ich-sitze-nur-GRAUSAM-da

Als dieses Buch 2012 erschien, war die österreichische Dichterin Friederike Mayröcker 87 Jahre alt. Schubladisiert wird ihre poetische Prosa als Autofiktion, als Poetisierung ihres Lebens. Mayröckers Text hat keine Struktur, er ist eine Aneinanderreihung von Gedanken, Erinnerungen, Gegenwartsbeobachtungen, Träumen in einer Sprache, die sich nicht an grammatische Strukturen hält, sondern geschrieben ist, wie gedacht wird. Geschrieben wird auch im Bett und da kann es vorkommen, dass der Stift über das Blatt hinaus auf die Bettdecke gleitet. Es ist eine handschriftliche Literatur, keine getippte. Und im Manuskript finden sich dann auch mal Zeichnungen, eine dieser ist im Buch abgebildet.

manuskript

Diesen Schreibstil hat bereits der im Buch Ely genannte Lebensgefährte, es war der 2000 verstorbene Ernst Jandl, benannt:
Dein neuer Stil, sagt Ely, dieser SCHEIN einer repetitiven Narration ist erregend.
Mayröcker selbst benennt ihren Schreibstil so:
meine die Ordnungen meiner Sprache sich verflüchtigen : wieder auftauchen : sich wieder verflüchtigen liesz, also dasz ich ihrer nicht mächtig war, zuguterletzt, vielmehr mich von ihr hinzittern lassen muszte ohne eingreifen zu können ... schreibe mit der Seele, ich reibe mich auf, sage ich zu Ely, leuchte die finstersten Winkel der Welt aus, mit meiner Seele, meine Seele ist 1 kl.Taschenlampe, meine Seele ist 1 kl.Tier ... mein Schreiben ist mein Hochamt, sage ich, es wird mich auslöschen aber ich kann nicht davon lassen
So schreibt sie über weit Zurückliegendes, als ob es gegenwärtig wäre, ihre Gedanken kreisen um Menschen, Literatur (Genet, Hölderlin, Novalis, Kleist, Derrida werden genannt), Arztbesuche, Befindlichkeiten, Reisen (sie liebt Italien) und viel über Blumen und Bäume. An die Betrachtung eines dürren kleinen Apfelbaums, der nur wenige Äpfel hervorbringt, die man nicht zu pflücken wagt, schließt eine berührende Analogie bezüglich Menschen an:
seine schwarzen Äste verrenkt, knorrig, ohne Lebenskraft wie kränkelnde Knospen die in ihrer Jungfräulichkeit gealtert waren, sie waren verkümmert, hatten sich nicht entfalten können, auch gibt es solche MENSCHENKNOSPEN die sich nie haben entfalten können
Es wird detailliert mit allen Emfpindungen über Ereignisse geschrieben, von denen nicht mehr gewusst wird, ob sie sich wirklich ereignet haben oder geträumt wurden. Eine Vermischung von Realität und Traum, die dem fortschreitenden Lebensalter geschuldet zu sein scheint.
ich wuszte aber nicht, ob es sich tatsächlich zugetragen hatte oder ob ich geträumt hatte oder ob der Vater es mir immerzu erzählt hatte
Und unvermittelt kann die aktuelle Gegenwart in einen Satz eindringen, der eine Traumsequenz beschreibt:
diese schwindlige Sprache sobald ich diese Hagebutten auf dem Marmorwaschtischchen im Badezimmer entdeckt hatte, mein Ghetto handy mein i-phone
Bedrohlich für die Wienerin ist die Donau und zweimal verknüpft Mayröcker diesen Fluss mit dem Freitod der Schriftstellerin Brigitte Schwaiger. Diese hat sich 2010 in der Donau ertränkt.
DIE DONAU ist so 1 reiszender Flusz wer da hineingeht kommt nicht mehr lebend heraus, sage ich, wird nur herausgefischt mit vollgepinselten Lungen, dort wo der steinerne Löwe, ich meine, zuletzt ist Brigitte Schwaiger hineingegangen und nicht mehr herausgekommen.
Der Titelsatz ist mehrfach im Text geschrieben, am ausführlichsten im folgenden Zitat:
ich sitze nur GRAUSAM da, ich könnte den ganzen Morgen hier sitzen und schreiben, des Stundenzählens satt
Es ist ein schmales Büchlein, aber ein faszinierendes, obwohl Selbstreflexion nicht mein Lieblingsgenre ist. Aber hier ist nicht reflektiert und geklittet, sondern es liegt ein wortgewaltiger und poetischer Gedankenfluss vor, der tief in die Gedankenwelt Mayröckers blicken lässt.