Perthes-Aufstand

Dies ist das zweite zeitgenössische Buch über den "Arabischen Frühling". Der Politikwissenschafter Volker Perthes lehrte 2011 an der Berliner Humboldt-Universität und ist Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik, die unter anderem die deutsche Bundesregierung wie den Bundestag berät.

Der Informationsstand des Buches ist Sommer 2011 und besteht im Wesentlichen aus vier Teilen:

  1. Sozialer, politischer und wirtschaftlicher Hintergrund der Aufstände
  2. Aktueller Ablauf der Aufstände
  3. Prognosen
  4. Empfehlungen für die Europäische Union


Für alle betroffenen Staaten gelte, dass sie mehr oder weniger autoritär von einer eng umgrenzten Elite beherrscht werden, die ihre Klientel durch Patronage fördert, und politische Partizipation der Bevölkerung kaum gegeben ist. 2011 waren diese Länder von der Weltwirtschaftskrise betroffen, Arbeitslosigkeit war gestiegen, viele Gastarbeiter*innen, die zuvor Geld an ihre Familien schickten, kamen zurück und waren nun selbst auf soziale Zuwendungen angewiesen. Hinzu kommt, dass eine junge Generation der unter 30-Jährigen auf einen Arbeitsmarkt drängte, der nicht aureichend Stellen im Angebot hatte (ca. 70 Prozent der Bevölkerung der arabischen Staaten waren 2011 unter 35, mehr als 30 Prozent zwischen 20 und 35). In allen arabischen Staaten stieg die Jugendarbeitslosigkeit.

Besonders betroffen waren junge Menschen mit einer höheren Bildung, da in den 20 Jahren zuvor in sehr vielen arabischen Staaten das Bildungswesen ausgebaut und für die breite Bevölkerung geöffnet wurde. Viele der Absolvent*innen standen nun vor dem beruflichen Nichts, da es keine Arbeitsplätze gab, und besonders diese gebildete junge Schicht war die Trägerin der Proteste, die sich gegen die herrschende Elite und deren Festhalten an der Macht sowie gegen Korruption wendete. Freiheit, Würde, Partizipation sind drei Schlagworte, mit denen alle Aufstände betitelt werden können.

Die Reaktion der Herrschenden war unterschiedlich. Manche Staaten reagierten mit Reformen (neue Verfassungen), viele mit wirtschaftlichen Maßnahmen (Preiskontrolle, Schaffung von staatlichen Arbeitsstellen, Wohnbauprogramme), in einigen kam es zu einem Herrschaftswechsel (Ägypten, Tunesien). In fast allen Staaten wurde mit Gewalt und Repression auf die Proteste reagiert, in nicht wenigen wurde gegen die Demonstrierenden scharf geschossen.

Viel zu optimistisch ist Perthes bezüglich einer Demokratisierung sowie eines Lernprozesses, mit einer pluralen Gesellschaft umzugehen, in der durch Verfassungen festgelegte Regeln, friedliche Machtwechsel durch Wahlen, parlamentarisch kontrolllierter Regierungen etabliert werden sowie ein breites Spektrum (rechts - mitte - links) sich einem politischen Wettbewerb stellt. Seitens des politischen Islams erwartet er eine Entradikalisierung.

Dennoch sind Perthes' Ausführungen mit vielen Konjunktiven versehen und letztlich sieht er weiterhin eine große Macht des Militärs in Ägypten (es wird ja nicht zu einer Demokratisierung kommen), in Syrien und dem Libanon einen möglichen Bürgerkrieg, im Jemen einen Failed State. Ein gewaltsamer Islamismus wie der des IS wird gar nicht ins Auge gefasst.

Für die Europäische Union wünscht er sich, dass die vier Grundfreiheiten auf die Mittelmeeranrainerstaaten Nordafrikas ausgeweitet werden, um eine schrittweise Integration zu fördern. Handelsschranken sollen aufgehoben werden, der jungen Generation Ausbildung und Berufspraktika angeboten werden, damit sie schließlich am Aufbau ihrer jeweiligen Länder aktiv teilhaben kann.

Interessant ist, wie schwammig letztlich Prognosen von Top-Leuten bleiben, die mit vielen unterschiedlichen Konjunktivprognosen fast wie Jahrmarkthellseher handeln: Eine der vielen Prognosen werde schon eintreffen. Und dann trifft die dreizehnte ein, die nicht gesehen wurde.