Pilz-Kurz

Peter Pilz war als promovierter Sozialwissenschafter zunächst österreichischer Politiker und ab 1986 bis 2017 Parlamentsabgeordneter bzw. Abgeordneter im Wiener Landtag für die Grünen, aus denen er 2017 austrat. Seine 2017 gebildete Liste schaffte den Einzug in den Nationalrat, bei den Wahlen 2019 nicht mehr. Seither ist er journalistisch tätig. Bekannt war Pilz vor allem wegen seiner Aktivitäten in parlamentarischen Ausschüssen und er präsentiert sich als Vertreter der Idee, dass eine Regierung durch ein starkes Parlament und eine unabhängige Justiz kontrolliert sein muss.

Dieses Buch ist im Juli 2021 erschienen, also drei Monate vor dem Rücktritt des damaligen österreichischen Kanzlers Sebastian Kurz. Kernpunkt des Buches sind ausführliche und durch Quellen belegte dringende Verdachtsmomente gegen die Kurz-Familie (Selbstbezeichnung des inneren Zirkels) auf Bestechung und Bestechlichkeit sowie Ämterschacher.

Wie Spenden an die ÖVP über Vereine (genau wie Strache es in seinem Ibiza-Video dargelegt hat - ein Teil, der nicht an die große Glocke gehängt wurde) verschleiert wurden, beschrieb der Parlamentspräsident Wolfgang Sobotka in einer Aussage im parlamentarischen Unterausschuss zur Ibiza-Affäre am 9. September 2020 mit folgenden Worten:
„Konkret schalteten Unternehmen wie Novomatic Inserate in der Zeitschrift des Instituts. Dieses wiederum schaltete Inserate im Magazin Arbeiten für Niederösterreich des Arbeitnehmerbunds, das vom nö. Pressverein herausgegeben wird."
Novomatic ist ein Glücksspielunternehmen, in das die ÖVP ihre eigenen Leute in Top-Funktionen eingeschleust hat, und das "Institut" ist das Alois-Mock-Institut. Das Geld lief also über zwei Ecken und als Inserate verschleiert an die ÖVP, womit Novomatic immer sagen konnte, es wäre nie Geld an die ÖVP gespendet worden, also habe es auch keine Gegenleistungen geben können, was den Tatbestand der Bestechung ergeben hätte. Dass das österreichische Justizministerium bei italienischen Justizbehörden interveniert hat, ein Korruptionsverfahren gegen Novomatik in Italien einzustellen, wäre keine Gegeleistung gewesen, da es nie eine Leistung gegeben hätte.

Gegen diese Machenschaften begann die auf Druck der EU in Österreich installierte Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) zu ermitteln. Immer wieder hat die von der ÖVP dominierte "organisierte Justiz", wie Pilz sie nennt, mit Justizministerium, Oberstaatsanwaltschaft und Wiener Staatsanwaltschaft versucht, die WKStA-Ermittlungen abzudrehen. Als Akten an die Öffentlichkeit gespielt wurden, wurde sogar eine Hausdurchsuchung gegen die WKStA angeordnet und durchgeführt, wobei sich schließlich herausgestellt hat, dass die Akten aus ÖVP-Kreisen stammen mussten.

Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Buches begann das Konstrukt zu bröckeln. Der maßgebliche Sektionschef im Justizministerium sowie die Leiter der Oberstaatsanwaltschaft wie der Wiener Staatsanwaltschaft wurden selbst zu Beschuldigten und traten zurück, im Oktober - mittlerweile ohne staatsanwaltlichen Schutz - wurde Kurz selbst offiziell von der WKStA als Beschuldigter wegen Bestechung und Bestechlichkeit geführt. Sprich: Gegen Kurz wurden strafrechtliche Ermittlungen eingeleitet. Er trat zurück.

Was für ein Thriller zu Lockdownzeiten!

Pilz bettet die Vorgehensweise von Kurz in politikwissenschaftliche Begrifflichkeiten. So ist ein Regime eine Regierung in einem Staat, in dem die Kontrolle der Regierung durch Parlament, Justiz und Medien nicht mehr funktioniert, da diese Kontrollorgane durch Kostgänger der Regierungspartei dominiert sind. Parlamentarische Untersuchungen werden behindert und verschleppt, die Justiz wird durch Weisungen lahmgelegt, die wesentlichen Medien werden von Parteigängern oder Günstlingen aufgekauft, im öffentlich-rechtlichen Rundfunk wird in den maßgeblichen Gremien eine Mehrheit aufgebaut. Eigene Leute werden in entscheidende Positionen gehievt. Die Regierung selbst wird durch einen inneren Zirkel dominiert, der "Familie", wie der ehemalige Finanzminister Blümel schrieb.

Dies ist ein System, wie es Viktor Orbán in Ungarn durchgezogen hat. Auch der FiDeSz besteht aus einem inneren Zirkel um Orbán herum. Und das seit 1989. So war es auch unerheblich, als 1994 sich viele Parteimitglieder von der FiDeSz abwendeten, als Orban und seine "Familie" von einem liberalen, durch eine Ausbildung in der Soros-Stiftung geprägten Politik der frühen Jahre zu einem nationalpopulistischem Kurs umschwenkte. Der innere Kreis zog mit. Fünfzehn Jahre später, während der zweiten Amtszeit, konnte Orbán sogar das Wahlsystem so umkrempeln, dass die stärker nationalkonservativen ländlichen Regionen im Parlament überrepräsentiert sind. Gemeinsam mit dem Mix von Verhältnis- und Mehrheitswahlrecht ist es für die eher liberalen und linken Städte in Ungarn schwer, nun Mehrheiten zu finden.

Kurz stand am Anfang, aber er ist gescheitert. Mit der WKStA ist die unabhängige Justiz Österreichs bei der Korruptionsbekämpfung gestärkt worden. Eine Hausdurchsuchung in einem Ministerium (Finanzministerium) ist durchaus beachtlich. Kein Wunder, dass Orbán Anregungen aus "Brüssel" scheut. Sowas will er wohl nicht.

Interessant ist auch, was Pilz über den Unterschied zwischen einem System des Lobbyismus und des Oligarchismus schreibt. Klassischer Lobbyismus sei, dass eine Firma etwas Bestimmtes wünscht und zur Erreichung dieses Ziels besticht. In einem Oligarchensystem würden jedoch keine Einzelentscheidungen gekauft, sondern das System sowie systemrelevante Elemente wie Medien oder gar Parteien. Pilz schreibt:
Das Geschäftsmodell ist einfach: Oligarchen spenden, organisieren Spender und kaufen Medien, die den Kanzler unterstützen. Der Kanzler und die Seinen zahlen alles mehrfach zurück: durch Steuerreformen, Subventionen, öffentliche Aufträge und Schutz, wenn vom Finanzamt bis zum Staatsanwalt Ungemach droht.
Der ehemalige Ministeriumsbeamte und ab 2019 Chef der Österreichische Beteiligungs AG (ÖBAG), welche die Staatsanteile an Unternehmen wie Post, Bahn, Casino AG besitzt, sowie Mitglied der "Familie" Thomas Schmid brachte es ziemlich knackig auf den Punkt, wie bei der öffentlichen Verhandlung im parlamentarischen Untersuchungsausschuss ans Licht kam (die WKStA konnte auf Schmids konfisziertem iPhone trotz Löschung und Rücksetzung auf den Fabrikszustand sämtliche Chatverläufe auf Signal wiederherstellen - die haben Top-Forensiker!). Das österreichische Magazin Weekend zitierte am 21. Oktober 2021 einen Chatverlauf von Schmid, als bei einem Steuerstreit des Investors Siegfrid Wolf mit dem Finanzamt Baden (Niederösterreich) durch Intervention geholfen werden sollte:
Schmid: „Vergiss nicht – du hackelst im ÖVP Kabinett!! Du bist die Hure für dich rechen!“
Mitarbeiter: „Danke, dass wir das so offen besprechen können!“.
Die Neue ÖVP unter der Führung von Kurz mit Familie sah sich als "Hure für die Reichen".

Und diese Reichen sind Einzelpersonen: der hier genannte Manager Siegfried Wolf (ÖIAG, Strabag, Russian Machines, Sberbank), mutmaßlich der bereits 2012 rechtskräftig wegen Bestechung vorbestrafte Milliardär und Immobilien- wie Medieninvestor René Benko sowie der Milliardär und Besitzer des Glückspielkonzerns Novomatic Johann Graf sowie unter Verdacht auch der Immobilieninvestor Michael Tojner (für dessen Hochhaus am Heumarkt in Wien sogar ein Teil der Grünen in Kauf genommen hätten, dass Wien von der Liste des UNO-Weltkulturerbes gestrichen wird).

Kurz ist der Plan also nicht gelungen, der Rechtsstaat war stärker, die Verfahren laufen. Aber - wie Pilz befürchtet: durch Kurz könnte der Rechtspopulismus in Zentraleuropa wieder ein Stück mehr salonfähig gemacht worden sein. Um das Trio Meloni, Salvini, Berlusconi ist es ziemlich still und in Frankreich lauert seit Generationen nunmehr der Le Pen-Clan.