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Ich habe die Versübertragung von Hermann Kurtz und Wolfgang Mohr herangezogen, um seit Langem wieder mal dieses Epos zu lesen. Was mich diesmal in den Bann gezogen hat, war weniger die Liebesgeschichte, sondern wie sehr König Marke eigentlich an der Nase herumgeführt wird.

Marke wird von den Höflingen und Fürsten zur Hochzeit gedrängt, weil sie dessen Neffen Tristan eigentlich nicht als Erben des Throns haben wollen. Bei der Hochzeitsnacht wird ihm Brangäne, Isoldes Cousine und Zofe, untergeschoben, weil sie - im Gegensatz zu Isolde - noch Jungfrau ist (sie zerbricht an diesem wörtlichen Liebesdienst). Dem Liebestreiben von Tristan und Isolde schaut er wissentlich zu, bis er sie schließlich inflagranti erwischt.

Die interessanten Aspekte sind eigentlich die Brüche in der Geschichte bzw. auch die Schichten, die in der Tiefe des Textes zu finden sind:

- Frauen sind Spielbälle: Isolde wird verheiratet, obwohl sie nicht will, und ihre Cousine muss als Sexobjekt herhalten
- Eigentlich müsste Isolde sowieso Tristan zugesprochen werden, da er den Irland bedrohenden Drachen tötet
- Der Hof von Marke in Cornwall ist ein Haufen intriganter Höflinge
- Um den Gerüchten des Verhältnisses entgegenzuarbeiten, schickt Marke die beiden vom Hof (WTF?)
- Vertrieben vom Hof finden Tristan und Isolde eine in alten Zeiten von Riesen gebaute Liebesgrotte
- Marke sieht beide in der Grotte schlafen, und da ein Schwert zwischen ihnen liegt, ist er von der Unschuld überzeugt
- Als Marke schließlich doch auf das Verhältnis draufkommt, läuft Tristan davon und reist in die Normandie
- Für Isolde scheint dies keine Konsequenzen zu haben, außer dass sie fürchterlich traurig ist

Auch das Alter von Isolde passt nicht ganz, da sie eine erfahrene Heilzauberin ist, die den jungen Tristan von einer vergifteten Wunde heilt. Aber da scheinen - auch wie bei der Liebesgrotte und den Riesen - ältere Geschichten einzufließen. Ihre Mutter ist definitiv zauberkundig, sie mischt auch den Liebestrank, den Tristan und Isolde bei einer Landung auf einer Insel zwischen Irland und Cornwall versehentlich trinken. Isolde selbst wendet im Fortlauf der Geschichte nie ihre Zauberkünste an.

Auf jeden Fall lässt sich dieses Epos von ca. 1210 nicht mit anderen höfischen Epen vergleichen, in denen Ritter über Bewährung im Ritterdienst rechtmäßige Landesherren und tugendhafte Ehemänner werden (Erec, Iwein, auch Parzival). Hier wird Liebe und Leidenschaft thematisiert. Selbst für die Nachgiebigkeit Markes gibt es eine Erklärung: seine Lüsternheit und Gier.
Warum doch, Herr Gott, und für was
war er [Marke] ihr so innig gut?
Worum es heut noch so mancher tut:
Gelüsten und Verlangen
muß hangen und bangen
und leiden, was ihm auch geschieht.
Ach, wie viele man heute noch sieht
dieser "Marke und Isolde",
wenn man sie nennen sollte!
Einer der Gründe mag darin liegen, dass Gottfried vielleicht gar kein Adeliger war. In seiner Miniatur der Manessischen Handschrift (frühes 14. Jh.) ist er als "Meister" bezeichnet, was ihn als Stadtbürger ausweisen würde.

322px-Codex Manesse Gottfried von Straßb

Die im Beck-Verlag erschienene Version ist gekürzt, manche Teile sind durch Prosazusammenfassungen überbrückt, und dass Tristan am Ende während seiner Kriegsteilnahme Isolde Weißhand kennenlernt und heiratet, ist nicht in dieser Fassung.

Die nicht bearbeitete Übertragung von Kurtz ist auch online, die letzten Kapitel geben die Weiterführungen von Heinrich von Freiberg bzw. Ulrich von Thürheim wieder:
http://www.zeno.org/Literatur/M/Gottfried+von+Straßburg/Epos/Tristan+und+Isolde