Doerrie-Wald

Ich schwanke bei diesem kurzen Büchlein von Dörrie aus dem Jahr 2017 hin und her. Einerseits realistisch, andererseits eine Art Hänsel-und-Gretel-Geschichte, wobei nicht eine alte Frau, sondern ein Wurm böse ist.

Die Geschichte erzählt von der 12-jährigen Pula aus einem nicht bezeichneten Land, die von ihrer Mutter weggeschickt wird, weil in ihrer Heimat Krieg tobt, der Vater wurde verschleppt, Häuser werden zerbombt, Mädchen vergewaltigt. Pula soll in einem fremden Land glücklich werden.

Sie schließt sich einem Flüchtlingstreck in Richtung nördlicheres Europa an, nur kurz wird erwähnt, dass ihr auch Geld mitgegeben wird. Beim Transit übers Meer fällt sie ins Wasser und wundert sich, warum sie bei den im allgemeinen sehr rüden und egoistischen Mitflüchtlingen überhaupt gerettet wird. Der Landweg ist mühsam, sie gehen Autobahnen entlang und sind den Unbillen des Wetters ausgesetzt. Hitze, Kälte, Sonne, Regen, Hagel. Hygienisch ist dieser Weg eine Katastrophe, die Notunterkünfte alle verdreckt. Pula sehnt sich zurück zu ihrer Mutter, ihr fehlt sogar der Befehlston, mit dem sie angesprochen wurde, und auch die Schule. Einzige Verbindung ist ein Bild auf dem Handy, das sie sich nur für Sekunden anschaut, da aufgrund nicht kompatibler Ladegeräte sie den Akku sparen will.

Soweit der erste Teil. Es folgt das skurrile Märchen.

Pula läuft vom Flüchtlingstreck weg in Richtung eines Waldes, um ihre Notdurft zu verrichten, und ein Junge namens Pelge, dem sie ein wenig näher gekommen ist, folgt ihr, und sie bilden ein Zweier-Team. Beide haben Hunger, Pelge wird sogar ohnmächtig, und Pula besorgt aus der Mülltonne neben einem einsamen Haus Essensreste. Beim zweiten Versuch, Essen aus der Tonne zu holen, nimmt sie eine ältere Frau ins verwahrloste Haus, sperrt ab und Pula weiß nicht, ob sie bei einer Irren gelandet ist. Es gelingt ihr die Flucht, aber Pelge will, dass sie bei ihr bleibt, damit sie versorgt werden.

Pula fühlt sich nicht wohl bei der Frau, die Unmengen in sich hineinschlingt und deren Bauch ständig laut rumort. Als nach einem langen Toilettengang Pula ins Bad geht, starrt sie ein blauer Wurm aus der Klomuschel an, der innerhalb kürzester Zeit immer größer wird, alles auffrisst, was ihm in den Weg kommt, schließlich so groß ist, dass er den Ausgang aus dem Haus blockiert. Pula und Eva, wie die Frau heißt, fliehen aus einem Fenster, gemeinsam mit Pelge laufen sie zum Wald, doch der mittlerweile hausgroße Wurm findet sie und legt sich auf Pula, die sich wiederum gerade noch retten kann. Sie entsinnt sich einer Fähigkeit: Sie kann Leute hypnotisieren. Also starrt sie den Wurm nieder, bis er ohmächtig als riesige blaue Fläche auf dem Waldboden liegt. Eva lädt die beiden in ihr Haus mit, sie räumen auf, und mit dem alten Laptop Evas spricht Pula via Skype mit ihrer Mutter. Alles sei in Ordnung.

Der zweite Teil ist durchaus professionell geschrieben und spannend. Wie in alten Kinderbüchern kann man mitfiebern (Mädchen gegen Riesenwurm). Auch ist nicht ganz klar, ob sich nicht alles im Kopf des Mädchens abspielt, ob sie halluziniert. Pula erinnert sich, dass sie schon als kleines Kind eingenartige Geschichten erzählt hat, welche für sie real gewesen sind. Ihre Mutter hat sie immer darauf hingewiesen, nicht zu lügen.

Doch gibt es keinen Ansatz, der diese Lesart unterstützt. Am Ende sind die beiden Flüchtlingskinder in einem verwüsteten einsamen Haus in einem fremden Wald, wo ein blauer Riesenwurm liegt.