Kratochwil-scherbengericht

Dies ist des in Lateinamerika lebenden Österreichers Germán Kratochwil erster Roman. Der zweite, Rio puro war eine Wucht, sein Erstling ist überfrachtet mit Menschen, deren Leben in Scherben ist (senil, irr oder sonstwie deformiert).

Der Roman spielt in dem kleinen argentinischen, patagonischen Ort Quemquemtréu. Auf einem Gutshof wird am 1. Januar 2000 der 90. Geburtstag von Clementine gefeiert, es sind ihr Sohn und deren Enkel, befreundete Familien und Nachbarn zu Gast. Sie alle stammen aus Österreich und mussten fliehen. Am Gutshof treffen sie aufeinander: aus dem Nazireich Geflohene (Politische und Juden) sowie auf der Rattenlinie geflohene Nazis (nächster Bezug zum Titel, im athenischen Sinn). Dies ist ein ziemliches Gemenge für eine achtköpfige Gesellschaft.

Jedes Kapitel stellt eine andere Figur ins Zentrum, so gelingt es trotzdem etwas, in die Tiefen der Charaktere einzudringen - manchmal besser, manchmal nicht ganz so gelungen. Die Symbolik ist überfrachtet: Jahrtausendwende, düstere Vorausschauen (am Ende erhängt sich der Gastgeber, als er von seiner Frau wegen seiner kaputten Hüften einen Rollstuhl erhält, und deren sadistischer Sohn entwickelt nach einer Mäuse-Vivisektion Symptome des Hanta-Virus).

Beinhe erscheint es, als ob Kratochwil in dem 2012 erschienenen Roman seine düstere Weltsicht in den Mund eines benachbarten Sektenführers (auch ein Wahnsinniger, der zur Selbstverstümmelung und sexuellen Ausschweifungen neigt) legt:
Für dieses nun gemeinsam mit dem dritten Jahrtausend anbrechende Jahrhundert sehe er mit absoluter Gewissheit das Ende der Zivilisation voraus: Klimakatastrophen, wirtschaftlichen Kollaps, Verelendung, Massenmigration, Mauern und Stacheldraht zwischen Erster und Dritter Welt, heimtückische Pandemien, Amokläufe und Explosionen sozialer Gewalt, mörderischer Terrorismus ...
Eines zeigt der damals 74-jährige Kratochwil mit diesem Erstling: er ist ein faszinierender Erzähler. In seinem zweiten Roman río puro verringert er die Zahl der Hauptfiguren und veröffentlicht mit ihm ein furioses Meisterwerk (mein Blogeintrag dazu).

Verlagsinfo, Rezension in der FAZ, Dieter Wunderlich schreibt eine ausführliche Inhaltsangabe (Chapeau!).