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Die in den 1950er Jahren als Auftragsarbeit des Leipziger Reclam-Verlags entstandene Prosa-Übersetzung zählt zu den ganz großen Würfen. Zurecht. Nicht nur weil es der Doyen der mittelalterlichen Germanistik, Peter Wapnewski, feiert, sondern auch weil es einach großartig zu lesen ist.

Dabei ist die Entstehungsgeschichte dieser Übersetzung alleine schon ein Abenteuer. Manfred Bierwisch, Germanistikstudent in Leipzig und aus politischen Gründen vorbestraft, erhält vom Reclam-Verlag einen Werkvertrag zu einer Prosa-Übersetzung des Nibelungenlieds. Er ist lungenkrank und will eigentlich an seiner Linguistik-Dissertation schreiben, sein Freund Uwe Johnson ist bettelarm. So entscheiden sie, gemeinsam am Projekt zu arbeiten. Die Arbeitsweise: Johnson übersetzt, Bierwisch liest gegen, beide Entscheiden über eine Endversion.

Die Übersetzungskonzeption ist schnell gefunden: Namen werden in ihrer alten Form wiedergegeben, damit aus einem Sîfrit kein Sigfried wird. Damit gibt es keine Banalisierung, keine ungewollte Aktualisierung. Der Text bleibt in seiner Länge erhalten und die Prosa überbrückt die formale Distanz der alten Versform. Damit schaffen die beiden beinahe ein neues Kunstwerk für unsere Zeit: beklemmende Nähe der Brutalitäten bei gleichzeitiger Fremdheit der Akteure.

Wenn zum Beispiel 9000 Leute des burgundischen Gesindes noch vor dem Showdown am Ende am Hunnenhof erschlagen werden, drängt sich (für mich) unweigerlich ein Vergleich auf: Srebrenica. Die im Original übertrieben hohen Zahlen an Gesinde sind im Nibelungenlied eigentlich nur literarisch notwendiges Beiwerk (Könige müssen mit großem Gefolge reisen, sonst sind sie keine Könige, und das wird bei allen möglichen Reisen bis zur Unmöglichkeit durchgezogen). In der Prosaübersetzung tauchen vor dem Leserauge Bilder von tausenden Hingemetzelten auf.

Diese eingetümliche Ambivalenz der vors Auge geführten brutalen Realität bei gleichzeitiger Distanz findet sich schon ganz am Anfang, als Sîfrit zu den Burgunden am Rhein kommt, um Krîmhilt zur Frau zu gewinnen: Er droht Gunther, das ganze Burgundenland militärisch zu unterwerfen. Der war nicht ganz so erbaut über diese Option, also werden die vorbildlichen Ritter halt Freunde. Eine zeitlang zumindest. Der Rest ist wohl eh bekannt.

Um nochmal zur Übersetzung zurückzukommen. Das an manchen Stellen skurrile Werk verleitete die jungen Übersetzer auch zu einem Osterei dem Verlag gegenüber, das Bierwisch im Nachwort so beschreibt:
Im Gemetzel der vorletzten Aventiure sagt Meister Hildebrants Neffe Wolfhart, nachdem er und König Gunthers Bruder Gîselher einander erschlagen haben, zu seinem Oheim, die Verwandten sollten nicht trauern, »denn ich habe einen herrschaftlichen Tod durch einen König gefunden«. Dem hatte Johnson angefügt »Ich bin immerhin von einem Mercedes 600 überfahren worden!« Daß wir dies zur Meinungsbildung auch dem Reclam-Verlag im Manuskript unterbreitet haben, ist mir dann als Tücke ausgelegt worden, mit der die Aufmerksamkeit des Lektorats getestet werden sollte, was uns allerdings vollkommen ferngelegen hat: wir wußten ja, daß wir noch Korrektur zu lesen hatten.
Die Lobeshymne auf die Übersetzung von Peter Wapnewski 2006 in der ZEIT ist noch nachzulesen:
https://www.zeit.de/2006/25/L-Nibelungen_xml/komplettansicht

Ich schließe mich an. Obwohl ich die Versform des Originals genial finde, diese Prosaübertragung wird wohl nicht altern. Sie ist immer noch ein Lektüregenuss.