwagen als Geschenk in Aussicht stellt. Schließlich ermordet sie die Geliebte ihres Ex-Mannes. Was alles aber nicht in einem Zug erzählt wird, dieser "Plot" ist in die mäandernden Monologe eingebaut.

Am Ende kommt der Roman zurück auf die verfallende Stadt zu sprechen und auf den verfallenden Körper alter Menschen.

Nicht unbedingt leichter Tobak und nicht immer ein Vergnügen zu lesen, da neben den Kernmotiven unglaublich viel zerredet wird, Tagesaktualitäten thematisiert werden. Es gibt eigentlich keine Kernaussage, außer Vergänglichkeit, Neid und Unmenschlichkeit.

Links im Spoiler

Der Text:
http://www.elfriedejelinek.com (im linken Rahmen unter "Prosa" findet sich der Zugang)

Jelineks Anmerkungen zum Roman (Codierung auf ISO Latin-1 stellen falls Umlaute nicht lesbar sind):
http://www.elfriedejelinek.com/fanmerk.htm (Archiv-Version vom 29.06.2020)

Interview:
http://fiktion.cc/elfriede-jelinek/ (Über das Lesen und Schreiben am Computer)

Rezensionen:
https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/jelineks-internetroman-neid-frauen-maenner-klischees-1547082.html
https://www.deutschlandfunkkultur.de/virtuelle-blogwurst.950.de.html?dram:article_id=136526
https://www.textpraxis.net/lena-lang-elfriede-jelineks-digitale-selbstinszenierung
http://www.fuzo-archiv.at/artikel/1500278v2
http://www.literaturhaus.at/index.php?id=1588
https://www.welt.de/kultur/theater/article1976052/Elfriede-Jelinek-schreibt-im-Netz-zu-Amstetten.html
https://www.heise.de/newsticker/meldung/Elfriede-Jelinek-vollendet-Roman-im-Internet-206221.html
https://www.focus.de/kultur/buecher/elfriede-jelinek-eine-suada-ueber-alles-und-nichts_aid_301368.html
https://www.sueddeutsche.de/kultur/von-der-kunst-ein-buch-nicht-zu-verkaufen-der-blasse-neid-1.895459
https://taz.de/!5199740/

Universitäre Rezeption:
https://jelinetz.com/2012/02/23/heidrun-siller-gewebtes-ohne-gewicht-elfriede-jelineks-neid-privatroman-und-die-ar-beit-an-einer-geschichtsphilosophie-im-angesicht-des/
http://www.elfriede-jelinek-forschungszentrum.com/fileadmin/user_upload/Hochradl_Reflexionen_über_Elfriede_Jelineks_„Neid“pdf.pdf
https://oe1.orf.at/artikel/453461/Mythen-Masken-Sprachschablonen
https://www.univie.ac.at/elib/index.php?title=Medium_is_the_message_-_Elektronisches_Publizieren_-_Gernot_Hausar_-_2007 (Archiv-Version vom 12.03.2019)
http://www.baerbel-luecke.de/jelinek_neid.pdf
http://www.baerbel-luecke.de/jelinek_unmoeglichkeit.pdf
https://www.diegesis.uni-wuppertal.de/index.php/diegesis/article/view/149/192
https://www.austrian-studies.org/kade/pdfs/6.Strigl(2006).pdf