Anforderungen

Sprachwissenschaften interessieren mich und so habe ich mal ein altes Papier aus 2005 ausgegraben, zu einer Zeit, als die Testitis so richtig losgegangen ist. Konrad Ehlich (damals Uni München) formuliert das Ziel von Sprachtestungen bei Kindern knackig: "Retardierungen frühzeitig erkennen", um allen "Mitgliedern der neuen Generation die für eine Demokratie unabdingbaren Handlungsmöglichkeiten zu verschaffen". Ein hehres Ziel, und so muss frühzeitig auf sehr vielen Ebenen getestet werden (ab Frühkindesalter):

- phonisch (korrekte Lautproduktion)
- pragmatisch (Erkennen von Handlungszielen, zuerst beim Kleinstkind, dann beim Schulkind)
- semantisch (werden Wörter, Phrasen, Sätze verstanden?)
- morphologisch-syntaktisch (Wort- und Satzgrammatik)
- diskursiv (Kommunikation in allen möglichen Schattierungen)
- literal (Lesen und Schreiben)

Um diese Testungen zu gewährleisten, ist ein kommerzieller "Testmarkt" (wird wirklich so genannt) entstanden. Diese Tests werden vorgestellt und zum Teil bewertet. Die Anzahl dieser Tests ist umwerfend.

Bei der Betrachtung der Sprachentwicklung muss dann auch noch berücksichtigt werden, dass richtig nicht gleich richtig ist. Es gäbe nämlich den Weg von Richtig - Falsch - Richtig:

U-Kurve

Auch Rechtschreibfehler ist nicht Rechtschreibfehler. "Tak" statt "Tag" zeige, dass die Auslautverhärtung erkannt wird, "Pad" statt "Bad" zeige, dass das Kind den Unterschied zwischen "p" und "b" nicht höre/verstehe.

Man müsse nur aufpassen, dass die falschen Formen nicht "fossilieren". Wie dies (vermutlich durch Lehrer bzw. bei Kleinkindern durch Eltern) das geschehen kann, wird nicht geschrieben, aber das Nichtbeschriebene wird benannt: "Förderung". Wozu führt das? Zu einer großen Zahl an kommerziellen Nachhilfeorganisationen, an die sich immer mehr Eltern und Schüler wenden. Formel: Testung zeigt Retardierung und Noten sind schlecht > Nachhilfe.

Für Schulen wird empfohlen, dass ein "Sprachberater" angestellt wird, der den individuellen Sprachstand eines jeden Schülers erhebt und ein individuelles Förderkonzept entwickelt, das Lehrer umzusetzen haben. Auch sollen Lehrer einer Schulklasse regelmäßig für jedes Kind "detaillierte Beschreibungen" über den Sprachstand verfassen. Wie das gehen soll, dass ein Lehrer fünfundzwanzig Schüler einer Klasse individuell unterrichtet und den Sprachstand niederschreibt, wird nicht gesagt. Wird ja alleine aus Zeitgründen nicht möglich sein.

Da Kinder, die zuhause eine andere Sprache als Deutsch sprechen, öfter auch Mängel in ihrer "Muttersprache" aufweisen, soll auch diese gefördert werden (gibt es in Österreich seit 2000 als frewillige Option als Nachmittagsunterricht in vielen Sprachen). Am besten sollte dies jedoch inklusiv im Klassenverband durchgeführt werden, wobei auch hier das Wie wieder nicht genannt wird. Wie denn auch? Soll jeder Lehrer zwanzig Sprachen lernen oder sollen zwanzig "Muttersprachenlehrer" in einer Klasse "rumstehen"?

Insgesamt sind 39 Sprachtestverfahren gelistet, wobei ein Test sogar für Einjährige konzipiert ist. In den letzten fünfzehn Jahren, vermute ich, sind noch weitere dazugekommen. Die Testitis nahm ja gerade ihren Anfang.

Interessant, mal die Zeit zurückzudrehen und sowas zu lesen, das ich vor Ewigkeiten mal runtergeladen hatte. Der Band ist immer noch als PDF in der Deutschen Nationalbibliothek online, sogar mit einem modernisierten Cover