Ziegler-Nichts Weisses

In diesem 2012 erschienenen Roman führt der ehemalige TAZ-Journalist Ulf Erdmann Ziegler uns in die 1980er Jahre. Protagonistin ist die aus der Pomona-Siedlung in Neuss stammende Marleen, die nach der Schule in Neuwied in einer Druckerei arbeitet, in Kassel Grafik studiert, aber nicht beendet, und nach Paris in einen Typographiebetrieb geht, um Buchstaben zu entwicklen. Ihr Ziel ist, einen perfekten Buchstaben-Set zu formen. Schließlich zieht sie mit ihrem Sohn (der Vater ist Egomane und verlässt mehrfach Marleen) in die USA und landet in einer Schwulen-WG in Manhattan, von wo ihr Weg nicht weiter beschrieben ist (Anspielung an Kafkas Amerika-Roman?).

Gespiegelt wird die technologische Satzentwicklung vom Bleisatz über den Fotosatz und den beginnenden Computerentwicklungen der frühen 1990er Jahre. Marleen hat in den USA noch Kontakt zu dem Großkonzern IOM, der eine in sich geschlossen Computermaschine auf den Markt bringen will (der Bezug zu IBM ist offensichtlich), doch sieht sie in den Kaliforniern (wohl Silicon Valley) die Zukunft, die auf offene Systeme setzen.

Mit Marleen führt uns Erdmann Ziegler zurück in die brüchige Einfamilienhaus-Idylle einer kleinbürgerlichen Familie der 1960er, aus der 1971 der in der Werbebranche tätige erfolgreiche Vater mit 41 Jahren nach Poona flieht und von dort zurück, um in Hamburg eine international tätige Werbefirma zu gründen, die mit einer Kampagne für o.b. erfolgreich ist. Marleen, die nichts mehr sehnt, als aus Neuss abzuhauen, studiert in Kassel Grafik, und mit den vielen Seitenhieben auf die Hochschulszene ist es logisch, dass sie ihr Studium abbricht und sich ins Berufsleben als legasthenische (!) Buchstabenentwicklerin stürzt. Sie ist akribisch und hochbegabt, sodass sie in ihren 20er Jahren als bereits gefragte Person in die USA wagen kann, wo sich ihr weiterer Weg verliert.

Den Umbruch in den frühen 90er Jahren zeigt Erdmann Ziegler nicht nur an der Revolutionierung des Buchstabensatzes, sondern auch am Tod von Hans, eines Mitglieds der Schwulen-WG in Manhattan. Er stirbt. Sehr offensichtlich an AIDS. Auch die Zeit der offenen und freien Sexualbeziehungen geht ihrem Ende entgegen.

Der Roman ist sehr retro, aber wer die Zeit miterlebt hat, kann so manch Bekanntes entdecken. Und die süffisant distanzierte Schreibweise macht ihn sehr zugänglich.