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Dieser Debut-Roman der US-amerikanischen Schriftstellerin Lauren Wolk erhielt 2018 den Deutschen Jugendliteraturpreis. Er spielt 1943 in einem bäuerlich geprägten Dorf im Westen Pennsylvanias.

Annabelle ist elf Jahre alt und lebt mit ihren jungen Eltern und ihren beiden Brüdern auf einer Farm. Ihr Leben ändert sich, als mit Betty eine rabiate 13-Jährige an ihre Schule kommt, da sie als "schwer Erziehbare" aus der Stadt auf den Hof ihrer Großeltern hat müssen. Sofort beginnt sie, Annabelle auf ihrem Schulweg abzufangen, Geschenke zu erpressen, sie zu schlagen, ihren Brüdern zu drohen.

Die zweite Figur ist der gut 40-jährige Toby, ein Veteran des Ersten Weltkriegs, der mit schweren Verwundungen und Traumata alleine durch die USA irrt und in einer kleinen Waldhütte sesshaft geworden ist. Die Familie Annabelles hat immer wieder Kontakt zu ihm und versorgt ihn mit Lebensmitteln. Auch nutzt er den Fotoapparat, den die Familie samt lebenslanger Filmversorgung gewonnen hat, um Naturfotos zu schießen.

Die Wege Bettys und Tobys kreuzen sich schicksalshaft, als am Schulhof einem Mädchen mit einem Stein von einem Hügel aus ein Auge ausgeschossen wird und ein Bruder Annabelles in ein geschärftes, über den Schulweg gespanntes Drahtseil läuft. Betty und ihr Freund Andy beschuldigen Toby des Steinwurfes und der Draht wird in Tobys Hütte gefunden.

Als Betty eines Tages abgängig ist, wird Toby, da er nicht in seiner Hütte ist, verdächtigt, sie als Geisel genommen zu haben oder Schlimmeres. Annabelle glaubt nicht daran, sucht ihn heimlich nächtens in der Hütte auf (er war am Tag angeln), versteckt ihn im Heuschober der Farm ihrer Eltern, schneidet ihm die Haare und er rasiert sich, sodass ihn niemand mehr erkennen soll. So beteiligt er sich an der Suche nach Betty und holt sie incognito, als sie gefunden war, aus einem alten Brunnenschacht, in dem sie schwer verletzt nach zwei Tagen gefunden wird. Im Krankenhaus beschuldigt Betty Toby, dass er sie hinuntergeworfen habe, da sie von seinem Steinwurf gewusst hätte. Toby flieht in Richtung Ohio.

Die Story wendet sich nach dem Tod Bettys, die an ihren entzündeten Wunden verstorben ist. Annabelle weiß, dass Betty und Andy niemanden auf dem Hügel haben sehen können. Ihre Geschichte war, sie hätten ihn vom Schulglockenturm aus beobachtet, doch dieser Turm ist seit längerer Zeit verschlossen. So nutzt Annabelle die tratschende Telefonvermittlerin aus, um Andy am Telefon mit einer brühwarmen Lüge zur Wahrheit zu verhelfen. Auf Annabelles Mitteilung, dass sie ein Foto von Toby hätten, auf dem Betty zu sehen sei, wie sie den Stein in Richtung Schule geworfen hätte, gibt Andy zu, dass Betty die Steinwerferin war und sie beide den Draht über den Weg gespannt hätten, bevor die beiden Jungs kamen. Mit dem Stein hätte aber nicht die Schülerin getroffen werden sollen, sondern ein deutschstämmiger Siedler, der mit seinem Wagen vor der Schule gehalten hat, um zu plaudern (ihr Beitrag zur Abwehr gegen Deutsche, mit denen sie ja im Krieg wären).

Das Geständnis kam zu spät, Toby wurde auf der Flucht in Ohio von der Polizei erschossen, weil er - mit zwei (nicht funktionierenden) Gewehren bewaffnet - den Anweisungen nicht gefolgt habe. Die Eltern von Annabelle lassen ihn im Wald beerdigen.

Eine nette Geschichte, vor allem die bäuerliche Lebenswelt, die noch vor 80 Jahren hauptsächlich auf Selbstversorgung beruhte, ist interessant. Jedoch anders als die Jurybegründung sehe ich nicht unbedingt "Zivilcourage, Mut und Gerechtigkeit", sondern ziemlich viel Naivität. Annabelle vertraut ihrem Gefühl, dass Toby nichts mit den Vorfällen zu tun hat, und die Lüge mit dem Foto führt im Roman zwar zu dem Ziel, dass Andy gesteht, aber dies ist doch sehr konstruiert. Letztlich wird vermittelt, dass blindes Menschenvertrauen und lügnerische Provokationen zum richtigen Ziel führen. Don't do it in real life!

Auch Annabelles Gedanken gegenüber Betty sind ambivalent. Einerseits wünscht sie ihr schlimmst Qualen an den Hals (nachvollziehbar), andererseits hält sie Betty dann doch nicht für Böse, sondern offensichtlich nur für sehr beschränkt: "Ich glaube, sie macht einfach irgendwelche Dinge, die ihr gerade in den Kopf kommen." Doch diese Entschuldigung hilft nicht: Die Autorin lässt die Aggressorin einen qualvollen Tod erleiden.