Störungen in Zwerggalaxien des Fornax-Haufens deuten auf alternative Gravitationstheorie hin

Laut Standardmodell der Kosmologie ist jede Galaxie von einer Art Heiligenschein aus Dunkler Materie umgeben. Dieser Halo ist unsichtbar, übt jedoch aufgrund seiner Masse eine starke Anziehungskraft auf Galaxien in der Umgebung aus. Eine neue Studie unter Leitung der Universität Bonn und der University of Saint Andrews (Schottland) stellt diese Sicht des Universums in Frage. Die Ergebnisse sprechen dafür, dass die Zwerggalaxien des zweitnächsten Galaxienhaufens der Erde – des sogenannten Fornax-Haufens – frei von solchen Halos aus Dunkler Materie sind. Die Studie ist in der Fachzeitschrift Monthly Notices of the Royal Astronomical Society erschienen.

Zwerggalaxien sind kleine, schwache Galaxien, die normalerweise in Galaxienhaufen oder in der Nähe größerer Galaxien zu finden sind. Aus diesem Grund können sie von den Gravitationswirkungen ihrer größeren Begleiter beeinflusst werden. „Wir stellen eine innovative Methode zur Überprüfung des Standardmodells vor, die darauf beruht zu untersuchen, wie stark Zwerggalaxien durch die Schwerkraft von nahegelegenen größeren Galaxien gestört werden“, sagt Elena Asencio, Doktorandin an der Universität Bonn und Erstautorin der Studie. Solche Gezeiten entstehen, wenn die Schwerkraft eines Körpers auf verschiedene Teile eines anderen Körpers wirkt. Sie sind vergleichbar mit den Gezeiten auf der Erde – bestimmt durch den Mond, der wie ein Magnet an der ihm zugewandten Seite der Erde zieht.

Der Fornax-Haufen hat viele Zwerggalaxien. Jüngste Beobachtungen zeigen, dass einige dieser Zwerggalaxien verzerrt erscheinen, als wären sie durch die Umgebung des Haufens gestört worden. „Solche Störungen in den Fornax-Zwergen erwartet man nach dem Standardmodell nicht“, sagt Prof. Dr. Pavel Kroupa von der Universität Bonn und der Karls-Universität in Prag. „Das liegt daran, dass nach diesem Modell die Halos aus Dunkler Materie die Zwerge größtenteils vor den Gezeiten des Haufens schützen.“

Das Team analysierte das erwartete Ausmaß der Störung der Fornax-Zwerge, das von ihren inneren Eigenschaften und ihrer Entfernung zum gravitativen Zentrum des Haufens abhängt: Galaxien mit großer Größe, aber geringer stellarer Masse und Galaxien in der Nähe des Haufenzentrums werden leichter gestört oder zerstört. Die Ergebnisse verglichen sie mit dem Störungsgrad, beobachtet aus Bildern des VLT Survey Teleskops der Europäischen Südsternwarte.

Das Ergebnis des Vergleichs: „Um die Beobachtungen mit dem Standardmodell zu erklären, müssten die Fornax-Zwerge bereits durch die Gravitation des Haufenzentrums zerstört werden, selbst wenn die Gezeiten, die auf einen Zwerg wirken, vierundsechzigmal schwächer sind als die Eigengravitation des Zwergs“, sagt Elena Asencio. Das sei nicht nur der Intuition widersprechend, sondern widerspreche auch früheren Studien, die zeigten, dass die externe Kraft, die nötig ist, um eine Zwerggalaxie zu stören, ungefähr so groß ist wie die Eigengravitation des Zwergs.

Widerspruch zum Standardmodell

Daraus schlossen die Autorinnen und Autoren, dass es im Standardmodell nicht möglich ist, die beobachteten Erscheinungsformen der Fornax-Zwerge auf eine in sich widerspruchsfreie Weise zu erklären. Das Team wiederholte die Analyse mithilfe der Milgromschen Dynamik (MOND). Nach dieser Theorie gehorcht die Anziehung zwischen zwei Massen nur bis zu einem bestimmten Punkt den Newton'schen Gesetzen. Bei sehr kleinen Beschleunigungen, wie sie in Galaxien vorherrschen, wird sie dagegen erheblich stärker. Daher reißen Galaxien durch ihre Drehgeschwindigkeit auch nicht auseinander.

„Wir waren uns nicht sicher, ob die Zwerggalaxien in der Lage sein würden, die extreme Umgebung eines Galaxienhaufens in MOND zu überleben, da es in diesem Modell keine schützenden Halos aus Dunkler Materie gibt“, sagt Dr. Indranil Banik von der University of St. Andrews. „Aber unsere Ergebnisse zeigen eine bemerkenswerte Übereinstimmung zwischen den Beobachtungen und den MOND-Erwartungen für das Ausmaß der Störung der Fornax-Zwerge.“

„Es ist aufregend zu sehen, dass die Daten, die wir mit dem Survey Teleskop erhalten haben, einen so gründlichen Test kosmologischer Modelle ermöglichen", betonen die Koautoren Aku Venhola von der Universität Oulu (Finnland) und Steffen Mieske von der Europäischen Südsternwarte.

Es sei nicht das erste Mal, dass eine Studie, die die Auswirkungen der Dunklen Materie auf die Dynamik und Entwicklung von Galaxien untersucht, zu dem Schluss komme, dass die Beobachtungen besser dadurch erklärt werden können, dass die Galaxien nicht von Dunkler Materie umgeben sind. „Die Anzahl der Veröffentlichungen, die Unvereinbarkeiten zwischen Beobachtungen und dem Paradigma der Dunklen Materie aufzeigen, nimmt jedes Jahr zu“, sagt Pavel Kroupa, Mitglied der Transdisziplinären Forschungsbereiche „Modelling“ und „Matter“ der Universität Bonn. „Es ist an der Zeit, deutlich mehr Ressourcen in andere Theorien zu investieren."

Dr. Hongsheng Zhao von der University of St. Andrews fügt hinzu: „Unsere Ergebnisse haben große Auswirkungen auf die Grundlagenphysik. Wir erwarten, dass wir mehr gestörte Zwerggalaxien in anderen Haufen finden, eine Vorhersage, die von anderen Teams überprüft werden sollte".

https://www.uni-bonn.de/de/neues/176-2022