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Im Sommer 2014 verfasste der in der an Donezk angrenzenden Stadt Makijiwka lebende ukrainische Schriftsteller Oleksij Tschupa einen Episodenroman über die in seinem Wohnblock aus der Stalinzeit lebenden Mitbewohner mit über sie erfundenen (oder nicht?) Geschichten. Die kurzen Erzählungen gliedern sich nach den Türnummern. Vom Erdgeschoß bis zur dritten Dachetage. Alle Episoden spielen an einem heißen Julisamstag 2014.

  • Vira Labuha wohnt im Erdgeschoß, ist eine gealterte Metal-Music-Anhängerin und Säuferin. Sie feiert permanent Partys und belästigt Mitbewohner. Sie hat immer noch Schutz aus der kommunistischen Zeit. Als ein Bankangestellter Schulden eintreiben soll, wird er von einem mitfeiernden Kumpel angeschossen.
  • Die Aserbaidschaner Machmed und Raschid träumen von einem Putsch der vielen in der Ukraine lebenden Aserbaidschaner.
  • Der 1611 geborene Gerhard Frei saugt die Seelen von Kindern aus und ist daher unsterblich.
  • Die seit 15 Jahren alleinstehende taube 90-jährige Klawa sehnt ihren Tod herbei.
  • Die 20-jährige Studentin Olena wohnt bei ihrer Großmutter und lockt unter Vorspiegelung sexueller Dienste für ihre Bande per Internet Raubopfer in die Stadt.
  • Der ca. 40-jährige Firman stürzt eine Lenin-Staute und errichtet eine des ukrainischen Dichters Wolodymyr Sosjura.
  • Der 20-jährige Lyriker Saschko wird bei einer Party von Freunden einer Scheinhinrichtung unterzogen.
  • Die Angst des siebenjährigen Vlad vor einer Scheidung seiner Eltern wegen eines Streits wird beschrieben.
  • Die sexuellen Fantasien einer verheirateten Blumenverkäuferin beim Briefschreiben an ihren Geliebten werden in einem Monolog vorgeführt.
  • Dem ehemalige "Satanisten" Ruba, der bei seiner Großmutter lebt, bringen zwei ehemalige Kumpels von einem Apothekenüberfall das Geld zum Aufbewahren vorbei.


Den Titel bekam das Buch nach seiner Fertigstellung. Im August 2014 kam Makijiwka unter Artilleriebeschuss und die Bewohner zogen sich in den Luftschutzkeller zurück. Nur die "Blumenhändlerin" wusste via Facebook von seinem Buchprojekt über die Bewohner dieses Blocks. Tschupa flüchtete schließlich nach Letytschiw in der Zentralukraine, Makijiwka geriet unter die Kontrolle der Luhansker Aufständischen. In der Ukraine wurde der Text 2015 veröffentlicht, auf Deutsch erschien er 2019.

Neben dem demographischen Mix der Bewohnerinnen und Bewohner, die einem sehr plastisch und fantasievoll vor Augen geführt werden, greift Tschupa immer wieder Bezüge zur Sowjetunion auf, mit dem Seelenvampir Frei auch einen, der als deutscher Kriegsgefangener in Makijiwka geblieben ist, und die engen wie ärmlichen Lebensverhältnisse wirken bedrückend, wobei auf diese auf sehr unterschiedliche Art reagiert wird. Ein Panoptikum der Abgründe der menschlichen Seele wird einem vorgeführt.

Ein zweites wiederkehrendes Motiv ist die ukrainische Identität, die einem anhand historischer Rückblicke sowie der ukrainischen Literatur entgegentritt. So lässt er eine pensionierte Lehrerin für ukrainische Geschichte und Literatur dies sagen:
Wenn ein Mensch irgendwann in seinem Leben beschließt, sich der Literatur zuzuwenden, und wenn es sich dabei auch noch um eine so leidgeprüfte wie die ukrainische handelt, bleibt das nicht ohne Folgen für sein weiteres Leben. Wenn man sich ständig mit diesen endlosen, tragischen Heldengeschichten und diesem ewigen sozioökonomischen Sadomaso befasst, sind psychische Schäden kaum zu vermeiden. Einmal eingetaucht in den Ozean ukrainischer Bücher, erreicht man das andere Ufer nur schwerlich als gesunder und glücklicher Mensch. Gesundheit, Glück und Zufriedenheit sucht man in der ukrainischen Literatur vergebens. Dafür finden sich monumentale Werke über das komplizierte Verhältnis zur Wirklichkeit und den Kampf um hohe und unerreichbare Ideale, der sich irgendwann in den Kampf um des Kampfes willen verkehrt.
Das Buch ist umso interessanter, da es praktisch in den letzten Tagen einer friedlichen ukrainischen Stadt geschrieben ist und ein Zeugnis ihrer Bewohner abgibt. Zehn Tage nach Beendigung des Textes wird alles anders.