Goethe-Mitschuldige

Dieser Dreiakter, den Goethe 1768/69 als Neunzehnjähriger geschrieben hat, enthält ein ziemlich modernes Themenpaket: Dreiecksbeziehung, Spielsucht, Egoismus, Denunziantentum, Diebstahl, Schnüffelei. Und das in einem Kammerspiel mit vier Personen in einem Gasthaus:

- Wirt: Will sein Gasthaus zu einem Hotel ausbauen, spioniert seinen Gästen nach
- Sophie: Seine Tochter, verheiratet mit Söller, verliebt in ihren Ex Alceste
- Söller: Mann von Sophie, spielsüchtig, Alkoholiker, faul, gescheiterte Beamtenkarriere
- Alceste: Reicher Lebemann, Ex von Sophie, immer noch verliebt in sie, will sie mit Geld locken

Zentrum ist der zweite Akt:

- Söller stiehlt aus dem Zimmer von Alceste Geld, versteckt sich, weil jemand kommt
- Der Wirt sucht im Zimmer einen Brief, den er lesen will, lässt Kerze fallen, weil er Schritte hört
- Sophie trifft sich im Zimmer mit Alceste, Söller hört und sieht vom Alkoven aus alles

Am nächsten Morgen beschuldigen Sophie und ihr Vater sich gegenseitig des Diebstahls und äußern dies auch gegenüber Alceste. Ihre nächtlichen Touren werden offenkund. Als Söller von einem Fastnachtsball zurückkommt, treibt Alceste, der ihn verdächtigt, mit Gewaltandrohung in die Enge, Söller gesteht den Diebstahl, weil er Spielschulden zurückzuzahlen hatte, reitet jedoch auch einen Gegenangriff in einer Zangenbewegung:
Ja, ja, ich bin wohl schlecht;
Allein, ihr großen Herrn, ihr habt wohl immer recht?
Ihr wollt mit unserm Gut nur nach Belieben schalten;
Ihr haltet kein Gesetz, und andre sollen's halten?
Das ist sehr einerlei, Gelüst nach Fleisch, nach Gold!
Seid erst nicht hängenswert, wenn ihr uns hängen wollt.

[...]

Ich stahl dem Herrn sein Geld, und er mir meine Frau.
Alle vier haben nicht nach geltenden Wertvorstellungen gehandelt, so auch das Ende: Sie alle gehen auseinander, Alceste vergisst den Diebstahl und lässt sich nur das Restgeld auszahlen (in der ersten Fassung gar nichts). Bei ihm weiß man ja auch nicht, ob er wirklich in Sophie verliebt ist. Söller verspricht, seinen Lebenswandel zu ändern, er weiß ja, dass zwischen Sophie und Alcest bei ihrem Rendezvous nichts vorgefallen ist, er nicht gehörnt ist.

Dennoch gibt Goethe - wie in späteren Werken auch - einer Frau (Sophie) Worte in den Mund, welche die Stellung der Frau in der damaligen Gesellschaft wie auch das Verhalten der jungen Männer in heftigen Worten kritisieren:
Und ach! ein Mädchen ist wahrhaftig übel dran!
Ist man ein bißchen hübsch, so steht man jedem an;
Da summt uns unser Kopf den ganzen Tag von Lobe!
Und welches Mädchen hält wohl diese Feuerprobe?
Ihr könnt so ehrlich tun, man glaubt euch wohl aufs Wort,
Ihr Männer! Auf einmal führt euch der Henker fort.
Wenn's was zu naschen gibt, so sind wir all beim Schmause,
Doch macht ein Mädchen Ernst, da ist kein Mensch zu Hause.
So ist's mit unsern Herrn in dieser schlimmen Zeit;
Es gehen zwanzig drauf, bis daß ein halber freit.
Ich sah mich manchesmal betrogen und verlassen:
Wer vierundzwanzig zählt, hat nichts mehr zu verpassen.
Der Söller kam mir vor, und ich, ich nahm ihn an;
Es ist ein schlechter Mensch, allein er ist ein Mann.
Da sitz ich nun und bin nicht besser als begraben.
Mit Alceste hat er einen Charakter entwickelt, der nicht eindeutig ist. Ist er ein schwärmerischer Werther? Ist er ein alternder Reicher, der sich seine frühere Liebe kaufen will?

Eine Verfilmung aus dem Jahr 1961 beantwortet diese Frage vermutlich unbewusst. Gertrud Kückelmann (Sophie) ist 32, Peter Schütte (Alceste) ist 50. Monolog von Sophie und Gespräch mit Alceste im Spoiler

Youtube: Die Mitschuldigen Gertrud Kückelmann 1961
Die Mitschuldigen Gertrud Kückelmann 1961
Externer Inhalt
Durch das Abspielen werden Daten an Youtube übermittelt und ggf. Cookies gesetzt.




Und dass Goethe mit diesem Stück Jahrzehnte nach Entstehung die bürgerliche Gesellschaft noch immer gespiegelt sieht, belegt ein Brief aus dem Jahr 1824 (Goethe war 75):
Die Wirkung der Mitschuldigen ist ganz die rechte. Ein sogenanntes gebildetes Publicum will sich selbst auf dem Theater sehen und fordert ungefähr eben soviel vom Drama als von der Societät.
Dreiakter online im Projekt Gutenberg, die einaktige Erstfassung online auf Zeno.