Jussen-Orest

Bernhard Jussen ist Professor für mittelalterliche Geschichte an der Universität Frankfurt/Main und möchte mit diesem unlängst erschienen Buch den Begriff "Mittealter" kübeln. Dies ist durchaus ehrenwert, da dieser Begriff sowieso nach der Epoche entstanden ist und zwei Entscheidungen impliziert: Erstens sei ein Römisches Reich untergegangen (Jussen weist dies zurück, in Byzanz habe es weiter existiert und im Westen habe sich ein Lateineuropa entwickelt) und zweitens sei mit Humanismus, Renaissance und Aufklärung (Jussen reibt sich vor allem an Letzterem) etwas Neues entstanden. Vielmehr sieht Jussen mit - wie er in seinem umfangreichen Literaturverzeichnis belegt - anderen modernen Mediävisten ein Kontinuum, das er so benennt:

  • Ländliche Gesellschaft Lateineuropas (7. bis 11. Jahrhundert)
  • Urbanisierung (11. und 12. Jahrhundert)
  • Urbanisierte Gesellschaften (ab dem 13. Jahrhundert)
  • Entstehende staatliche Systeme (ab dem 16. Jahrhundert)


Wobei sich die Frage stellt: Ist nicht in "Lateineuropa" eine urbanisierte Gesellschaft "untergegangen", wenn derselbe Raum ab dem 7. Jahrhundert als "ländlich" charakterisiert wird? Gegen den Begriff "Untergang" wehrt sich Jussen jedoch mit Händen und Füßen. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion sowie der Satellitenstaaten habe ich auch in der Mediävistik der Begriff "Transformation" durchgesetzt. Veränderungen seien nicht von außen (Germanen, Völkerwanderung) initiiert worden, sondern von innen erfolgt. Womit er nicht unrecht hat, vor allem dass Lateineuropa vom Wechsel des Herrschaftszentrums Kapitol (römische Kaiser) zum Lateran (römische Bischöfe AKA Päpste) geprägt war. Auch dass Germanenfürsten groß wurden, als sie bereits integriert waren (Arminius bzw. Chlodwig) ist durchaus korrekt, aber der Begriff "Migrationshintergund" ist dann doch etwas an den Haaren herbeigezogen. Auch stellt sich die Frage, ob es ausschließlich eine Transformation war, die auf "Haltungs- und Verhaltensänderungen in der Mitte der römischen Gesellschaft" zurückzuführen gewesen seien und nicht auf weitere Grundlagen, die zu den gesellschaftlichen Änderungen führten.

Jussen ist spezialisiert auf Familien- und Verwandtschaftsgeschichte. Im detailreichen Hauptteil will er als Geschichtsanthropologe und Geschichtsethnologe anhand neuer "Geschichtsbilder" nachweisen, dass es eine Transformation und keinen Untergang gegeben hat und dass Epocheneinteilungen obsolet, also veraltet seien und dass diese Transformation auf die "Zivilgesellschaft" zurückzuführen sei. Es sei eine "pluralistische, liberale, multikulturelle Zivilgesellschaft, die das Stichwort «Einwanderungsgesellschaft» anerkannt und eine entsprechende Diskussionskultur entwickelt hat". Bei dieser Interpretation muss ich Jussen jedoch seine berechtigte Kritik, dass vergangene Geschichtsbetrachtungen des Mittelalters auf nationalistischesm Denken beruht haben, an ihn zurückweisen: Hier wird gegenwärtiges wokes Denken dem poströmischen Lateineuropa aufgesetzt. Bedenklich ist es, dass die neuen "Geschichtsbilder", die Jussen präsentiert, das Denken der allerreichsten ein Prozent der Gesellschaft widerspiegeln. Es war ein Prozent, das vermutlich mehr als 50 Prozent des gesellschaftlichen Reichtums innehatte (im Vergleich zu den heutigen "westlichen Zivilgesellschaften").

Was wird also im Hauptteil (umfangreich, mit vielen Belegen, sich aber auch oft wiederholend) vorgestellt? Da ist das Jahr 530 in Rom. Der vorletzte römische Konsul Orest verschenkt eine Bildertafel auf Elfenbein mit der klassischen männlichen Ahnenreihe. Gleichzeitig lässt eine Turtula in den renovierten Katakomben als reiche Mäzenin sich ein Grabdenkmal errichten, auf dem sie als eine Frau gefeiert wird, die nach dem Tod ihres Ehemanns als Witwe unverheiratet treu geblieben ist (das Grabdenkmal ist größer als das der von ihr gesponsorten Heiligengräber). In Rom war es Gesetz, dass Witwen wieder heiraten mussten, ergo: Zeugnis einer Gesellschaftstransformation. Dass Jussen Turtula dauernd als "Turteltaube" anspricht, ist etwas befremdend, auch wenn die Übersetzung korrekt ist und die Turteltaube im Mittelalter ein Symbol für eheliche Treue war. Die Ahnenreihe der Römer wurde von der Kernfamilie abgelöst.

Den Versuch einer Neugestaltung verwandtschaftlicher Bindungen (Clans) erkennt Jussen im Plan des Klosters Sankt Gallen. Reiche Familien während der ländliche geprägten Zeit entsenden Kinder in Klöster, um über diese "auratischen" Orte sich definieren und Netzwerke aufbauen zu können. Wie dies funktioniert haben soll, erschließt sich trotz detailreicher Quellenbeschreibungen eigentlich nicht. Dafür wird jedoch postuliert, dass Babenberger, Karolinger, Salier, Staufer, Habsburger vor 1500 sich nicht als Familie im Sinne eines Stammbaumes gesehen hätten. Dieses Denken sei erst mit den Städten relevant geworden und als Beispiel bringt Jussen die Annenaltäre von Frankfurt (Anneanaltar bzw. Heller-Altar von Dürer). Die apokryphe Großmutter von Jesus (Anna, Mutter von Maria) wird als dreifache Mutter dargestellt (3x verheiratet, 3x eine Tochter namens Maria geboren). Die Gesellschaft der strikt über den Tod hinaus treuen monogamen Frauen wird durchbrochen, die Großfamilie sowie die Wiederverehelichung wird akzeptabel. Woraufhin Jussen sein Buch mit einem Werk von Holbein aus dem England von Heinrich VIII. enden lässt, der die Macht des Papstes über die Kirche in England gebrochen hat, weil dieser seine Neuheirat nicht genehmigt hat.

Zusammenfassend: Die Einzelbeobachtungen zu Kunstwerken sind nicht uninteressant, aber die abstrahierenden Schlussfolgerungen Jussens erscheinen mir zu aufgesetzt. Wie lassen sich Gesellschaften allein anhand von Bildrepräsentationen der obersten privilegierten Schichten bewerten? Daraus dann zu meinen, dies repräsentiere eine "Zivilgesellschaft" ist eher skurril. Und die Anbiederung an "postkoloniales" sowie "postsowjetisches" Modedenken wirkt einfach nur aufgepfropft. Schade. Jussen hätte das Zeugs, Familienstrukturen zu analysieren. Der französische Soziologe Emmanuel Todd ist ein Beispiel dafür, welch sensationelle Ergebnisse diese Forschung erbringen kann - siehe auch meinen Blogeintrag Emmanuel Todd - Traurige Moderne