Regierungsprogramm-2020

Da sich durch die Coronakrise die Aufgaben für eine Regierung doch geändert haben, führte ich mir das österreichische Regierungsprogramm von Türkis-Grün zu Gemüte. Doch interessant, wie die Schwerpunkte abseits der Buzzwords "Digitalisierung" (Breitband-Ausbau, 5G-Ausbau, digitale Verwaltung) und "Klimaschutz" gesetzt sind.

Gleich zu Beginn sind Schwerpunkte gelistet:

1. Entlastung für arbeitende Menschen
2. Einhaltung der Klimaziele von Paris (Ö soll 2040 CO2-neutral werden)
3. Nachhaltiger und wettbewerbsfähiger Wirtschaftsstandort
4. Armutsbekämpfung und soziale Sicherheit
5. Konsequenter Kurs bei Migration und Integration
6. Beste Bildung für alle
7. Nachhaltige Finanzen, ausgeglichener Haushalt (Maastricht-Kriterien anstreben)
8. Transparenz im öffentlichen Bereich

Wenn man sich nun die konkreten Pläne anschaut, neben einer Familienentlastung wird bei Punkt 1 eine Lohnsteuersenkung angestrebt (wie überhaupt so manche Steuersenkung). Gepaart mit Ziel 7 bedeutet dies, der Staat wird bei den Ausgaben sparen, ein Trend zur Austerität (das Wort "Verschlankung" kommt nicht vor) ist zu erkennen. Dass man sich für eine EU-weite Transaktionssteuer einsetzen werde, bringt ja jetzt auch nichts in die Kassen.

Angestrebt wird die Halbierung der Zahl der Armutsgefährdeten, ohne jedoch einen Lösungsansatz vorzustellen. Auch werden prekäre Lohnverhältnisse mehrfach mit einem Textbaustein thematisiert, aber zu einem Mindestlohn findet sicih nichts.

Wie wenig letztlich unselbständig Arbeitende wertgeschätzt sind, zeigt der Abschnitt über Arbeitsschutz. Bei Arbeitsschutzverletzungen soll "beraten vor bestrafen" gehen. Gesetzesbrechende Unternehmen werden in einen Wattebausch gelegt.

So sehe ich auch den Punkt "Zeitkonto". Überstunden sollen mit Freizeit abgegolten werden. Eine für Unternehmen sicher billige Lösung.

Beim sozialen Wohnbau ist mehr oder weniger nur über den Ausbau der Option "Mietkauf" die Rede, auch nicht unbedingt eine Variante für Ärmere. Der Staat zieht sich aus dem sozialen Wohnbau zurück, dafür wird ellendlang geschrieben, mit welchen Technologien klimaneutral gebaut werden kann.

Beim Pensionswesen steht auch nur da, dass das System erhalten bleibt, des Langen und Breiten wird aber über private Vorsorge via Finanzmarktprodukte gefaselt, als ob die Regierung eine Aufgabe als Bankberaterin übernommen hätte. Individualisierung und Privatisierung der Vorsorge ist die Stoßrichtung.

Wie Vieles andere auch, so im Gesundheitswesen und in der Pflege. Die Begriffe "Vorsroge" und "Erhalt der Erwerbsfähigkeit" werden in Dauerschleife wiederholt, und was dahintersteckt: sowohl im Gesundheitswesen als auch bei Reha und Pflege soll so viel wie möglich zuhause bzw. ambulant erfolgen. Was dies für Reha-Zentren von Bund, Ländern und Sozialversicherungen bedeutet, lässt sich ausmalen. Boomen könnte dann der Bereich der privaten Rehazentren (hochwertig und sauteuer).

Bei der Reduktion des Gold-Plating (Übererfüllung von EU-Standards) soll zumindest der soziale Bereich ausgeklammert werden, wobei aber wie beim Lohndumping angeführt wird, dass Verhandlugen mit Nachbarstaaten (wohl CZ, SK, HUN, SLO) notwendig seien. Ein Opt-Out aus diesem Ziel?

Im öffentlichen Bereich bekennt man sich dazu, dass Wasserressourcen nicht privatisiert werden und der öffentliche Verkehr ausgebaut werden soll (da pfuscht jetzt Corona rein, die Leute sind wohl wieder mehr privat unterwegs).

Wirtschaftlich stürzt man sich auf KMUs, vor allem "Start Ups" sind sehr wichtig. Als ob es sonst nichts gäbe. Auch im Tourismus werden eingesessene Betriebe geschützt, private Zimmervermietung soll auf 90 Tage im Jahr beschränkt werden.

In der Landwirtschaft gibt es ein Bekenntnis zu Familienbetrieben (eh super, aber die können kaum ein ganzes Land ernähren) und eine Ablehnung von "Agrarfabriken" (ohne zu definieren, was das Wort genau bedeutet). Konkreter ist da schon, das landwirtschaftliche Gewinne bei der Steuererklärung auf drei Jahre aufgeteilt werden können. Damit lässt sich das angestrebte Schredderverbot von Lebendküken sicher verkraften. Überhaupt ist Öko für die Landwirtschaft anzustreben (lässt sich ja auch teuer verkaufen).

Außenpolitisch sieht sich die Regierung als "Türöffner der Wirtschaft" (kennen wir, die Reisedelegationen sind immer wieder lustig anzusehen, besonders die nach China). Apropos China, es gibt da eine Länderliste bezüglich außenpolitischer "Prioritäten": Russland, Ukraine, China, Nachbarstaaten, Südtirol, Afrika. In dieser Reihenfolge. Das kommentiere ich mal nicht.

Auch "humanitäre Hilfe" ist nach Ländern gereiht, in denen Österreich sich engagieren will. Die Reihung: Libyen, Jemen, Syrien, Nachbarländer. Grundsatz: Hilfe vor Ort hat Vorrang. Damit soll auch Pull-Faktoren für Migration verringert werden.

Dass sich eine österreichische Regierung gegen Antisemitismus ausspricht und das Existenzrecht Israels betont, sollte selbstverständlich sein, aber sie äußert sich auch ganz dezitiert zu einer politischen Lösung im Nahen Osten, sie tritt für eine Zwei-Staaten-Lösung ein. Wobei aber betont wird, dass auch gegen Antizionismus im Land vorgegangen werde. Das ist eine Ansage.

Der Westbalkan scheint ein Steckenpferd zu sein (Franz Ferdinand, schau oba!), Österreich werde dafür eintreten, dass alle Staaten des Westbalkans in die EU aufgenommen werden, außerdem werde auch militärische Hilfe durch das Bundesheer im Westbalkan angeboten (wie immer das ausschauen soll, wird nicht genannt).

Bezüglich der EU ist interessant, dass Österreich für eine Vertretung der EU in den VN (sie schreiben UNO so, obwohl ansonsten der Text von Anglizismen nur so strotzt) sich einsetze. Nicht nur das: Die EU soll einen Sitz um VN-Sicherheitsrat erhalten.

Der Grenzschutz der EU soll durch FRONTEX gestärkt werden, so lange dies aber nicht funktioniere (steht so drinnen), behalte sich Österreich das Recht vor, seine EU-Binnengrenzen selbst zu schützen.

Abgelehnt wird ein Abkommen mit MERCOSUR, dem südamerikanischen Wirtschaftsbündnis. Dahinter steckt wohl der Schutz der Landwirtschaft (ein wichtiger politischer Faktor in der ÖVP). Deutschland dürfte sich weniger freuen, da es dadurch KFZ-Exporte erhofft.

Dennoch soll das Europabewusstsein der Bevölkerung gehoben werden, alle 15-18-Jährigen an Schulen sollen EU-Institutionen in Brüssel besuchen. Bin gespannt, ob diese neue "Schullandwoche" eingeführt wird. Was so ein Detail in einem Regierungsprogramm zu suchen hat, erschließt sich mir nicht. Aber es steht ja auch drinnen, dass Unter-14-Jährige kein Kopftuch tragen dürfen sollen. Mir scheint, da sollten mehr Institutionen einbezogen sein (die übrigens jetzt "Stakeholder" heißen).

Migration (ein Steckenpferd von Kurz) kommt auch nicht zu kurz. Flüchtlingsverteilung innerhalb der EU ist vom Tisch, es wird abgelehnt. Mehr noch. EU-Staaten, welche gegen Bestimmungen des Dublin-Abkommen verstoßen, sollen sanktioniert werden.

Integration und "Extremismus (politischer Islam)" - so ist das mehrfach formuliert - gehen zusammen. Ziel ist der "freie, gebildete, aufgeklärte Mensch" (no na!), und via Integrationsangeboten soll dieses Wertebild auch Migranten und Flüchtlingen übermittelt werden. Wenn diese Angebote nicht angenommen werden, soll es Sanktionen geben. Parallelgesellschaften sollen unbedingt verhindert werden. Im Gegenzug soll verstärkt gegen Rechtsextremismus vorgegangen werden. Da haben Grün und Türkis sich ihre Rosinen gepickt.

Dass Fragen zu Migration einen koalitionsfreien Raum bilden können (war in den Medien heftig diskutiert), finde ich gut, da eine Sollbruchstelle entschärft wurde. Zumindest ein Bekenntnis dazu, dass die Regierung länger als bis zum ersten Streit halten soll.

Bezüglich innerer Sicherheit steht das Übliche (Bekenntnis zur Polizei und dem Ausbau der Ressourcen, dazu wird digitalisiert und Polizeistationen werden klimaneutral), aber dennoch ein Hammer: bei Versammlungen wird an "Schutzzonen" gedacht. Das kenne ich eigentlich nur aus Russland, wo Demos durch Absperrungen an einen Ort zusammengepfercht werden. Auch soll der Rechtsschutz für Behörden, die Versammlungen verbieten, ausgebaut werden (bin gespannt, wie das bei den Grauen Wölfen jetzt sein wird).

Im Schulwesen wird nicht so viel angekündigt, außer dass es die Gymnasialreife nun auf Basis von Standard-Testungen in den Primarklassen 3 und 4 gibt (ist schon umgesetzt) und dass vermehrt es psychologische und soziale Betreuung an Schulen geben soll sowie Auszeiten für gewaltbereite oder gewalttätige Schülerinnen bzw. Schüler. Dass - so wie jetzt geschehen - die Leistungsgruppen an Mittelschulen abgeschafft und ein Zwei-Zug-System eingeführt werden soll, wäre mir beim Lesen nicht aufgefallen.

Im Hochschulwesen soll alles noch perfekter und internationalisierter werden, aber wesentliche Einsparungen werden unter dem Neologismus "Exzellenzcluster" versteckt. Heißt: Studienrichtungen werden an einzelnen Unis konzentriert und an anderen Unis abgeschafft. Was übrig bleibt, ist dann ein "Exzellenzcluster". Sicherlich der sprachlich gelungenste NLP-Spin.

Zum Download steht es hier zur Verfügung:
https://www.bundeskanzleramt.gv.at/bundeskanzleramt/die-bundesregierung/regierungsdokumente.html (Archiv-Version vom 20.06.2020)